Ahrenshoop, Dezember 1943
Einführung
Der Artikel Ahrenshoop, Dezember 1943 zeigt die von Stefan Isensee im Rahmen seines Werkes „Ahrenshoop vor und im Krieg“ zusammengestellten Tagebuchauszüge vom Dezember 1943. Textauslassungen wurden mit [...] gekennzeichnet, eingefügte Erläuterungen von Stefan Isensee in eckigen Klammern kursiv [Erläuterung].
Tagebuchauszüge
[...] [1] Ich höre, daß wieder einmal die Finanzkommission im Orte sein soll. Da wir bei der letzten Kontrolle übergangen worden sind, obgleich wir eigentlich fällig waren, wird sie wohl diesmal zu uns kommen u. unsere Bücher durchschnüffeln. Die Einkommensteuer ist seit 1939 nicht mehr neu veranlagt worden, sodaß jeder das Einkommen versteuern muß, was er vor Kriegsausbruch gehabt hat. Bei den kleinen Leuten ist das Einkommen natürlich zurückgegangen u. sie müssen also viel zu viel zahlen, dagegen sind die Einkommen der zahlreichen Kriegsgewinnler sehr gestiegen. Die zahlen also alle zu wenig. Das ist dann Sozialismus! [...]
[2][2] Heute früh hörte ich noch im Schlafe eine Detonation. Da die Batterie gestern Schießen hatte, glaubte ich, daß der Knall daher käme, wunderte mich nur, daß nur ein einziger Schuß abgegeben wurde. Später stellte sich heraus, daß der Schlepper, welcher die Schießscheibe schleppt, auf eine Mine gelaufen war. Von den 25 Mann der Besatzung sollen nur neun Mann gerettet worden sein. [...]
[3][...] [3] Heute Nachm. war Dr. Krappmann mit Frau bei uns. Er suchte Weihnachtsgeschenke für die Batterie. Wir gaben ihm unsere sämtlichen kleinen Inselbücher u. was wir sonst noch entbehren konnten, insgesamt 85 Bücher, dazu Aschbecher, die uns Bachmann zur Verfügung gestellt hatte, scheußliche Dinger aus Weißblech, – aber er wird sie wohl nehmen, weil er sonst nichts bekommt. Dabei bekommen die Soldaten täglich nur noch 3 Cigaretten. Es ist der reine Hohn, ihnen dazu noch Aschbecher zu schenken.
Seit Montag haben wir das Geschäft täglich von 10 – 12 Uhr auf. Es ist sehr kalt. Die Leute kaufen, was man ihnen gibt, nur um irgend etwas zu haben zum Verschenken. [...]
[4][4] Gestern verteilten wir in der Bu Stu. die Weihnachtsgeschenke für die Kinder, welche die Mütter in Empfang nehmen mußten. Wir haben etwa 175 Kinder betreut, normaler Weise haben wir immer nur etwa 20 Kinder im Ort. Die Frauen gebildeter Stände, besonders die von auswärts, waren entzückt u. dankbar, daß sie trotz der Warenknappheit etwas bekamen, aber es gab auch andere, besonders unter den Einheimischen, welche nur zu schimpfen hatten u. höchst unzufrieden waren. Heute war die Verteilung an die Erwachsenen, – auch da dasselbe Bild. Morgen gehen noch die Reste an diejenigen, die ihre Sachen noch nicht abgeholt haben. Wir haben in diesen Tagen sehr große Massen an Ware ausgegeben u. haben wirklich stark geräumt. Auch die Batterie haben wir versorgt u. haben zu diesem Zweck unsere privaten Bücherbestände geplündert, so haben wir sämtliche Inselbändchen u. ähnliche kleine Ausgaben abgegeben.
Wahrscheinlich ist es unklug, – aber man kann es nicht beurteilen. Es hört eben nach u. nach alles auf, u. einmal muß man doch alles hergeben. Schlimmer wird es nun mit den Lebensmitteln werden. Die Kartoffelernte ist miserabel gewesen u. die Rationen für die menschliche Ernährung sind herabgesetzt worden auf 2 – 2 1/2 kg. pro Woche. Das mag jetzt noch gehen, aber wenn zum Frühjahr auch von diesen Rationen noch ein Teil weggeworfen werden muß, weil er verdorben ist, dann geht eine große Hungerei los, denn die Folge davon ist, daß viele Schweine geschlachtet werden müssen, weil kein Futter für sie da ist. Der Ausfall muß dann durch Rinder ersetzt werden, u. wenn diese geschlachtet werden, gibt es keine Butter mehr. Es wird also keine Kartoffeln, kein Fett u. keine Butter mehr geben. – Im Oktober vorigen Jahres hielt Göring seine berühmte Rede, die den Zweck hatte, die sinkende Stimmung zu heben. Damals wurde die Fleischration heraufgesetzt u. Göring erklärte, es würde von nun an immer besser werden. Es ist aber immer schlimmer geworden u. wird sehr schlimm werden, denn nun gibt es keine Ukraine mehr, aus der man uns Sonnenblumenöl u. wer weiß was noch alles versprochen hatte. – Es wird in diesem Frühjahr sehr, sehr ernst werden. – Inzwischen gehen die Bombardierungen unserer Städte unentwegt weiter. Gegenwärtig sind einige der Männer der Frauen hier, die hier den Krieg abwarten wollen. Sie sehen nicht sehr fröhlich aus, besonders, wenn sie aus Berlin kommen. Auch Herr Monheim ist hier.
[4][4] Gott sei Dank, daß der hl. Abend nun vorüber ist. Der Betrieb in der Bu Stu war in der letzten Zeit unbeschreiblich. Es ergab sich, daß die ausgebombten Großstädter dankbar waren für die viele Mühe, die Martha sich gegeben hatte, jedem etwas zukommen zu lassen, während die Einheimischen, besonders diejenigen, welche in guten Verhältnissen leben, anspruchsvoll waren u. nicht genug hatten, größtenteils sich nicht einmal bedankten.
Am späten Nachmittag war endlich die letzte Kundin bedient. Trude machte uns eine Tasse Bohnenkaffee. Den Baum hatte ich gleich nach dem Mittagessen geschmückt. Wir saßen noch beim Kaffeetisch, als Gretl Neumann kam u. uns in einem Korb zwei Schüsseln brachte, deren eine zwei ordentliche Stücke Puter enthielt, die andere Sauerkraut. Trude hatte Kartoffelsalat gemacht, den wir eigentlich [5] als einziges Gericht essen wollten. Gretl N. brachte auch noch eine Flasche Weißwein aus ihrem Korb hervor. Auf diese Art hatten wir ein prächtiges Abendessen u. es ging uns nicht so wie im vorigen Jahre, wo wir am hl. Abend buchstäblich nichts zu essen hatten. [...]
[5] Von Rewoldt-Niehagen bekamen wir ein Huhn u. wir beschlossen, dasselbe an den Nachbar Papenhagen weiter zu schenken, denn wir wußten, daß es dort an Essen fehlt. Wir haben damit denn auch große Freude ausgelöst.
Ich hatte im Keller noch eine Flasche Burgunder liegen, die ich Nachmittags schon warm gestellt hatte. Am Abend haben wir sie getrunken, die letzte ihrer Art. Dann fiel uns ein, daß Frau Monheim doch Andeutungen gemacht hatte, daß sie uns etwas schenken wollte, – aber es war nirgends etwas zu sehen. Schließlich fiel mir ein, daß sie ja am Vormittag im Laden war u. mir gesagt hatte, daß sie für uns etwas in der Diele unter der Madonna abgestellt hätte. Ich ging hin u. fand dort auf der Bank einen großen verdeckten, recht schweren Korb, den ich dann rauf brachte. Wir packten ihn aus u. es zeigte sich, daß er eine Fülle von Kostbarkeiten enthielt. Schokolade, Marzipan, Kakao, Kaffee usw., – wir staunten, was da alles darin war. [...]
[5] Heute Morgen frühstückten wir feiertäglich mit Bohnenkaffee u. einem Ei, Weißbrot, Butter u. Honig. [...]
[5][...] [5] Heute nimmt dieses schwere Jahr sein Ende u. ein viel schwereres u. grauenvolleres beginnt. Man darf wohl erwarten, daß das Jahr 1944 zu den grauenvollsten Jahren gehören wird, welche die abendländische Christenheit je erlebt hat. Möge Gottes Gnade uns helfen. – [...]
[6] Man spricht von nichts anderem mehr als von der nun zu erwartenden Invasion. England u. Amerika machen damit reichlich Propaganda, indem sie viel darüber sprechen u. schreiben u. jede Neuernennung von führenden Generalen herausposaunen. Sie erreichen damit, was sie wollen, eine steigende Nervosität. – [...]
[6] Herr Dr. Clemens erzählte von den Zuständen in Hamburg u. dem Schwarzhandel u. der Einmischung der Partei in die innere Verwaltung, wobei die zuständigen Ministerien in Berlin absichtlich übergangen u. ausgeschaltet werden, was bei der zunehmenden Desorganisation der Post u. des Verkehrs leicht möglich ist. [...]