Abschied vom Jahrhundert
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Abschied vom Jahrhundert.
Ein Dichterherz, erfüllt von edlem Schwunge,
Dess‘ Adlerflug man heute noch bewundert,
Begrüsste einst mit schönem Wort das junge,
Verheissungsvolle, nahende Jahrhundert.
Auf hoher Stirn der Künste reinen Kuss,
Für Schiller’s Blick an des Jahrhunderts Neige ―
Melodisch rauschte seiner Verse Fluss.
Hat das Jahrhundert dem, was dem Gemüthe
Und ist zu reicher, duftumflossner Blüthe
Die streng geschlossne Knospe aufgebrochen?
In seinem Grabe schlummert längst der Dichter,
Versiegelt ist sein liederreicher Mund ―
Mit hohem Sinne wohl das Urtheil kund?
Er würde kaum den Stab dem Worte brechen,
Das sich den Weg in seine Stille bahnte.
Wir sind die Wissenden, wir dürfen sprechen;
Wie er des Weltenbildes sich bemächtigt
Im Werdedrang und im Zusammenbruch,
So sind auch wir zum Urtheil nun berechtigt,
Und also lautet heute unser Spruch:
Als es versprach, mit offnen Jünglingsmienen;
Bezwungen hat es die Naturgewalten
Und sie gezwungen, sklavisch uns zu dienen.
Es brachte Antwort auf so manche Frage,
Geheimstes trat, Verborgenstes zu Tage
Und mancher dichte Schleier riss und sank.
Des Wissens Schranken, die Gebirge glichen,
Sind eingeschrumpft zu niedern Maulwurfshügeln;
Und nichts vermag den Eifer mehr zu zügeln,
Der rastlos strebt zum Kerne aller Dinge
Auf der entdeckten leichten schwachen Spur,
Und der sich sicher fühlt, dass er erringe
Kein Saïsbild vermag uns mehr zu schrecken,
Von ahnungsvollem Tempelgraun umgeben,
Und was die Forscher heute froh entdecken,
Gewinnt Bedeutung morgen schon für’s Leben.
In ihrem glorreich-raschen Siegesgang;
Stolz darf die Menschheit sich der Kronen rühmen,
Die sie in dieser Spanne Zeit errang.
Doch all dem Licht gesellt sich tiefer Schatten,
Geht klagend um bei Nacht und schreckt die Satten,
Die Prahler auf, ob noch so fest sie schliefen.
Noch stöhnt der Arme unter alter Bürde,
Noch ward die Zwingburg nicht hinweggeräumt.
Von denen Schiller sehnsuchtsvoll geträumt?
Viel wurde wahr, was er nicht ahnen konnte,
Doch von dem Hoffen, drin bei Trug und Morden
Der Gegenwart sich seine Seele sonnte,
Sein lichter Sinn, er würde schwer sich trüben,
Denn alter Fluch wirkt unerschüttert fort;
Ach, man vergass Gerechtigkeit zu üben,
Und in der Wüste irrt das freie Wort.
Und jede Schwierigkeit hat er bezwungen,
Die Freiheit aber, die am nächsten läge,
Die Freiheit hat die Menschheit nicht errungen,
Und das Problem, das es bei seinem Kommen
Legt das Jahrhundert zweifelnd und beklommen
Bei seinem Scheiden in des nächsten Hand.
Wird ein Poet nach aberhundert Jahren,
Der Unterlassen abwägt und Vollbringen,
Wird er begeistert ein Triumphlied singen?
Kam ein Geschlecht, voll Einsicht und Erbarmen,
Das heiss erröthend und in tiefer Scham
Der Wundgescheuerten von Fuss und Armen
R. L.