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Artikel „Wiener, Heinrich“ von Albert Bolze in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 55 (1910), S. 70–72, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Wiener,_Heinrich&oldid=- (Version vom 24. November 2024, 20:53 Uhr UTC)
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Wiener: Heinrich W., Jurist.

Zur Entwicklung seiner reichen Anlagen hatte sein Bildungsgang beigetragen. 1834, am 12. October, zu Glogau geboren, wurde er als Assessor 1860 bei der Staatsanwaltschaft in Stettin eingestellt, 1862 dort, 1864 in Berlin Staatsanwaltsgehülfe, 1866 zweiter Staatsanwalt am Kammergericht. Er muß schon damals als heller Kopf erkannt sein; denn 1873 wurde er vom Bundesrath in die Commission zur Berathung des Entwurfs einer Strafproceßordnung berufen. Inzwischen war er 1867 Rechtsanwalt beim Stadtgericht Berlin und Notar geworden. Da hat er bald eine große Praxis gewonnen [71] und sich als Anwalt insonderheit in Handelssachen, auch als Rechtsconsulent großer Banken bewährt. Man war auf seinen Blick für große Verhältnisse aufmerksam geworden. So erbat der Verein für Socialpolitik sein Gutachten zur Reform des Actiengesellschaftswesens, 1873 publicirt neben den Gutachten von Goldschmidt und Behrend. 1884 hat er den Actiengesetzentwurf selbständig besprochen. Sonst hat er nichts von Bedeutung veröffentlicht. Sein Sinn war auf das Richteramt gerichtet; politisch ist er nicht hervorgetreten. Er war wohl überzeugtes Mitglied der nationalliberalen Partei; sein Temperament würde ihn auch nicht verlassen haben, um im Kampfe, wenn er ihm aufgedrungen wäre, seine Ansicht zu vertreten. Aber er hatte keine Passion, den Kampf in großen Volksversammlungen, im Gemeinderath, im Reichstag oder im Abgeordnetenhause aufzusuchen.

Am 1. October 1879 traten zur Constituirung des Deutschen Reichsgerichts die berufenen Mitglieder, Reichsanwälte und Rechtsanwälte, nahezu hundert hochangesehene Männer, in der Aula der Universität Leipzig zusammen. Da habe ich als Collegen meinen späteren Freund Dr. W. persönlich kennen gelernt. Seit fünf Jahren war er bereits Mitglied des nun aufgelösten höchsten Gerichtshofs des Reichs, des Oberhandelsgerichts gewesen, in das er, noch nicht ganz 40 Jahre alt, am 1. April 1874 eingetreten war. In diesem hatte er mit seinen aus den verschiedenen Rechtsgebieten des Reichs berufenen Collegen unter dem Präsidium des unvergeßlichen Pape eine besondere Aufgabe zu lösen. Man hatte nicht eine einheitliche Proceßordnung, wie sie das Reichsgericht vorfand. Die Schwierigkeiten, welche die in den territorialen Proceßordnungen verschieden gestalteten Rechtsmittel der gleichmäßigen Entscheidung derselben materiellen Rechtsfragen, die aus den einzelnen Ländern an das Reichsoberhandelsgericht gelangten, entgegensetzten, mußten überwunden, die Processe zu einem glatten Endurtheil geführt werden. Sodann aber mußten die unter der Herrschaft des Preußischen Allgemeinen Landrechts, des französischen und des gemeinen Rechts groß gewordenen einzelnen Mitglieder sich zu einem einheitlichen Geist, einer einheitlichen Methode in der Behandlung der gegebenen Institute des bürgerlichen Rechts, der Anpassung an die Lebensverhältnisse erziehen, um so zu gerechten, billigen und verständigen Urtheilen zu gelangen. Das ist dem Reichsoberhandelsgericht zum Ruhm seiner Mitglieder, auch Wiener’s, gelungen. Nun hatte man ein Muster. Vielleicht wäre dasselbe in den fünf Civilsenaten des Reichsgerichts von Anfang an erreicht worden, wenn man die aus dem Reichsoberhandelsgericht herübergetretenen 20 Mitglieder mit den hinzugekommenen neuen Richtern aus den Gebieten des gemeinen, des französischen und des preußischen Rechts gleichmäßig gemischt und aus der so gebildeten Gesammtheit die Mitglieder für die einzelnen Senate gewählt hätte. So hervorragende Geister wie W. wären einer solchen Aufgabe der Assimilation wohl gewachsen gewesen. So ist man aber nicht verfahren. Ein Stamm von sieben Mitgliedern des Oberhandelsgerichts, unter Senatspräsident Drechsler, wurde dem Ersten Civilsenat zugetheilt, unter ihnen W. Zwölf Jahre ist er dort wirksam gewesen, und hat an erster Stelle dazu beigetragen, daß die Jurisprudenz des Oberhandelsgerichts hier fortgesetzt wurde. Das ist die glücklichste Zeit seines Lebens gewesen; er wie die Andern sahen die Erfolge ihrer Wirksamkeit vor Augen. Den Bedürfnissen des Handels und Gewerbes wurde Rechnung getragen; aus den Urtheilen des Civilsenats bereicherte sich die Wissenschaft, namentlich auf dem Gebiet des Patentrechts, des Urheberrechts, des Genossenschaftsrechts, des Handelsgesellschaftsrechts, des Seerechts. Neue Mitglieder, welche in den Senat eintraten, entwickelten sich nach diesem Muster. Wie belehrend und bildend waren die [72] Berathungen und die auf ihnen beruhenden Entscheidungsgründe auch für die Rechtsanwälte! Bei einem so beweglichen, mit Scharfsinn und Phantasie gleichmäßig ausgestatteten, deductiv und inductiv denkenden Geiste wie W., der mit den Lebensverhältnissen wie mit dem Rechte tief vertraut war, Verhältnisse wie Menschen klug beurtheilte, leuchtete bei Vorführung eines Rechtsfalles nicht bloß ein einzelner Hauptpunkt hervor, den er mit seinem Urtheil traf. In seinen Gesichtskreis traten zwei, drei, vier verschiedene Gesichtspunkte, aus denen er verschiedene Consequenzen zog, die er dann gegeneinander abwog, mit anderen Fällen verglich und so das Resultat zog. Dabei sonderte sein scharfer Verstand, ohne daß er auf Haarspaltereien und Quisquilien verfiel. Sein Rechts- und Billigkeitsgefühl wehrte Rabulistereien und Chikanen ab. Abstracten philosophischen Grübeleien stand er ebenso fern wie antiquarischen Studien. Er war ein aufgeklärter Mann, der in der Gegenwart lebte und darauf gestellt war, das Rechte für den concreten Fall zu treffen. Das gelang ihm auch meistens. Dazu kam eine merkwürdige Beredsamkeit, weniger für eine große Versammlung als für einen engeren Kreis; er war discret und bemühte sich zu überzeugen oder zu überreden. Freilich gelang ihm dies nicht immer. Manchmal widerlegte er sich selbst; nachdem er scheinbar zum Abschluß gekommen war, verfolgte er eine andere Gedankenreihe, die ihn zu einem abweichenden Resultat führte. Im Freundeskreise konnte er stundenlang disputiren; dasselbe Problem verfolgte ihn tagelang.

So hatte man große Hoffnungen auf die Fortsetzung seiner Thätigkeit im Richteramt gesetzt, als er im J. 1891 zum Senatspräsidenten für den fünften Civilsenat berufen wurde. Da trat eine unglückliche Wendung ein. Auf seinen Wunsch ward er 1892 in zwölfter Stunde zur Börsenenquete berufen, die ihn nun abhielt, sein Richteramt dauernd auszuüben. Die lebhaften Streitigkeiten, welche sich hieran knüpften, und zu deren Beschwichtigung seine im J. 1893 veröffentlichte Broschüre über das Differenzgeschäft nichts beitrug, scheinen den Grund zu einer Neuralgie gelegt zu haben, deren weitere Entwicklung zunächst seine wiederholte Beurlaubung von seinem Amte, im Jahre 1896 seine Pensionirung, seinen Verzug nach Berlin und am 7. November 1897 den allzufrühen Tod dieses edlen Mannes herbeiführte. Es war eine weitverbreitete Ansicht, daß er das glückliche Leben, welches er in seiner Familie, in der Gesellschaft, im Kreise seiner Freunde, in der gleichmäßigen ruhigen Ausübung seines Amtes führte, wohl noch lange Zeit hätte fortsetzen könnnen, wenn er den ruhigen Weg ohne Unterbrechung weitergegangen wäre.