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Artikel „Vigel, Nikolaus“ von Johann August Ritter von Eisenhart in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 39 (1895), S. 693–695, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Vigel,_Nikolaus&oldid=- (Version vom 26. Dezember 2024, 22:00 Uhr UTC)
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Vigier, Wilhelm
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Vigel: Nikolaus V. (Vigelius), Rechtsgelehrter, geboren 1529 zu Treysa, dem Hauptorte der niederhessischen Grafschaft Ziegenhain, † am 10. (nach Andern am 20.) Juli 1600 in Marburg. V. erlernte die Anfangsgründe der Rechtswissenschaft als Autodidact; später, zwischen 1555 und 60, hörte er bei Balduin (Baudouin) in Heidelberg, wo er Licentiat wurde, wahrscheinlich auch bei dem berühmten Oldendorp in Marburg, der seit 1543 dort wirkte, und den er mit Vorliebe als seinen Lehrer und Vorgänger bezeichnete. 1555 erschien sein erstes Werk: „Exceptionum forensium libri tres.“ (Basil. [694] (2. Aufl. ib. 1557); im October 1560 begann er seine Lehrthätigkeit zu Marburg und am 27. April 1564 erwarb er unter dem damals 84jährigen Oldendorp den juristischen Doctorhut.

V. besaß umfassendes Wissen, eisernen Fleiß, glückliches Gedächtniß und ein klares Verständniß der damaligen Gebrechen der Rechtswissenschaft, die zu beseitigen er eifrig bedacht war. Andrerseits litt er, zu Pedanterie und Scheelsucht neigend, an maßloser Selbstüberschätzung und ließ nicht ab, seine Reformideen in zahlreichen Werken immer wieder anzubringen; und da er nicht jene allgemeine Beachtung fand, die er von seinen Fachgenossen beanspruchen zu können glaubte, wurde er immer erbitterter und in seiner Schreibweise verletzender. V. erblickte mit vollem Rechte die fehlerhaften Rechtszustände theils im irrigen Unterrichte, indem man nur rabulistische Advocaten, „oratores et disputatores“, aber keine Richter heranbilde, theils im processualen Verfahren, indem die Parteien über den eigentlichen Streitpunkt nicht klar gemacht würden. Diese Gedanken hat der Reformator seit 1561 in einer Reihe von Schriften oder Vorreden zu denselben wiederholt; mit gesteigerter Bitterkeit in seinem „Richter-Büchlein“ (Frankf. u. Basel 1579 u. 1581; zuerst 1563 unter dem Namen D. J. Pasquilli „Der Bauren Practica“ erschienen), in „De fide Ictorum, vom juristischen Glauben“ (Basel 1580, Quedlinb. 1715), auch in dem Gespräche „von der römischen Jurisprudenz“ (Basel 1578). V. begnügte sich jedoch nicht mit dem Tadel der geltenden Methode, er trachtete zugleich, eine bessere einzuführen, und veröffentlichte zu diesem Zwecke seine beiden Hauptwerke „Methodus universi juris civilis“ (Basel 1561, 1566, Lugd. 1568, Basel 1576 f., ebenda vermehrt 1586, Lugd. 1591 f., Basel 1606 f., Frankf. 1628 f.), dann in 7 Theilen: „Digestorum juris civilis libri quinquaginta“ (Basel 1568 bis 71). Er war in der That der erste, welcher in Deutschland ein vollständiges Rechtssystem aufstellte und durchführte, und besaß eine richtige Vorstellung von den wahren Zielen des juristischen Unterrichtes. Die acht Auflagen, welche vorerwähnter Methodus erlebte, geben Zeugniß dafür, daß er große Beachtung fand; trotzdem klagt der Verfasser über Mangel genügenden Einflusses; er hoffte, daß sein Werk als Leitfaden für den juristischen Unterricht officiell anerkannt werde, und ließ es daher an verschiedenen Anstrengungen nicht fehlen. Er berichtet auch in seinen Schriften, unter Abdruck von Briefen, in Frankreich, Italien, selbst Spanien mit seiner Methode große Anerkennung zu finden, aber in Deutschland habe er durch Herausgabe seiner Werke auf eigene Kosten sein Vermögen erschöpft und könne neue Veröffentlichungen nur mit Unterstützung Dritter vornehmen.

V. bewies als juristischer Schriftsteller eine große Vielseitigkeit, indem er sich über alle Disciplinen des Rechtes verbreitete. Ueber das öffentliche Recht verfaßte er ein eigenes Buch unter dem Titel: „Institutionum juris publici libri tres“ (Basel 1568, 72, 82), doch ist in demselben vom eigentlichen Staatsrecht sehr wenig enthalten; über den Proceß gab er mehrere Arbeiten heraus, die bemerkenswertheste ist das schon erwähnte, öfter aufgelegte „Richter-Büchlein“. Endlich schrieb er auch über Criminalrecht und Criminalproceß als Theile des öffentlichen Rechtes; außerdem verfaßte er: „Constitutiones Carolinae publicorum judiciorum“ (Basel 1583, 1590, 1596, 1603, 1613); eine litterarhistorisch interessante Arbeit, weil sie eines der ersten Systeme des deutschen Strafrechts enthält. Obwol unser Reformator – wie bereits erwähnt – unablässig bemüht war, seiner Methode Eingang zu verschaffen, gelangten doch seine Bestrebungen gerade in seinem engsten Wirkungskreise am wenigsten zur Geltung. In der Facultät genoß er von jeher geringes Ansehen; er selbst beklagt sich, daß man ihn nicht als Juristen gelten lassen wolle. Infolge seiner anzüglichen Schreibweise [695] eröffnete ihm die Facultät 1580, daß er ohne ihre Zustimmung nichts in Druck geben dürfe, eine Vorschrift, die er jedoch unbeachtet ließ.

1590 veröffentlichte Vigel’s früherer Schüler und späterer College Hermann Vulte (Vultejus), auf den er wegen dessen Einflusses bei Hof und bei der Facultät mit vielem Neide blickte, seine Jurisprudentia, in deren Einleitung er die verschiedenen rechtswissenschaftlichen Methoden besprach, ohne des V. auch nur mit einem Worte zu erwähnen. Hierüber war letzterer im höchsten Grade ergrimmt. Er ließ 1593 anonym und ohne Angabe des Druckortes eine kleine Schrift unter dem Titel „Examen Jctorum“ erscheinen, in der er nach Zusammenfassung der Kennzeichen eines wahren Juristen 23 seine Methode bewundernde Briefe publicirte; am Schlusse finden sich Ausfälle auf das Hofgericht, das geistliche Ministerium, namentlich aber auf Vulte, der zwar nicht genannt, aber trotzdem sehr leicht zu errathen ist. Auf dessen Beschwerde wurde von der landgräflichen Regierung zur Untersuchung der Sache eine Commission von drei Mitgliedern unter dem Vorsitze des Hofgerichtspräsidenten Joh. v. Dalwigk ernannt. Als Ergebniß dieser Untersuchung mußte V. am 7. April 1594 vor Rector und Professoren Abbitte leisten, wurde aus seinem Amte mit einem Jahresgehalte entlassen und ihm aufs neue eingeschärft, ohne Censur der Juristenfacultät nichts zum Druck zu befördern; die nun sehr selten gewordene Schrift ward vom Kasseler Hofe confiscirt. V. lebte noch einige Jahre als Privatgelehrter in Marburg und starb am 10. (nach Andern 20.) Juli 1600 an den Folgen des Podagra.

„Selbstüberschätzung“, sagt Schulte in seiner Quellengesch. (Bd. III, Th. 2, S. 27, N. 11), „aus dem Bewußtsein geschöpft, die Rechtswissenschaft umgestalten zu können, und als Folge hievon der Neid haben diesem Manne das Leben getrübt, dessen große Verdienste um die Wissenschaft unbestreitbar sind“.

Sein 1597 in Holz geschnittenes Porträt findet sich in den Decisiones jur. controv. (Frankf. 1598), und stellt ihn im 68. Lebensjahre dar. Bei Jugler (S. 82–97) und Strieder (S. 332–339) finden sich vollständige Schriftenverzeichnisse mit litterargeschichtlichen Bemerkungen.

Freheri theatrum etc., p. 952. – Jugler’s Beiträge etc. II, St. 2, S. 78 (Nr. V). – Strieder’s Hess. Gel.-Gesch. XVI, 322–340. – Stintzing, Gesch. d. d. RW. I, 425–440. – Schulte, Quellen-Gesch. III, 2, 27, N. 11.