Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Verner, Karl“ von Edward Schröder in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 55 (1910), S. 326–330, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Verner,_Karl&oldid=- (Version vom 22. Dezember 2024, 11:43 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
Band 55 (1910), S. 326–330 (Quelle).
[[| bei Wikisource]]
Karl Verner in der Wikipedia
Karl Verner in Wikidata
GND-Nummer 118804227
Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|55|326|330|Verner, Karl|Edward Schröder|ADB:Verner, Karl}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=118804227}}    

Verner *): Karl Adolf V., Sprachforscher, wurde am 7. März 1846 zu Århus in Jütland geboren als Sohn eines Handwerkers, der 1840 aus der Gegend von Chemnitz als Strumpfwirkergeselle eingewandert war, sich mit der Tochter eines dänischen Zollbeamten verheirathet hatte und es durch Fleiß, Intelligenz und Energie allmählich bis zum selbständigen Betrieb einer Tuchfabrik brachte. Karl, der zweite von sechs Söhnen, hat als einziger das W des väterlichen Namens mit dem V schon in den Knabenjahren vertauscht: als er bei seinem ersten litterarischen Hervortreten zu der deutschen Namensform zurückkehren wollte, ist dies durch ein Mißverständniß des Setzers vereitelt worden. Im übrigen hat er sich als Däne gefühlt, wenn er auch aus Ueberzeugung für ein Verständniß der beiden Nationalitäten gewirkt hat. [327] Wir halten unser Anrecht an ihn auch an dieser Stelle fest: nicht wegen der deutschen Abstammung des Vaters, auch kaum, weil er sechs Jahre an einer deutschen Universitätsbibliothek gewirkt hat, sondern weil sein großer wissenschaftlicher Erfolg auf deutschem Boden errungen und von der deutschen Gelehrtenwelt mit einer Einstimmigkeit anerkannt und gefeiert worden ist, die in der Geschichte der Wissenschaft fast ohne Beispiel dasteht.

V. kam schon mit vier Jahren in den öffentlichen Unterricht, durchlief die Bürgerschule und demnächst die Kathedralschule, das Gymnasium seiner Vaterstadt, das er als primus omnium verließ, um in Kopenhagen classische Philologie zu studiren. Aber der damalige Betrieb des Faches, wie ihn Madvig gestaltet hatte und beherrschte, schloß die Sprachwissenschaft so gut wie ganz aus und verpönte geradezu die Beschäftigung mit den lebendigen Sprachen und Dialekten; so wendete V., den eben diese Dinge schon auf der Schule lebhaft interessirt hatten, dem Brotstudium bald den Rücken und trieb Sanskrit bei Westergaard, slavische Sprachen bei C. W. Smith, nordische Philologie und vergleichende Sprachwissenschaft bei K. J. Lyngby. Von dem letztgenannten, der mit allen modernen Bestrebungen der Linguistik Fühlung hatte und seinerseits als Specialgebiet die dänischen Mundarten pflegte, hat V. als Student wohl die meiste Förderung erfahren, dazu trat später der höchst anregende Umgang mit dem nur um vier Jahre älteren Vilh. Thomsen, welcher sich 1869 habilitirte. Als sein eigentliches Fach sah V. jetzt die slavische Philologie an, und als Slavisten hat er dauernd sich bezeichnet, obwohl er nie dazu gekommen ist, etwas Wissenschaftliches aus diesem Gebiet zu publiciren. Um wenigstens eine der lebenden slavischen Sprachen gründlich kennen zu lernen, hielt er sich vom December 1871 bis zum Herbst 1872 in Petersburg und Moskau auf und schloß nach der Heimkehr sein Studium äußerlich ab durch ein Magisterexamen in slavischer Philologie (bei Smith und Thomsen), das sich über ein gutes Theil des Jahres 1873 hinzog. Sein Ehrgeiz war nur auf die Stellung eines Bibliothekassistenten gerichtet, und als diese Hoffnung schwand, gab er sich auch mit dem Gedanken an einen Hauslehrerposten auf einer dänischen Insel zufrieden: wenn er ihm nur Gelegenheit bieten würde, einen noch unerforschten Dialekt zu studiren! Während eines fast zweijährigen Aufenthaltes im Elternhause trat die Beschäftigung mit den Accentverhältnissen einerseits des Litauischen und andererseits des Dänischen immer mehr in den Vordergrund: der Plan einer Geschichte des dänischen Accents von den Tagen Holberg’s bis zur Gegenwart gewann schon 1874 derart feste Gestalt, daß Thomsen rieth, die Arbeit zu einer Doctordissertation zu verwenden. Daneben aber tauchten Probleme der vergleichenden Grammatik auf, die ihn von diesem festen Pfade abführten. Im Frühjahr 1875 bereits stand die Entdeckung in der Hauptsache fest, die seinen Namen in der Sprachwissenschaft zu hohen Ehren gebracht hat. Inzwischen war es ihm gelungen, ein Universitätsstipendium zu einer Reise in die Kaschubei zu erhalten, wo er, einem Winke Schleicher’s folgend, die Reste einer selbständigen westslavischen Sprache mit dem alterthümlichen freien Accent vermuthete, den sonst nur das Ostslavische bewahrt hat. Auf der Reise von Århus nach Danzig und Carthaus machte er in Kopenhagen längere Station und unterbreitete Thomsen seine Entdeckungen zur germanischen Lautverschiebung und zum indogermanischen Ablaut. Dem energischen Zuspruch des Freundes, der alsbald die hohe Bedeutung der Arbeiten erkannte, verdankt es die Wissenschaft, daß V. die beiden Aufsätze „Eine Ausnahme der ersten Lautverschiebung“ und „Zur Ablautfrage“ druckfertig machte und den einen von Kopenhagen, den andern von Carthaus aus an A. Kuhn für die „Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung“ einsandte: [328] hier sind sie sofort im October 1875 gedruckt worden und beide zusammen (in Bd. 23, S. 97–138) ans Licht getreten. Die ersten warmen Anerkennungsschreiben und enthusiastischen Zurufe erreichten den „Entdecker des indogermanischen Accents“ noch in Carthaus, wo ihn das verlängerte Stipendium unter unbehaglichen Verhältnissen und gemischten Empfindungen ausharren ließ: denn das Kaschubische hatte sich ihm inzwischen als ein polnischer Dialekt erwiesen, dessen sprachgeschichtliches Interesse den von Schleicher geweckten Erwartungen nicht entsprach. Im Frühjahr 1876 kehrte er über Berlin und Kopenhagen nach Århus zurück.

In Deutschland war inzwischen auf verschiedenen Seiten der Wunsch und geradezu die Pflichtempfindung wach geworden, den jungen mittellosen Gelehrten, dem in der dänischen Heimath keine Aussichten winkten, eine Stellung zu verschaffen, die ihm die freieste Entfaltung seiner wissenschaftlichen Kräfte ermöglichte. Insbesondere war Wilhelm Scherer von Straßburg aus eifrig bemüht: er dachte an die eben durch Joh. Schmidt’s Berufung nach Berlin freigewordene Professur für Sprachvergleichung in Graz – aber V. wies das bescheiden und bestimmt ab und gab zugleich seinen Wunsch nach einer Bibliotheksstellung kund. Dieser ließ sich durch das einsichtige Entgegenkommen des eben mit der Neuordnung der Hallischen Universitätsbibliothek beauftragten Dr. Otto Hartwig rasch verwirklichen: am 1. October 1876 trat V. als Volontär in Halle ein, er ist 1878 fest angestellt worden und bis zum zweiten Custos aufgerückt. Das Jahr 1877 brachte ihm auf Anregung Müllenhoff’s das Bopp-Stipendium für vergleichende Sprachwissenschaft; schon im J. 1878 versuchte man ihn als Director der Universitätsbibliothek nach Jena hinüberzuziehen: er lehnte mit der bestimmten Erklärung ab, daß er vorläufig nicht allseitig genug litterarisch orientirt sei und überhaupt nicht die Fähigkeit zu einer leitenden Stellung besitze. So blieb er sechs volle Jahre in Halle und nahm an den Organisationsarbeiten wesentlichen Antheil: als ein pflichttreuer, eifriger und bis in das Technische hinein lebhaft interessirter Bibliothekar. Von Halle aus verkehrte er namentlich in den ersten Jahren viel in dem angeregten und zeitweise aufgeregten Kreise der „Junggrammatiker“ in Leipzig, der ihm eine herzliche Aufnahme bereitete und ihn zu freier Mittheilung seiner linguistischen Forschungen und Ideen ermunterte; hier hat er auch zuerst die Schritte bekannt gegeben, die er selbst zur Entdeckung des „Palatalgesetzes“ gethan hatte, jener wichtigen Beobachtung, welche nach seinem eigenen bescheidenen Ausdruck damals „überreif am Baume der Sprachwissenschaft hing und über kurz oder lang von selbst herunterfallen mußte“. Zu litterarischer Thätigkeit war er nur schwer zu bringen; ein Aufsatz über „Germanisch nn in Verbindung mit nachfolgenden Konsonanten“ (Zeitschr. f. d. Alterthum 21, 425–434) und ein paar Recensionen, die ihm Scherer beinahe abgezwungen hat, sind äußerlich die einzigen Ergebnisse dieser Zeit.

Im Herbst 1881 trat mit dem Tode seines Lehrers C. W. Smith das Ereigniß ein, das ihm allein die Rückkehr in die Heimath möglich und wünscheneswerth erscheinen ließ: die Professur für slavische Philologie an der Kopenhagener Universität wurde frei, und V., den man nicht ohne Drängen zur Bewerbung gebracht hatte, erhielt sie und trat sie am 1. Januar 1883 an: er war zuerst „Docent“, seit April 1888 außerordentlicher Professor, im gleichen Jahre 1888 wurde er auch Mitglied der Gesellschaft der Wissenschaften. Die philosophische Facultät zu Heidelberg verlieh ihm im Januar 1887 die Würde eines Ehrendoctors: das war also bei all den Bemühungen um sein Fortkommen so lange vergessen worden! V. hat die Pflichten des neuen Amtes sehr ernst genommen: er hielt Vorlesungen und Uebungen über alle [329] slavischen Sprachen und hatte für seine wenigen Schüler immer Zeit. Die Litteraturgeschichte freilich strebte er sich fernzuhalten; gleichwohl sind eine Anzahl Artikel darüber in den ersten sechs Bänden des großen dänischen Conversationslexikons von Salomonsen das einzige, was er aus seiner Disciplin ans Licht gegeben hat; es waren Pflichtleistungen, die sich der einzige Slavist Dänemarks abquälte. Auch sonst blieb er unproductiv, ja seine ausgesprochene Abneigung gegen das Publiciren nahm derart zu, daß er nicht zu bewegen war, von dem einzigen akademischen Vortrag, den er gehalten hat (1892), auch nur ein Resumé herzugeben. Dieser Vortrag galt einem Apparat zur Messung der Schwingungscurven der Sprachlaute, den er unter Benutzung eines Edison’schen Phonographen höchst sinnreich construirt hatte. Denn der Phonetik der lebenden Sprachen galt sein lebendigstes Interesse, wie zu aller Zeit, so insbesondere in seiner zweiten Kopenhagener Periode: jetzt stand besonders die Accentlehre des Russischen im Vordergrunde.

Verner’s Gesundheit war von früh auf unsicher gewesen und auch durch die militärische Dienstzeit nicht gekräftigt worden. Früher war es wohl die Lunge, die ihm Sorgen machte, jetzt traten andere Erscheinungen zu Tage: bereits im Frühjahr 1885 erlitt er einen Schlaganfall, dessen Folgen seine Beweglichkeit und Entschlußfähigkeit noch mehr beeinträchtigt zu haben scheinen; auf einem Bilde der späteren Kopenhagener Zeit ist der Hallische Bibliothekar kaum wiederzuerkennen. So ward es denn immer schwieriger, von ihm etwas zum Druck zu bekommen; ein 1888 als actuelle Streitschrift gegen E. v. d. Recke geschriebener Aufsatz über die großen und kleinen Buchstaben in der dänischen Schrift ist erst nach seinem Tode publicirt worden. In den 90er Jahren ging es mit seiner Energie und mit seinen Geisteskräften immer mehr rückwärts. Nach einem weiteren Schlaganfall ist er am 5. November 1896 gestorben.

Der Höhepunkt seines Lebens fällt in sein 30. Jahr – und das große Ergebniß dieser Zeit, das „Verner’sche Gesetz“ war ganz gewiß keine überreife Frucht, die dem in den Schoß fiel, der zufällig oder auch am kräftigsten am Baume der Wissenschaft schüttelte. Daß die ursprünglichen Accentverhältnisse von Einfluß auf den Vocalismus, insbesondere auf den Ablaut gewesen sein müßten, hatte mehr als einer geahnt; dieser Erkenntniß hat der kleinere der beiden Aufsätze Verner’s in Kuhn’s Zeitschrift nur eine entscheidende Förderung gebracht. Aber daß auch der Consonantismus unter dem Bann des Accentes stehe, war eine ganze neue Entdeckung, daß das Germanische durch die scheinbare „Ausnahme“ der ersten Lautverschiebung, welche V. als eine gesetzmäßige Fortbildung erwies, wichtige Beiträge zur Ermittlung des Accents der indogermanischen Grundsprache liefern könnte, das war völlig neu, und es war in dem ersten Aufsatz Verner’s mit einer Klarheit der Gedankenführung, mit einer sichern Beschränkung auf vollwichtige Beispiele, mit einer bescheidenen Fernhaltung aller sich aufdrängenden Einfälle und Excurse nachgewiesen, daß dieser Abhandlung die rasche, freudige und dankbare Zustimmung der Alten wie der Jungen Antwort gab; alle Richtungen der Sprachwissenschaft waren sofort einig in der Ueberzeugung, daß hier eine Bahn gebrochen sei, die eine Fülle neuer Aussichten, noch unübersehbar, eröffnete. Und diese Erwartung hat sich in vollem Maße verwirklicht: es gibt auf dem Gebiete der indogermanischen Sprachwissenschaft kaum eine zweite Entdeckung, die, für das Gebiet einer Einzelsprache gemacht, in solchem Maße aufhellend für die gesammte Linguistik gewirkt hat.

Man mag es beklagen, daß V., der nach dem Zeugniß Aller, die seinen Umgang genossen haben, ein ideenreicher Kopf und dazu ein Meister wissenschaftlicher [330] Beweisführung war, zeitlebens ein „Epikuräer des Erkennens“ blieb, wie er sich selbst gelegentlich genannt hat. Die Freude an der stillen Ausgestaltung wissenschaftlicher Probleme und an der brieflichen und mündlichen Mittheilung werdender Erkenntnisse einigen Wenigen gegenüber, denen er sich erschloß, ist ihm bis in die Anfänge seiner Kopenhagener Lehrthätigkeit geblieben. Die Abneigung gegen eine zusammenfassende Niederschrift hat er nur ein paar Mal unter dem Drängen einsichtiger Freunde überwunden. Dabei gehorchte ihm offenbar die Sprache leicht, die dänische von früh auf, die deutsche jedenfalls nach den ersten Hallischen Jahren: seine Recension von A. Kock’s „Sprachhistorischen Untersuchungen über den schwedischen Accent“ (Anzeiger f. d. Alterthum 7, 1–13) und seine Aufklärung „Zur Frage der Entdeckung des Palatalgesetzes“ (Litt. Centralblatt 1886, Sp. 1707–1710) sind Musterbeispiele einer durchsichtigen Behandlung wissenschaftlicher Fragen auch in sprachlicher Hinsicht.

Karl Verner, Afhandlinger og breve udg. af Selskab for germansk filologi med en biografi ved Marius Vibæk (Købnhavn 1903); darin S. XIII Anm. ein vollständiges Verzeichniß der Nekrologe, ich hebe hervor V. Thomsen, Nord tidskr. f. filol. III. r. 5, 187–202; V. Dahlerup, Arkiv f. nord. filologi 13, 270–281; H. Pedersen im Anzeiger f. indogerm. Sprach- u. Alterthumskunde 8, 107–114; O. Hartwig, K. A. Verner als Bibliothekar, Centralbl. f. Bibliothekswesen 14, 249–263.

[326] *) Zu Bd. LIV, S. 741.