Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Tschirnhaus, Walter von“ von Otto Liebmann (Philologe) in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 38 (1894), S. 722–724, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Tschirnhaus,_Walter_von&oldid=- (Version vom 25. November 2024, 19:03 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
<<<Vorheriger
Tschirch, Wilhelm
Band 38 (1894), S. 722–724 (Quelle).
[[| bei Wikisource]]
Ehrenfried Walther von Tschirnhaus in der Wikipedia
Ehrenfried Walther von Tschirnhaus in Wikidata
GND-Nummer 118624369
Datensatz, Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|38|722|724|Tschirnhaus, Walter von|Otto Liebmann (Philologe)|ADB:Tschirnhaus, Walter von}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=118624369}}    

Tschirnhaus: Ehrenfried Walther v. T. (auch Tschirnhauß und Tschirnhausen geschrieben), Herr auf Kießlingswalde und Stoltzenberg, einer der hervorragendsten deutschen Mathematiker und Philosophen des 17. Jahrhunderts und, wie Christian Thomasius, mit seinem großen Zeitgenossen Leibnitz durch Gemeinsamkeit der wissenschaftlichen Bestrebungen und durch persönliche Freundschaft nahe verbunden. Er wurde geboren am 10. April 1651 in der bei Görlitz gelegenen Ortschaft Kießlingswalde, woselbst seine aus Mähren und Böhmen eingewanderten Vorfahren schon seit vier Jahrhunderten erbeingesessen waren. Sein Vater Christoph v. T. war kurfürstlich sächsischer Rath und Landesältester im Görlitzischen Fürstenthum, seine Mutter Elisabeth Eleonore, eine geborene Freiin v. Stierling und Achyl. Im elterlichen Hause erhielt T. zusammen mit seinen beiden Brüdern Friedrich Gottlob und Georg Albrecht eine sorgfältige Erziehung; die Brüder wurden von mehreren Gelehrten unterrichtet, deren einem, Mag. Nathanael Heer, sie, als dieser nach Lauban als Prediger berufen wurde, dorthin folgten, um sich unter seiner Leitung weiterzubilden. Hierbei zeichnete sich Ehrenfried Walther nicht nur durch Gehorsam und pünktlichen Fleiß aus, sondern auch durch ungewöhnliche Begabung und schnelle Fortschritte, so daß er nach seiner Uebersiedelung an das Gymnasium zu Görlitz bereits im 15. Jahre „unter dem berühmten Vechnero in prima classe“ studirte. Da durch den Schulunterricht seine eifrige Lernbegierde noch nicht befriedigt war, ergänzte er sein Wissen durch mancherlei Privatlectüre, namentlich im Felde der Mathematik; er las für sich als Gymnasiast Alsted’s Encyklopädie, Kircher’s Werke und andere gelehrte Schriften; dergestalt, daß er allen seinen Mitschülern weit voraneilte. Als er das 17. Lebensjahr erreicht hatte (1668), schickten ihn seine Eltern auf die Universität, und zwar auf Anrathen des Görlitzer Rathsherrn Hegenitius nach Leyden in Holland. Die Reise dorthin ging glücklich von Statten; aber gerade zu der Zeit, als T. in Leyden eintraf, herrschte daselbst eine bösartige Seuche, von der viele Professoren hingerafft wurden. Auch T. selbst wurde von der Epidemie ergriffen und konnte sich erst nach seiner Genesung von schwerer Krankheit in mathematische, physikalische und philosophische Studien vertiefen, über deren speciellen Entwicklungsgang keine genauere Nachricht aufbewahrt ist. Eine längere Unterbrechung erfuhren diese wissenschaftlichen Arbeiten, als 1672 der zweite Raubkrieg Ludwig’s XIV. gegen die Niederlande begann und Holland von den französischen Truppen überschwemmt wurde. In dem Kriegslärm fühlte T. sich veranlaßt, selber zu den Waffen zu greifen; er trat als Freiwilliger in das Regiment des ihm befreundeten Obersten Baron v. Niewland ein, diente [723] anderthalb Jahre lang unter diesem wissenschaftlich gebildeten Officier und hielt mit ihm die Belagerung der Festung Wesel aus. Als Freiwilliger genoß er die Vergünstigung, immer nur am vierten Tage Dienst thun zu müssen, so daß ihm für gelehrte Beschäftigung Muße freiblieb; zugleich machte er sich bei Niewland in dem Grade beliebt, daß dieser, um ihn dauernd an seine Fahne zu fesseln, ihm eine Hauptmannsstelle anbot. Indessen da für T. die Gedankenarbeit mehr Anziehungskraft als das Waffenhandwerk hatte, lehnte er das ehrenvolle Anerbieten ab und ergriff die erste passende Gelegenheit, um Urlaub zu nehmen und nach Leyden zu seinen Studien zurückzukehren. Als er 24 Jahre alt war (1675) verließ er Holland, begab sich wieder in seine Heimath, blieb aber nicht lange daselbst, sondern unternahm mit Erlaubniß seiner Eltern eine weit ausgedehnte, mehrjährige Reise durch Europa. Er ging zunächst über Holland nach England, hielt sich dann vom September 1675 bis zum November 1676 in Paris auf, reiste von hier über Lyon nach Italien, besuchte Turin, Mailand und Venedig und verweilte etwa ein Jahr lang in Rom (1677–78). Bis nach Sicilien und Malta erstreckten sich seine Fahrten; und er würde, seinem Plane nach, auch Spanien, Griechenland und die Türkei aufgesucht haben, wenn dies nicht drohende Gefahren verhindert hätten. Auf seiner europäischen Rundreise knüpfte T. überall mit hervorragenden Gelehrten Bekanntschaft an; so in Holland mit Hudden und Huyghens, in England mit Newton, Collins und Oldenburg, in Italien mit Michael Angelo Ricci, Kircher, Alphons Borelli. Auch mit Spinoza kam er während seines holländischen Aufenthaltes in Berührung. Namentlich aber lernte er in Paris Leibnitz persönlich kennen und trat mit diesem auf Grund der Gemeinsamkeit wissenschaftlicher Bestrebungen in eine vertraute Freundschaft, von welcher der Briefwechsel beider Männer (cf. Gerhardt, Leibnitz’ mathematische Schriften; I. Abth., Bd. IV) sprechendes Zeugniß ablegt. Solche persönliche Beziehungen neben seinen wissenschaftlichen Leistungen hatten es unter anderem zur Folge, daß T. später bei einer dritten Anwesenheit in Paris auf Empfehlung Colbert’s in die Akademie der Wissenschaften aufgenommen wurde (22. Juli 1682); wozu in der unten citirten anonymen „Lebens- und Todesgeschichte“ die Bemerkung gemacht wird: „hat auch derselben durch Experimenta und Inventa sein Ingenium und Fleiß allzeit rühmlich bewiesen, wie solches die Bücher der Akademie, so jährlich herauskommen, satsam zeigen“. – Inzwischen aber hatte T. nach langen Wander- und Lehrjahren in der Heimath eigenen Hausstand und Familie begründet. Er verheirathete sich 1682 mit Fräulein Elisabeth Eleonore v. Lest und zog mit seiner Ehegattin zunächst auf das von ihm angekaufte Landgut Grund, wo die Neuvermählten zwei glückliche Jahre verlebten. Als dann 1684 sein Vater starb, siedelte T. auf die ererbten Güter über, die er, anfangs mit seinem Bruder Georg Albrecht gemeinsam, verwaltete. Aus seiner Ehe mit El. El. v. Lest sind drei Söhne und drei Töchter hervorgegangen. Sodann war T. bemüht, seine wissenschaftlichen Einsichten und technischen Erfindungen im Interesse seines Heimathlandes zu verwerthen, während er manche von auswärts kommende vortheilhafte und ehrenvolle Anerbietungen zurückwies. Der Kurfürst von Brandenburg trug ihm nach dem Tode Seckendorff’s die Kanzlerstelle an der Universität Halle an mit einem Jahresgehalte von 3000 Thalern; die Landgrafen von Hessen-Darmstadt und Hessen-Cassel offerirten ihm höhere Beamtenstellen; und schon vorher hatte Colbert ihn auf die Dauer in Paris zu halten gesucht. Alle diese lockenden Anträge lehnte T. dankend ab, und begründete statt dessen in der Heimath industrielle Unternehmungen, die für die Lausitz und Kursachsen höchst vortheilbringend werden mußten. Bei seinen Untersuchungen über Brennlinien und Brennspiegel hatte er Schleifmaschinen erfunden, mit denen sich optische Gläser von ungewöhnlicher Größe [724] herstellen ließen. Im Zusammenhange hiermit stand es, daß er nach längeren Bemühungen beim Dresdener Hof die Staatsmittel zur Anlegung von drei Glashütten bewilligt erhielt; wodurch wenigstens 20 000 Thaler jährlich, die sonst für Glas nach Böhmen gegangen wären, im Lande blieben, und mancher armen Familie zum Brote verholfen wurde. Auf rein theoretischem Gebiete kamen als Früchte langjährigen Nachdenkens eine Anzahl wissenschaftlicher Werke von hervorragendem Werthe zur Reife. Seine „Medicina Mentis“, eine im Stil des Cartesius gehaltene, aber auch von Spinoza sichtlich beeinflußte Methodenlehre und Erkenntnißtheorie, die T. in Holland 1682 niedergeschrieben hatte, erschien 1687 zu Amsterdam (2. Auflage, Leipzig 1695). Die „Medicina Corporis“ bildet eine Ergänzung dazu. Ebenso die „Gründliche Anweisung zu nützlichen Wissenschaften, absonderlich zu der Mathesi und Physica, wie sie anjetzo von den Gelehrtesten abgehandelt werden“. Eine größere Anzahl von Abhandlungen sind in den Leipziger Actis Eruditorum und in den Mémoires der Pariser Akademie abgedruckt. Im Felde der Mathematik und Physik hat sich T. durch seine Quadratur-, Rectifications- und Tangentenmethoden, seine Brennlinien, Brenngläser und seine Auflösung der Gleichungen historische Verdienste erworben. Dabei trug er sich, von demselben univeralistischen Geiste wie Leibnitz beseelt, mit dem Gedanken der Gründung einer sächsischen Akademie der Wissenschaften; doch ist dieser Plan infolge des Mangels an Geldmitteln und des Einfalls der Schweden in Sachsen gescheitert. Was Tschirnhausens häusliche Verhältnisse betrifft, so blieben ihm schmerzliche Schicksalsschläge nicht erspart. Seine erste Frau starb 1693. Nach neunjährigem Wittwerstande und nach einer abermaligen Reise nach Paris verheirathete sich T. zum zweiten Male im Februar 1702, und zwar mit Fräulein Elisabeth Sophie von der Schulenburg, die ihm aber schon nach vierjähriger Ehe und nachdem die beiden von ihr geborenen Kinder gestorben waren, gleichfalls durch den Tod entrissen wurde. Dazu kamen pecuniäre Verluste. Nach dem Jahre 1700 wurde T. mit der Ueberwachung des gefangen gehaltenen Alchymisten und Porzellanerfinders H. Fr. Böttcher beauftragt, war zu häufigem Aufenthalt am Hofe genöthigt und mußte hierauf viel Zeit und Geld verwenden. Der Einfall der Schweden in Sachsen unter Karl XII. (1706–1707) scheint Tschirnhausens Besitzungen und Fabriken in der Lausitz schwer betroffen zu haben. Er selbst begann nach dem Verluste seiner zweiten Frau zu kränkeln. Sein Körperbau war kein kräftiger, seine arbeitsreiche Lebensweise sehr anstrengend. Er pflegte jeden Morgen schon um 2 Uhr aufzustehen, arbeitete bis 6 Uhr, legte sich dann für eine Stunde zur Ruhe, erfüllte hierauf seine laufenden Amtspflichten bis zum Mittag und ruhte nach dem Essen nur wenig; im Ganzen soll er während 24 Stunden nur 6 Stunden geschlafen haben. Im September 1708 wurde T. von heftigen Steinbeschwerden befallen; er wendete einige Arzneimittel dagegen an, schrieb aber, sein Ende vorausahnend, an den Kurfürsten, dem er für alle ihm erwiesenen Gnaden dankte und seine Kinder anempfahl. Sein Zustand verschlimmerte sich schnell, und am 11. October 1708 um 4 Uhr Morgens wurde er durch den Tod von seinen Schmerzen erlöst. Sein letztes Wort soll der Ausruf „Victoria!“ gewesen sein.

Lebens- und Todes-Geschichte des weltberühmten Herrn Ehrenfried Walther von Tschirnhaus etc. (anonym). Görlitz, bei Jac. Rohrlachen, 1709. – Acta Eruditorum. Anno 1709. Elogium E. W. a T.H. A. v. Ziegler, Historischer Schauplatz und Labyrinth der Zeit. Anno 1718, pag. 186. – Leibnitzens mathematische Schriften herausgegeben v. C. J. Gerhardt; Abth. 1, Bd. 17. – H. Weißenborn, Lebensbeschreibung des E. W. v. Tschirnhaus. Eisenach 1866. – A. Kunze im „Neuen Lausitzischen Magazin“, Bd. 43.