ADB:Spilleke, Gottlieb August
Karl Ritter, über die Grenzen des Fachstudiums hinaus um eine allgemein wissenschaftliche Ausbildung eifrig bemüht, und der Einfluß Friedrich August Wolf’s entschied ihn dann, sich zur Vorbereitung für das Lehramt hauptsächlich mit den alten Sprachen zu beschäftigen. Auf desselben Empfehlung nahm ihn 1798 der Director des Gymnasiums zum grauen Kloster in Berlin, Ober-Consistorialrath Gedike (s. A. D. B. VIII, 487), in sein Haus und das von ihm geleitete Seminar für gelehrte Schulen auf. Im Jahre 1800 wurde S. als Lehrer beim Friedr. Werder’schen Gymnasium zu Berlin angestellt, und bald darauf übernahm er auch eine Hülfspredigerstelle an der Kirche desselben Stadtbezirks. Die vorzüglichen Erfolge seines Unterrichts bewirkten, daß ihm 1810 der General v. Scharnhorst die Vorlesungen über deutsche Sprache und Litteratur bei der Königl. Kriegsschule (Akademie) übertrug, womit eine Betheiligung an der Militärexaminationscommission verbunden war. Den Abschluß seiner öffentlichen Amtsthätigkeit machte das Directorat des Königl. Friedrich-Wilhelms-Gymnasiums und der damit verbundenen Real- und Mädchenschule in Berlin; 1821 in dies Amt eingeführt, hat er es, 20 Jahre lang, bis zu seinem Tode verwaltet.
Spilleke: Gottlieb August S. gehört zu den Schulmännern, welche in diesem Jahrhundert einen über ihre nächste amtliche Wirksamkeit weit hinausgehenden Einfluß auf die Entwickelung des höheren Schulwesens in Deutschland gehabt haben; weshalb ihm unzweifelhaft eine Stelle in diesem Werke gebührt. Er war am 2. Juni 1778 in Halberstadt geboren, früh vaterlos und in beschränkten häuslichen Verhältnissen aufgewachsen. In der Domschule seiner Vaterstadt vorbereitet, bezog er 1796 die Universität in Halle, um Theologie zu studiren. Zugleich war er aber mit Freunden, wie dem später als Geograph berühmtenIm höheren Schulwesen des preußischen Staats waren damals die neu belebenden Anregungen noch wirksam, welche es am Ende des ersten Decenniums des Jahrhunderts durch Wilhelm v. Humboldt erhalten hatte; die allgemeinen Anordnungen, welche daraus hervorgingen, waren aber als S. Director wurde, noch nicht zu einer so bindenden Gesetzlichkeit geworden, daß sie die Freiheit eines seiner Einsicht und Natur nach auf selbständiges Schaffen gerichteten Mannes, wie es S. war, wesentlich eingeengt hätten. Die Beschaffenheit des ihm überwiesenen Arbeitsfeldes, sowie Bildungsfragen, welchen man in jener Zeit besonderes Interesse zuzuwenden anfing, begünstigten seine Selbstthätigkeit.
Aus der von J. J. Hecker (s. A. D. B. XI, 208) gegründeten Realschule hatten die erwähnten drei Anstalten sich allmählich so entwickelt, daß das Gymnasium den ersten Rang einnahm und die Direction des ganzen Schulcomplexes danach bezeichnet wurde. Die Realschule hatte im Laufe der Zeit verschiedene Experimente durchgemacht und entbehrte noch einer gesicherten Organisation; ebensowenig waren damals die öffentlichen Schulen für die weibliche Jugend nach bestimmten und allgemein anerkannten Grundsätzen eingerichtet; und diese beiden Nebenanstalten des Friedrich-Wilhelms-Gymnasiums befanden sich als S. sein Amt antrat in einem äußerst mangelhaften Zustande. Er erkannte, daß vornehmlich die Realschule einer durchgreifenden Neugestaltung bedürfe und legte alsbald Hand ans Werk.
Die Art wie er von den ihn dabei leitenden Principien öffentlich Rechenschaft ablegte, sollte für die Entwickelung des deutschen Realschulwesens epochemachend werden. Es war die Zeit des Uebergangs von der langen und unbedingten Oberherrschaft der alten Sprachen in dem gesammten höheren Schulunterricht zu einer freieren Auffassung der Bestimmung desselben für die Aufgaben des öffentlichen Lebens; und S., nicht vorzugsweise Philolog, sondern Schulmann im vollen und edelsten Sinne des Worts, hatte nach der Weite und Freiheit [188] seines Blicks in die Wirklichkeit ein klares Verständniß für das Recht ihrer Anforderungen. Nachdem er in seiner ersten Schulschrift (1821) „Das Wesen der Gelehrtenschule“ behandelt hatte, ließ er im Jahre darauf das Programm „über das Wesen der Bürgerschule“ folgen. Hierin gab er den vorwiegend für die realen Bildungsbedürfnisse bestimmten Schulen eine Stellung nicht unter, sondern neben den Gymnasien: sie sollen für diejenigen bürgerlichen Berufsarten vorbereiten, welche eine wissenschaftliche Bildung erfordern, und sollen dazu beitragen, daß auch das äußere Leben eine höhere veredelte und sittliche Gestalt gewinne. Daraufhin war die Auswahl und Verbindung der Lehrgegenstände aus gründlicher Fachkenntniß und pädagogischer Erfahrung berechnet. Die Erfolge der demgemäß mit dieser „Königlichen Realschule zu Berlin“ vorgenommenen Veränderungen rechtfertigten Spilleke’s Principien in jeder Hinsicht; die Anstalt wurde ein Muster, nach welchem andere Realschulen eine neue Einrichtung erhielten. Wie S. selbst aber fortdauernd bemüht war, bei der seinigen die Idee der Sache mit wechselnden Zeitforderungen auszugleichen, ist u. a. am Unterricht im Lateinischen erkennbar. Er hatte ihn zuerst von seinem Lehrplan ausgeschlossen; einige Jahre später nahm er ihn mit gewissen Einschränkungen auf: die geistige Bedeutung und Grundlage der Realschule schien es ihm zu fordern und war ihm wichtiger als die auf den praktischen Nutzen gerichtete Seite ihrer Wirksamkeit.
Die Bemühungen um eine den sich dabei begegnenden Interessen genügende feste Ordnung des Realschulwesens haben ihr Ziel auch heute noch nicht erreicht. Spilleke’s Programm von 1822 und seine Ausführung desselben bildet den Ausgangspunkt der Reformvorschläge und Versuche, welche darin seitdem aufeinander gefolgt sind. – Während er auf die Realschule hauptsächlich neu organisirend und durch Anleitung der Lehrer zu einem zweckmäßigen methodischen Verfahren einwirkte, war seine eigene Lehrthätigkeit fast ausschließlich den oberen Classen des Gymnasiums gewidmet. Es kam durch ihn zu einer Blüthe, die es zu keiner Zeit vorher erreicht hatte. Die anfangs mit der Realschule verbundenen Mädchenclassen machte er zu einer selbständigen höheren Töchterschule, die ebenfalls bald allgemeines Vertrauen genoß und mehr besucht war als er selbst ihr zuträglich hielt.
S. war einer der letzten deutschen Pädagogen, denen in der Leitung öffentlicher höherer Schulen theologische Vorbildung und geistliche Amtserfahrung zu gute kam. Er konnte infolge vielseitiger und fortgesetzter Studien bei seinem Unterricht und seiner directorialen Thätigkeit einen Reichthum mannichfaltiger Kenntnisse wissenschaftlich verwenden; aber seine Auffassung der Welt und der menschlichen Bestimmung in derselben gründete sich nicht auf einem philosophischen System oder auf einer an den Alten genährten Ethik, sondern auf festem und klarem evangelischen Glauben: vorzugsweise aus diesem bekannte er, fort und fort Licht und Kraft für die ethische Aufgabe der Jugendbildung zu empfangen. Er hatte für pädagogische Wirksamkeit vorzügliche Gaben, und erleichtert wurde sie ihm schon durch seine natürlichen Gemüthseigenschaften, einen fröhlichen und liebreichen Sinn und Freude am Verkehr mit der Jugend. Daraus und aus ruhiger Beobachtung erwuchs ihm ein feines Verständniß der Kindesnatur und ihrer Entwickelung zu den höheren Altersstufen, sowie eine erfinderische Kunst, geistiges Interesse zu wecken und zu leiten. Erwiderte die große Schaar der Kleinen seine väterliche Zuneigung und Fürsorge mit herzlicher Liebe zu ihm, so empfanden und erkannten doch die Jünglinge in den oberen Classen noch mehr, wie viel sie seinem anregenden Unterricht, dem Vorbilde seines wissenschaftlichen Strebens und seines Fleißes und dem Eindruck seiner gewinnenden Persönlichkeit verdankten. Sie hingen an ihm mit inniger Verehrung und mit einer Pietät, [189] die auch über die Schuljahre hinaus fortdauerte. – Die Collegialität mit den vielen an den drei Anstalten beschäftigten Lehrern faßte S. immer als ein persönliches Vertrauensverhältniß auf, weshalb er selten in den Fall kam, seine Amtsautorität geltend machen zu müssen. Alle ehrten willig in ihm den Vorgesetzten; er erwies sich ihnen aber immer vielmehr als Freund. Darum wurde ihm auch freimüthige Offenheit nicht leicht übelgenommen; und hatte ihn einmal die Lebhaftigkeit seines Temperaments in mißbilligenden Aeußerungen fortgerissen, so wußte er doch einer dauernden Spannung oder einer Verbitterung immer vorzubeugen, so daß auch die Jugend die große Lehrergemeinschaft stets in geschlossener Einheit und Einmüthigkeit sich gegenüber sah.
In seinem Hause war ihm ein glückliches Familienleben beschieden und zu freundschaftlichem Verkehr benutzte er gern die Gelegenheiten, welche dazu die Regsamkeit des geistigen Lebens der Stadt und die vielen Beziehungen seines Amts ihm darboten; nicht Wenige, die aus der Ferne, auch aus anderen Ländern, kamen, um seine Anstalten zu sehen und ihn selbst persönlich kennen zu lernen, fanden bei ihm gastliche Aufnahme. Das Gefühl einer die gewohnte rastlose Thätigkeit erschwerenden Altersschwäche blieb ihm erspart; er stand noch in rüstiger Kraft, als ihn am 9. Mai 1841 ein Schlagfluß plötzlich dahinraffte.
Eine Sammlung von Spilleke’s Schulschriften erschien in Berlin 1825. – Eingehendere Nachrichten über sein Leben und seine Wirksamkeit geben der ihn betreffende Artikel von Heydemann in der C. Schmid’schen pädagogischen Encyklopädie, Joh. Horkel’s Memoria Aug. Spillekii, Berlin 1841, sowie des Unterzeichneten Lebenserinnerungen und Amtserfahrungen, Berlin 1886, und Spilleke’s Leben, Berlin 1842.