ADB:Schrader-Breymann, Henriette
[173] frohgemuthen und gastfreien Pfarrhause verlebte sie in landschaftlich lieblicher Umgebung eine glückliche Kinderzeit, besuchte dann bis zu ihrer Confirmation, die am 3. April 1842 erfolgte, die Töchterschule in Wolfenbüttel und kehrte darauf nach Haus zurück, um sich hier bei der Führung des Hauswesens und der Erziehung der jüngeren Geschwister, zu denen der spätere Bildhauer Adolf Breymann (s. A. D. B. XLVII, 231 ff.) gehörte, nützlich zu machen; ein halbes Jahr verlebte sie auch, um einen großen Landhaushalt kennen zu lernen, bei einem Oheim zu Reichenbach in Sachsen. Aber diese mehr äußerlich schaffende Thätigkeit gewährte auf die Dauer ihrem lebendigen, strebsamen Geiste keine innere Befriedigung; unbewußt sehnte sie sich nach höherem. Das kam ihr klar zur Erkenntniß, als sie im Sommer 1848 ihre Schwester Marie auf die Erziehungsanstalt nach Keilhau brachte und hier Friedr. Fröbel, einen Vetter ihrer Mutter, kennen lernte, der die in ihr schlummernden Kräfte bald erkannte, ihr liebevoll die Augen öffnete und sie auf das Gebiet der Frauenerziehung nach den von ihm vertretenen Grundsätzen hinwies. Dies wurde der Wendepunkt ihres Lebens; von nun an gewann sie einen festen Lebenszweck, dem sie bis zu ihrem Tode treu blieb. Mit Begeisterung studirte sie die Lehren und pädagogischen Methoden von Fröbel u. A.; sogleich im folgenden Winter (1848/49) war sie bei Fröbel in Dresden, wo er Vorträge hielt, um die Frauenwelt für seine Erziehungsreform zu gewinnen und wo zugleich der Frankenbergsche Kindergarten ein geeignetes Uebungsfeld für die praktische Ausbildung seiner Schülerinnen bot. Die politischen Unruhen trieben Henriette B. von dort im Mai 1849 wieder nach Mahlum zurück, aber noch denselben Sommer weilte sie wieder bei Fröbel in Liebenstein, um ihm den Haushalt zu führen und an seinen Bestrebungen für die Ausbildung von Erzieherinnen Theil zu nehmen. Hier ist sie damals zuerst mit Diesterweg und Frau v. Marenholtz-Bülow bekannt geworden. Nach Haus zurückgekehrt hat sie hier die jüngeren Geschwister unterrichtet und mit ihnen und den kleinen Dorfkindern in einem Kindergarten Fröbel’sche Spiele und Beschäftigungen getrieben und für die ältere weibliche Dorfjugend eine Strick- und Nähschule eröffnet. Im J. 1851 folgte sie einem Rufe nach Schweinfurt, wo sie eine Mädchenschule nach Fröbel’schen Grundsätzen einrichten sollte, doch veranlaßten sie die Schwierigkeiten, die sie hier fand, bald darauf eine Stelle an der Erziehungsanstalt des Dr. Georgens in Baden-Baden anzunehmen, wo sie bis 1853 blieb.
Schrader: (Johanne Juliane) Henriette Sch., geb. Breymann, hervorragende Fördrerin der Kindererziehung und Frauenbildung, stammte von Vater- und Mutterseite aus einer Pastorenfamilie und wurde am 14. September 1827 als Tochter des Pastors Ferdinand Breymann zu Mahlum im braunschweigischen Amte Lutter a. B. geboren; ihre Mutter Luise war die Tochter des Superintendenten und Consistorialassessors Joh. Wilh. Friedr. Hoffmann in Nette bei Bokenem. Als älteste Tochter in einem kinderreichen, ernstgerichteten, aberInzwischen war der Vater im Herbste 1851 von Mahlum nach Watzum bei Schöppenstedt versetzt. Da sich hier die Möglichkeit bot, im Kreise und mit den Kräften ihrer eigenen Familie ihre Erziehungspläne zu verwirklichen, so kehrte sie, stets von starkem Heimweh erfüllt, um so lieber in die Heimath zurück. 1854 traf die erste Pensionärin in Watzum ein, 1856 wurde das Programm der neuen Erziehungsanstalt der Oeffentlichkeit vorgelegt. Hauptleiterin des Ganzen war und blieb Henriette, die reiche Kenntnisse und pädagogische Erfahrung mit großem Organisations- und Directionstalente vereinigte. Der Unterricht wurde in der Hauptsache von ihr, ihrem Vater und ihren Schwestern ertheilt, deren Anlagen und Neigungen sich bestens ergänzten und einträchtig zusammen wirkten, so daß die ganze Anstalt den Charakter einer großen Familie sich bewahrte. Hervorzuheben ist hier insbesondere die Mitwirkung einer jüngeren Schwester, Marie Breymann (geb. 10. März 1835), die in Keilhau erzogen bei ihrer angeborenen Gabe, im Verkehr mit kleinen Kindern den richtigen Ton zu treffen, es vorzüglich verstand, die theoretischen Anweisungen Henriettens praktisch zur Ausführung zu bringen. Sie leitete anfangs im nahen Schöppenstedt, dann auf dem Pfarrhofe zu Watzum einen [174] Kindergarten, und es war für die ältere Schwester ein herber Verlust, als sie diese treue verständnisvolle Mitarbeiterin schon am 3. September 1867 durch den Tod verlor. Das Ziel, das man so in gemeinsamer Arbeit erstrebte, war, denkende, sehende, handelnde, der Menschheit dienende Frauen zu erziehen, theils für die eigene Familie, was man als höchsten und nächsten Zweck für das weibliche Geschlecht stets im Auge behielt, theils für den helfenden Dienst in fremden Häusern. Frau v. Marenholtz-Bülow, die das Unternehmen mit regster Theilnahme verfolgte und wiederholt in Watzum weilte, nannte 1857 den Ort neben Hamburg und Dresden als einzige Stätte zur Ausbildung berufsmäßiger Erzieherinnen.
Von Seiten der maßgebenden Behörden, insbesondere des Consistorialraths Hirsche, erfreuten sich diese Bestrebungen wohlwollenden Interesses. Auch in der Ferne wurde man auf sie aufmerksam. 1858 wurde Henriette nach Belgien berufen, wo sie ein halbes Jahr im Auftrage der dortigen Regierung Instructionskurse über Kindergärten und Fröbel’sche Erziehung zu leiten hatte. In den Jahren 1862 und 1864 hat sie über diese Gegenstände auch in Genf Vorträge gehalten. Die Verbindungen, die sie hierdurch auswärts gewann, förderten die Anstalt daheim. Der Raum wurde hier bald zu enge; deshalb benutzte man im Frühjahr 1864 die günstige Gelegenheit ein großes Grundstück vor Wolfenbüttel zu erwerben, das nach der alten Bildungsstätte Neu-Watzum genannt und noch im Herbste des Jahres bezogen wurde. Neben den Schwestern hat dann namentlich der älteste Bruder Karl, der Theologie studirt und schon längere Zeit als Lehrer gewirkt hatte, dem erweiterten Unternehmen, das nun auch ein Seminar für Kindergärtnerinnen und Erzieherinnen umfaßte, seine Kraft gewidmet. Die Eltern blieben mit einer Tochter in Watzum, doch siedelte diese nach dem Tode des Vaters († am 13. November 1866) mit der Mutter ebenfalls nach Wolfenbüttel über, um hier an der Arbeit der Geschwister thätigen Antheil zu nehmen. Bald nahm die Anstalt solchen Aufschwung, daß man abermals an eine Erweiterung denken und einen umfangreichen Neubau aufführen mußte, der im Herbste 1868 in Benutzung genommen werden konnte.
Aber die Pläne Henriette’s, die bei allem Wechsel stets die Seele des ganzen Unternehmens geblieben war, gingen noch weiter. Nicht nur auswärts hatte sie als eifrige und verständnißvolle Vertreterin der Fröbel’schen Ideen zahlreiche Verbindungen und Beziehungen, die sie z. B. 1866 für ein Vierteljahr auch nach Schottland führten, sondern sie suchte diese Gedanken auch daheim in umfangreicher Weise zur Durchführung zu bringen. Sie hatte im Herbst 1865 in Wolfenbüttel auf Wunsch Vorträge über Frauenbildung, Kindergärten u. s. w. gehalten. [Es erschien damals auch im Druck von ihr ein Aufsatz „Zur Frauenfrage“, später: „Die Grundzüge der Ideen Friedr. Fröbel’s angewendet auf Kinderstube und Kindergärten“ (Braunschw. 1872). „Der Volkskindergarten“ (1885); „Der Monatsgegenstand im Pestalozzi-Fröbel-Hause“ (1888); „Häusliche Beschäftigung und Gartenarbeit als Erziehungsmittel“ (1893); im Verein mit ihrem Gatten: „Die hauswirthschaftl. Bildung der Mädchen in den ärmeren Classen“ (1888); ferner schrieb sie den Text zu Grotemeyer’s Bildermappe „Unsere Kinder“, Kindergeschichten in „Herzblättchens Zeitvertreib“ und pädagogische Aufsätze für die Zeitschrift „Erziehung der Gegenwart“.] Dank diesen Anregungen entstand jetzt ein „Verein für Erziehung“ zu Wolfenbüttel, der die von ihr vorgetragenen Ansichten und Wünsche in die That umzusetzen ernstlich bedacht war. Es wurde in leerstehenden Räumen des alten Schlosses zuerst (Mai 1866) ein Kindergarten, dann eine Fortbildungsclasse für erwachsene Mädchen errichtet. Daran schloß [175] sich ein Seminar für künftige Lehrerinnen, das in Neu-Watzum bereits begründet war und nun zur Vereinfachung der Organisation in das Schloß verlegt wurde; dessen Leitung übertrug man H. Breymann, dem Seminarinspector Dr. O. Sommer und Fräulein Anna Vorwerk, die durch H. Breymann für die Erziehungsfragen erst interessirt worden war, in ein enges Freundschaftsverhältnis zu ihr trat und jetzt ihre ungewöhnlichen Gaben mit regem Eifer in den Dienst dieser Sache stellte. Ende December 1868 erhielt die ganze Organisation die Genehmigung des Herzoglichen Consistoriums; es schien alles im besten Gange und fröhlicher Entwicklung. Doch bald machten sich im Vereine selbst zwei verschiedene Richtungen bemerkbar. Nach der einen, die H. Breymann vertrat, sollten in Verfolgung der Grundsätze Fröbel’s alle wichtigen Gebiete weiblicher Thätigkeit mit der Erziehung in Verbindung gebracht, eine Frauenschule der Zukunft geschaffen werden. Dieses Ziel hielt man auf der anderen Seite für unzweckmäßig oder unerreichbar; man wollte hier nur eine gute Mädchenschule von Kindergarten bis Lehrerinnenseminar ins Leben rufen, wie sie auch anderwärts bestand oder in Bildung begriffen war. Für diesen Plan entschied sich Anna Vorwerk, die besonders auch durch eine gründlich geschulte, geprüfte und erprobte Lehrkraft, Bertha Glöckner, für diese feste Umgrenzung und Beschränkung der Aufgaben gewonnen wurde. So bildete sich bald ein scharfer Gegensatz aus, der bei der angeborenen Herrschernatur der beiden Hauptvertreterinnen, die auf die Länge schwerlich nebeneinander hätten wirken können, sich natürlich auch persönlich stark zuspitzte. Es mußte zwischen den Beiden zur Entscheidung kommen, die dann am 25. April 1870 erfolgte. Da A. Vorwerk’s Vorschlag den vorliegenden Bedürfnissen der Stadt am besten zu genügen schien, und da sie zugleich das recht beträchtliche finanzielle Risiko selbst zu tragen willens und in der Lage war, so trat die Mehrheit des Erziehungsvereins auf ihre Seite. Sie wurde die Leiterin der in Entstehung begriffenen Schloßanstalten und hat demnächst das in sie gesetzte Vertrauen gewiß in vollem Maße gerechtfertigt. Für H. Breymann aber war diese Entscheidung, die viele ihrer Pläne im Keime knickte, eine große Enttäuschung, die auch sonst mit mancherlei Bitternissen verknüpft war. Aber sie ließ sich dadurch nicht niederdrücken und versuchte in der eigenen Anstalt, an der sie sofort die Ausbildungsclasse, die schon früher bestanden, wieder einrichtete, den geplanten Bildungsaufbau nach ihren Grundsätzen zur Ausführung zu bringen. Aber nur noch kurze Zeit sollte sie sich diesem Werke widmen. In den Streitigkeiten des Erziehungsvereins war ihr der damalige Eisenbahnassessor Karl Schrader näher getreten, der ihren pädagogischen Bestrebungen stets rege Theilnahme geschenkt hatte. Er hielt um ihre Hand an; am 30. April 1872 wurde in Neu-Watzum die Hochzeit gefeiert.
Da Schrader nach Verkauf der Braunschweigischen Eisenbahnen Director der Anhaltischen Bahn geworden war, so siedelte das Ehepaar nach Berlin über. Hier sollte sich Beiden bald ein neues weites Feld erfolgreicher Thätigkeit eröffnen. Dabei nahm der eine an den Bestrebungen des anderen stets den innigsten Antheil; nicht leicht haben zwei Eheleute in so enger geistiger Interessengemeinschaft gelebt wie sie. Auch Henriette besaß eine entschiedene politische Ueberzeugung, die sie gelegentlich mit Nachdruck vertrat, und theilte hier ganz die freisinnigen Anschauungen des Gatten, dessen parlamentarische Wirksamkeit sie mit theilnehmendem Eifer begleitete. Nicht minder betheiligte sich Schrader auf das lebhafteste an den pädagogischen Aufgaben, deren Lösung seine Gattin erstrebte. Schon bald nach ihrer Uebersiedelung nach Berlin sammelte diese, die die Kunst eine edle gehaltvolle Geselligkeit zu pflegen in seltenem Maße [176] besaß, einen Kreis gleichgesinnter und -strebender Männer und Frauen um sich, die vor allem mit der Behandlung von Erziehungsfragen sich beschäftigten. Es gehörte zu Henr. Schrader’s wichtigsten Grundsätzen, daß jede Erziehung von unten auf im zartesten Kindesalter zu beginnen habe, daß sie nicht äußerlich gehandhabt werden dürfe, sondern von innen heraus das organische Wachsen und Werden der Menschenseele fördern sollte. Sie verlangte von Anfang an Gewöhnung zum Selbstdenken, planmäßige Entwicklung zur Selbständigkeit und individuellen Eigenart. Daher legte sie zunächst das Hauptgewicht auf die Volkskindergärten, in denen sie das erste Wirkensfeld gedeihlicher Volkserziehung erblickte.
Es traf sich glücklich, daß um diese Zeit (1873) eine frühere Schülerin, Fräulein Agathe Toberentz, sie bat, sich eines verwaisten und in Verfall gerathenen Kindergartens anzunehmen, den einst Frau v. Marenholtz-Bülow begründet hatte. Sie ging auf diese Bitte ein, übernahm die obere Leitung des Kindergartens, der sogleich neu eingerichtet wurde, und reorganisirte den Verein, dem er angehört hatte; er wurde zu einem „Verein für Volkskindergarten und Volkserziehung“ umgestaltet. Denn aus diesem kleinen Anfange sollte mit der Zeit Großes erwachsen. Es schloß sich an den Kindergarten bald die Errichtung eines Seminars für Kindergärtnerinnen, die Anlage von zwei Elementarclassen, eines Kinderhortes, die Gründung von Haushaltungs- und Kochschule u. a., bis so allmählich nach einem festen Plane die ganze großartige Organisation erwuchs, die wir jetzt in dem „Pestalozzi-Fröbelhause“ vor uns sehen. Dieser Name war mit gutem Bedacht gewählt worden. Henr. Sch. betrachtete für ihre Thätigkeit neben Fröbel besonders Pestalozzi als ihren Führer. Sie erkannte in ihm, den man fast nur als Reformator der Schule feiert, den noch bedeutenderen Socialpädagogen und suchte seine Lehren sowohl in ihrem Unterrichte wie in den Einrichtungen des Pestalozzi-Fröbel-Hauses zur Geltung zu bringen. Dieses zerfällt in zwei große Abtheilungen. Die eine ist die für Erziehung und umfaßt Kindergarten, zwei Elementarclassen, Handarbeits- und Handfertigkeitsschule, Kinderhort, Seminar zur Ausbildung von Kinderpflegerinnen, Kindergärtnerinnen, Erzieherinnen und Leiterinnen von Volkserziehungsanstalten; die andere stellt eine Koch- und Haushaltungsschule dar und vereinigt alles das in sich, was das hauswirthschaftliche Leben betrifft; auch hiermit ist in gleicher Weise ein Seminar für Koch- und Haushaltungslehrerinnen verbunden. Die eigentliche geistige Schöpferin dieser vielseitigen Anstalt, bei der alle Theile aufs beste in einander greifen, ist Henriette Sch. gewesen. Sie besaß ein großartiges Organisationstalent, einen treffsicheren Blick für Menschen und Verhältnisse, der sie vor Allem dazu befähigte, stets die richtige Person auf den rechten Platz zu stellen, und sie wußte in ihrer tiefgreifenden umfassenden Wirksamkeit als Lehrerin bei ihren Schülerinnen besonders das zu erwecken, was allein Mühe und Arbeit geringe macht und namentlich beim Unterricht einen guten Erfolg verbürgt, Lust und Liebe zur Sache. Sie übte auf die jungen Gemüther einen gewaltigen, oft bestimmenden Einfluß aus und übertrug auf sie unwillkürlich den Idealismus, der sie selbst erfüllte und auf dem Grunde einer warmen, wenn auch ganz undogmatischen Religiosität beruhte. Dabei suchte sie aber jeden Zwang zu vermeiden und den einzelnen Individualitäten volle Freiheit zu lassen, sich nach ihrer Eigenart zu entfalten. Sie war daher auch eine Gegnerin des stets weiter sich ausdehnenden Prüfungswesens, da dieses nur zu leicht auf einen oberflächlichen geschäftsmäßigen Drill nach fester Schablone hinführt, für Bethätigung einer Eigenart aber den Lehrenden wie den Lernenden so gut wie gar keinen Spielraum übrig läßt. Auch erschien [177] ihr jede Arbeit, ob wissenschaftlicher oder praktischer Art, wenn sie nur ehrlich und ordentlich verrichtet wird, völlig gleichwerthig zu sein. So suchte sie einer jeden Persönlichkeit den Weg zu öffnen, auf den Anlagen und Neigungen hinwiesen; das erhöhte die Arbeitskraft und -freudigkeit, weckte die Selbständigkeit und bewirkte – ein Segen für die Zukunft –, daß auch bei ihrem Ausscheiden das ganze große Getriebe in tadelloser Ordnung fortging. Aber auch außerhalb der Anstalt verstand sie es auf das Beste, für die Sache, die ihr selbst so warm am Herzen lag, Andere zu begeistern und zu beträchtlichen Opfern zu bewegen. So entstand für das „Pestalozzi-Fröbelhaus“ durch die großartige Freigebigkeit der Frau Bauräthin Wentzel-Heckmann an der Barbarossastraße zu Berlin-Schöneberg ein neues stattliches Heim, das 1896 im Bau begonnen zwei Jahre darauf in Benutzung genommen werden konnte. Das ganze Unternehmen war dadurch zu einem glänzenden Abschlusse gebracht. Eine wesentliche Unterstützung war es dabei für sie auch gewesen, daß dieselben Männer ihr von Anfang bis Ende in dem Vereine treu zur Seite gestanden hatten, als Vorsitzender der Wirkliche Geheimrath Reichardt, als Schriftführer ihr Gatte.
Aber es war nicht nur ein pädagogisches Interesse, das sie bei diesem Unternehmen im Auge hatte, sondern zugleich in hervorragendem Maße auch ein sociales. Sie wollte dadurch volkserzieherisch wirken, zahlreiche Kräfte für die sociale Hülfsarbeit gewinnen. Ihr Endzweck war die Hebung des Volkes, die sie nicht von außen, sondern von innen her durch die Stärkung der eigenen Kraft, durch die Erziehung erstrebte. Sie wollte nicht schwächliche Mildthätigkeit üben, sondern so viel Personen wie möglich auf die eigenen Füße stellen. Deshalb sollte die Frau auf den Beruf im eigenen Hause vorbereitet werden. Dieses Ziel suchte sie in ihrer Anstalt vornehmlich dadurch zu erreichen, daß sie alle Einrichtungen nach Möglichkeit dem häuslichen Leben anzunähern suchte. So strebte sie jede Kasernirung der Zöglinge nach Kräften zu vermeiden, den Sinn für das Familienleben aber, den sie selbst, obwohl ihre Ehe kinderlos war, vom Vaterhause und später vom eigenen Heim her mit besonderer Lebhaftigkeit empfand, auch in der Jugend zu wecken und zu pflegen. Dem entspricht das Motto für ihre Schülerinnen: Uebet geistige Mütterlichkeit. So suchte sie in ihrer Weise auch für die Lösung der Frauenfrage zu wirken, nicht durch lärmende Agitation, die trotz der Leidenschaftlichkeit ihrer Natur und trotz der Entschiedenheit, mit der sie frank und frei für ihre Ansichten eintrat, ihrem äußerlich gemessenen, vornehmen Wesen innerlich zuwider war, sondern durch ruhige stetige Arbeit, sowohl bei den von ihr selbst ins Leben gerufenen Unternehmungen, als auch zur Unterstützung anderer verwandter Bestrebungen. Wohl wollte sie die Hindernisse beseitigen, die der Freiheit der Bildung und des beruflichen Wirkens der Frauenwelt im Wege standen, aber sie wollte deren psychische Eigenart in keiner Weise schädigen oder tilgen, da sie gerade in ihrer sorgsamen Entwicklung und Bildung eine wichtige Culturaufgabe erblickte.
Von vielen Seiten hat die erfolgreiche Thätigkeit Henr. Schrader’s, die bald für manche Anstalten an anderen Orten vorbildlich wurde, die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in England und Amerika, von wo aus das Pestalozzi-Fröbelhaus, dessen Einrichtungen man kennen lernen wollte, häufig besucht wurde. Nicht leicht aber wurde von einer anderen Seite den ganzen Bestrebungen dieser Frau größeres Verständniß entgegengebracht als von der Kronprinzessin Victoria, der späteren Kaiserin Friedrich. Suchte doch diese, erfüllt von dem eifrigen Bemühen zur Lösung [178] der socialen Frage nach Kräften beizutragen, in derselben Richtung und in dem gleichen Geiste wie sie zu wirken, und zwar auch unbeeinflußt von allen confessionellen Gesichtspunkten und nationalen Vorurtheilen im Geiste freier und feiner Menschlichkeit. Sammelte die Fürstin gelegentlich alle die Frauen um sich, die an der Spitze der Vereine mit diesen und ähnlichen Zielen standen, so ist es leicht erklärlich, daß sie zu H. Sch. bald in ein näheres Verhältniß trat, da diese in ihren Lebensanschauungen und -ansichten im wesentlichen mit ihr übereinstimmte, ihr im ruhigen Bewußtsein eigenen Werthes unbefangen gegenübertrat und frei von allen höfischen Rücksichten stets ihre wahre Ueberzeugung offen zum Ausdruck brachte. So wurde sie die Beratherin der Kronprinzessin in allen socialen und pädagogischen Angelegenheiten, die ihr nahe traten; gemeinschaftlich wurden mancherlei Pläne erwogen, die sie als Kaiserin zur Ausführung zu bringen gedachte. Oft betheiligte sich auch der Kronprinz an solchen Besprechungen, zu denen dann auch Herr Schrader hinzugezogen wurde. Wie eng diese Beziehungen sich mit der Zeit gestalteten, zeigt die Thatsache, daß Henr. Sch. auf besonderen Wunsch der Kaiserin bei ihr war, als man den Kaiser Friedrich am 18. Juni 1888 zu Grabe trug. Die Freundschaft zwischen beiden Frauen hat bis zum Tode gedauert; sie sind, so oft die Kaiserin in Berlin war, in regem persönlichem Verkehre und sonst in eifrigem Briefwechsel geblieben.
Nach Fertigstellung des neuen Gebäudes des Pestalozzi-Fröbelhauses konnte H. Sch. ihr Lebenswerk für beendet, ihre Schöpfung für wohl gesichert halten. Ihre Lebenskräfte hatten in der letzten Zeit infolge eines Nierenleidens schon merklich nachgelassen, wenn auch der Geist stets lebendig blieb und der feste Wille viele Schwächen zu überwinden wußte; noch in ihrer Wohnung hat sie, so lange es irgend ging, ihren Schülerinnen Unterricht ertheilt. Am 25. August 1899 aber machte der Tod ihrem rastlosen Leben zu Schlachtensee bei Berlin ein Ende; neben ihren Lieben daheim wurde sie auf dem alten Friedhofe der Trinitatiskirche in Wolfenbüttel am 29. August 1899 bestattet.
- Vgl. Arnold Breymann, Festschrift zum 50jähr. Jubiläum des Breymann’schen Instituts (Wolfenb. 1906). – Helene Lange in der „Nation“ Nr. 49 vom 2. Sept. 1869, S. 689 f. – Verschiedene Programme u. s. w. des Pestalozzi-Fröbelhauses. – Nachrichten aus der Familie.