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Artikel „Schaaffhausen, Hermann“ von Johannes Ranke in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 35 (1893), S. 748–751, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Schaaffhausen,_Hermann&oldid=- (Version vom 21. November 2024, 15:23 Uhr UTC)
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Schaaffhausen *): Hermann S., ordentlicher Honorarprofessor der medicinischen Facultät in Bonn, Geheimer Medicinalrath, Physiologe, vergleichender Anatom und Anthropologe und als solcher einer der berühmtesten Mitbegründer der modernen Anthropologie, wurde geboren am 16. Juli 1816 zu Coblenz und starb am 26. Januar 1893 im 77. Lebensjahre mitten aus frischester Thätigkeit heraus ganz unerwartet an einer durch Myocarditis verursachten Herzlähmung. Vom J. 1834 an hatte er an der Bonner Hochschule die medicinischen Studien begonnen und schon damals erwachte sein Interesse für Anthropologie, angeregt durch die Vorlesungen, welche der bekannte interne Kliniker Nasse, einer der letzten Anhänger der älteren naturphilosophischen Richtung, über Anthropologie im Anschluß an Blumenbach zu halten pflegte, neben Ennemoser, dem eigentlichen Vertreter des Faches. Zur Vollendung seiner Studien bezog S. im J. 1837 die Universität Berlin, wo er 1839 den medicinischen Doctorgrad erwarb und 1840 das medicinische Staatsexamen bestand. In Berlin hat namentlich der damals in voller Jugendkraft dort lehrende berühmteste Physiologe Deutschlands, Johannes Müller, mit welchem S. landsmannschaftliche Beziehungen, beide waren in Coblenz geboren, verbanden, die stärkste Einwirkung ausgeübt. S. entschloß sich infolge davon selbst zur akademischen Laufbahn als Physiologe. Seine Doctor-Dissertation behandelte daher schon ein physiologisches [749] Thema: „De vitae viribus“ und unter den nahezu die Zahl 400 erreichenden Einzelpublicationen finden sich auch aus den späteren Jahren eine größere Anzahl (32) zum Theil noch heute werthvoller physiologischer Aufsätze und Abhandlungen. Im J. 1844 habilitirte er sich an der Bonner Universität mit einer Rede: „Ueber die Fortschritte der Naturwissenschaften insbesondere der Physiologie“.

Schon vom J. 1845 an las S. über Anthropologie und hat das ununterbrochen fortgesetzt bis in das Wintersemester 1892/93 mit großem immer steigenden Beifall von Seite seiner Zuhörer, die sich aus allen Facultäten um den bewunderten Lehrer drängten. Außerdem las er im Beginn seiner akademischen Thätigkeit über specielle Physiologie, allgemeine Pathologie und mikroscopische Anatomie, die gleichen Lehrgegenstände, welche er in Berlin bei Johannes Müller gehört hatte. Eine lange Reihe von Jahren las er dann über Encyklopädie der Medicin, gerichtliche Medicin, allgemeine und vergleichende Physiologie. Den größten Erfolg hatten aber von Anfang an seine anthropologischen Vorlesungen, zu welchen er seit 1870, nach Semestern abwechselnd auch Urgeschichte des Menschen las, beide Vorlesungen, die letztere sogar noch mehr wie die ersten, gehörten bis zu seinem Tod zu den bestbesuchten Collegien der Bonner Universität. Diesen Lehrerfolg verdankte S., abgesehen von dem in den weitesten Kreisen seit der Mitte des Jahrhunderts neu erwachten Interesse an den anthropologischen und urgeschichtlichen Problemen, seiner hohen Begabung als Redner. Er war ein geborener Lehrer, sein angeborenes Rednertalent durch unablässige Uebung geschult, seine eigene warme Begeisterung für den Gegenstand, den er von den verschiedensten Seiten der Forschung und des menschlichen Lebens beleuchtete, wirkte hinreißend auf seine Zuhörer ein, von denen Viele ihm Anregungen fürs Leben verdanken und innige Anhänglichkeit bewahren. Die Vielseitigkeit seines Charakters und seiner Kenntnisse, welche in liebenswürdiger Weise bei allen seinen Vorträgen, wie im persönlichen Umgang sich geltend machten, gaben diesen einen ganz eigenartigen Reiz; er verstand es, seine ganze Person, seine volle Ueberzeugung in seinen Reden zum Ausdruck zu bringen, man mußte den Redner lieb haben, auch wenn man anderer Anschauung war als er.

S. hat sich um die Anthropologie als Lehrer das hohe Verdienst erworben, daß er in einer Zeit, in welcher nach dem Tode Blumenbach’s an allen deutschen Hochschulen fast ohne Ausnahme die wissenschaftliche Anthropologie als Lehrgegenstand verschwand, das Interesse an ihr aufrecht zu halten verstanden hat, über jene für die Anthropologie trübe Periode hinüber bis, mit der Entdeckung des Diluvialmenschen, des Gorilla, der Pfahlbauten und mit dem Aufkommen der auf die Darwin’schen Schriften zunächst basirten modernen Naturphilosophie, auch für die Anthropologie wieder bessere Tage heraufkamen. S. hat sich diesen neuen Entdeckungen und Anschauungen mit wahrer Begeisterung angeschlossen. Von Haus aus philosophischen, ästhetischen und historischen Studien mit besonderer Neigung zugewendet, war er trotz der auf den Einfluß Johannes Müller’s zurückführenden exacten naturwissenschaftlichen Schulung, im Grunde immer Naturphilosoph gewesen und ist es geblieben. Schon seine oben erwähnte Doctor-Dissertation sowie seine Habilitationsrede athmen diesen Geist. So sehen wir ihn den unter dem überwältigenden Einfluß Darwin’s erstehenden Beginn einer neuen naturphilosophischen Epoche mit Freuden begrüßen. Er stellte seine ganze Natur- und Weltanschauung voll und ganz auf den Boden der neuerstandenen Entwicklungslehre, die ihm, in dem Sinne in welchem das ja einmal auch Rütimeyer von sich sagte, ein Glaubensbekenntniß geworden war, woran er die wissenschaftlichen Fragen und Ergebnisse zu beurtheilen und zu [750] messen pflegte. Darin lag die Stärke seiner Wirkung, aber auf der anderen Seite auch eine Schwäche, ein gewisses Zukurzkommen strenger Objectivität der Betrachtung, eine gewisse Neigung, dem, was in das System paßte, schon darum eine größere Wahrscheinlichkeit beizulegen.

Schaaffhausen’s Lehrthätigkeit beschränkte sich nicht nur auf die akademischen Vorlesungen; nicht weniger hat er als Redner bei Congressen und allgemeinen, sowol nationalen als internationalen Versammlungen gewirkt, wobei ihm seine auf längeren Studienreisen nach Paris, London und Italien ausgebildeten Sprachkenntnisse in hohem Maße zu statten kamen. Er war Mitgründer und mehrfach I. Vorsitzender der deutschen anthropologischen Gesellschaft, Mitglied und Ehrenmitglied einer großen Anzahl in- und ausländischer anthropologischer, urgeschichtlicher und Alterthumsvereine, an deren Arbeiten er sich mit lebhaftem unermüdlichem Interesse praktisch betheiligte; er war Präsident von mehreren rheinischen wissenschaftlichen Vereinen, darunter zehn Jahre lang der Vereine von Alterthumsfreunden der Rheinlande. In den Gesellschaftsschriften dieser Vereine, namentlich auch im Archiv für Anthropologie, zu dessen Gründern und ersten Mitarbeitern er gehört, sind die meisten seiner Publicationen niedergelegt. Die wichtigsten hat er selbst im Jahre 1885 in einem Octavband von 677 Seiten bei Marcus in Bonn unter dem Titel „Anthropologische Studien“ erscheinen lassen, worin seine wissenschaftliche Wirksamkeit in allen ihren Hauptzügen zur Darstellung kommt. Die darin gesammelten 28 Abhandlungen und Reden (mit der Dissertation und der Habilitationsrede beginnend) behandeln, wie er selbst in der Vorrede bemerkt, alle wichtigen Fragen der Anthropologie, auch solche, die heute noch die Forscher beschäftigen, haben nach dem gegenwärtigen Stand unseres Wissens ihre Besprechung und Beantwortung gefunden. Unter seinen in diesen gesammelten Abhandlungen nicht enthaltenen Publicationen steht obenan die seit 1878 im Archiv für Anthropologie begonnene Veröffentlichung der Kataloge der „Anthropologischen Sammlungen Deutschlands, ein Verzeichniß des in Deutschland vorhandenen anthropologischen Materials“, worin er durch unausgesetzte Anregung und Selbstarbeit einen Reichthum von Messungsergebnissen zusammengebracht hat, welche nun als Forschungsgrundlage für jeden Anthropologen bereit liegen und unentbehrlich sind.

Wie schon oben erwähnt, beträgt die Anzahl seiner Einzelpublicationen nahezu 400 (361), davon beziehen sich 278 auf Anthropologie im weitesten Umfang des Wortes einschließlich Entwickelungslehre, Zoologie des Diluviums und der Anthropoiden, Ethnologie u. a.; 32 sind vorwiegend biologischen und physiologischen Inhalts; 7 behandeln Fragen der Philosophie und Psychologie, 27 griechische und namentlich römische Archäologie, letztere vorzüglich nach rheinischen Funden. Die noch übrig bleibenden 17 Abhandlungen beschäftigen sich mit allgemein-archäologischen Fragen, darunter 6 speciell mit kirchlichen Alterthümern – ein Beweis der ungewöhnlichen Vielseitigkeit Schaaffhausen’s, die er bis in sein hohes Alter durch Studienreisen fast in alle Länder Europas zu vermehren suchte.

Seine vielseitigen ästhetischen Neigungen – er war Dichter, Musiker, vortrefflicher Zeichner und Aquarellist, Naturfreund und Gartenkünstler –, sein offenes, liebenswürdiges, selbstloses Wesen haben S. auch als Menschen zahlreiche, innige Freunde gewonnen, und nicht vergessen dürfen wir, hervorzuheben, daß er es verstanden hat, Wissen und Glauben in seiner Lebensauffassung zu versöhnen; er, der fortgeschrittene Darwinianer, lebte und starb als ein frommer, katholischer Christ in vollem Frieden mit seiner Kirche, dreißig Jahre lang hat er das Präsidium des Kirchenvorstandes seiner Bonner Pfarrgemeinde geführt. [751] So verstehen wir die allgemeine Theilnahme der verschiedensten Kreise an seinem so plötzlich erfolgten, unerwarteten Tode – auch unser Kaiser, welcher in seiner Bonner Studentenzeit öfter in Schaaffhausen’s Hause verkehrt hatte, ließ officiell einen Palmenzweig auf den Sarg legen.

S. hat als Lehrer und Forscher aber auch durch seine Persönlichkeit für die moderne Anthropologie in sehr wichtiger Weise gewirkt, sein Name wird in ihren Annalen unvergessen sein, und Deutschland wird noch lange den Verlust eines seiner wenigen akademischen Lehrer der Anthropologie betrauern.


[748] *) Zu Bd. XXX, S. 479.