ADB:Samson von Himmelstjerna, Reinhold

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Artikel „Samson von Himmelstjerna, Reinhold Johann Ludwig“ von W. v. Bock. in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 30 (1890), S. 317–324, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Samson_von_Himmelstjerna,_Reinhold&oldid=- (Version vom 23. Dezember 2024, 01:43 Uhr UTC)
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Samson von Himmelstjerna: (Reinhold Johann Ludwig) geboren 1778, † 1858 auf seinem Erbgute Urbs in Livland, gehört zu den hervorragendsten Charakteren des öffentlichen Lebens dieser seit 1710 resp. 1721 dem russischen Reiche angegliederten Provinz. Seine überaus stetige, einflußreiche und auf dem Höhepunkte seiner männlichen Kraft maßgebende Thätigkeit, hauptsächlich in richterlichen und ständisch-politischen Aemtern des reich ausgebildeten Selbstverwaltungssystems seiner Heimath, war so allgemein anerkannt, daß auf einem livländischen Landtage des Jahres 1842 selbst sein bedeutendster politischer Nebenbuhler, Baron Hamilkar v. Fölkersahm, ohne Widerspruch zu finden, von ihm sagen konnte: „Livland hat vierzig Jahre lang von ihm gelebt.“ – Der Erste seines Geschlechts, aus der niedersächsischen Stadt Geldern gebürtig, trat 1568 in den Kriegsdienst der Stadt Riga, die damals, seit dem Zerfall des altlivländischen Staatenbundes (1562) und bis auch sie (1582) der polnischen Herrschaft vertragsmäßig sich unterwarf, der sog. „rig’schen Freiheit“ genoß. Den ersten ländlichen Großgrundbesitz, wie auch den Adel sammt dem Beinamen „Himmelstjerna“ erlangte dessen Nachkommenschaft erst, nachdem Livland aus polnischer unter schwedische Herrschaft gerathen war. Seitdem ward die Familie der livländischen Ritterschaft einverleibt, d. h. demjenigen Stande, dessen bedeutsamstes „Privilegium“ darin besteht, die Eigenrechtlichkeit der ganzen Provinz den seit 1562 undeutschen Beherrschern derselben gegenüber zu repräsentiren, und verfassungsmäßig berechtigt zu sein, in deren allgemeinen Angelegenheiten von der resp. Staatsregierung gehört werden zu sollen, bevor über die Provinz gesetzgeberisch verfügt würde. – Eine sorgfältige Erziehung und Schulbildung erhielt der hochbegabte Knabe und Jüngling bis in sein 18. Jahr ausschließlich im väterlichen Hause auf dem Lande, unter der Oberleitung seines hochgebildeten und edelgesinnten Vaters, des nachmaligen livländischen Landmarschalls Karl Gustav S. und seiner gottesfürchtigen Mutter, geb. Taube v. d. Issen, unter Mitwirkung eines tüchtigen deutschen Hauslehrers, Mag. Fähse, dem er zeitlebens ein liebendes Andenken widmete. Den Achtzehnjährigen sandte der Vater 1796 auf die Universität Leipzig, woselbst er zwei Jahre lang juristischen und philosophischen Studien oblag: letzteren besonders unter dem Einflusse des geist- und phantasievollen Eklektikers, Professor Karl Heinrich Heydenreich. Der Befehl Kaiser Paul’s an alle im Auslande studirende russische Unterthanen, heimzukehren, hatte doppelte Wirkung: für S., seine akademischen Studien schon 1798 abzubrechen und sofort, für die nächsten vier Jahre (1798–1802) zunächst als „Auscultant“ bei der Kanzlei der livländischen Ritterschaft in den praktischen Dienst der letztern, und ebendamit seiner Heimath Livland, zu treten. Den drei Provinzen aber gereichte jener wenig akademische Machtspruch zum Heile. Denn die schon während der ganzen russischen Herrschaft von den resp. baltischen Ritterschaften von Zeit zu Zeit, seit 1792 aber mit besonderer Lebhaftigkeit aufgewendeten Bemühungen, die russische Regierung zur Erfüllung ihrer capitulationsmäßig (1710) eingegangenen Verpflichtung der Wiederherstellung der deutschen Landesuniversität zu vermögen, sollten nun endlich Erfolg haben. Der Kaiser Paul, da er den Ostseeprovinzialen das Studium an ausländischen Universitäten unmöglich gemacht hatte, gestattete den vereinigten Ritterschaften, für ihre Kosten die heimische Universität Dorpat zu errichten nicht blos, sondern auch deren administrative und pädagogische Oberleitung zu übernehmen. So ward sie denn, vom Kaiser mit ansehnlichem Grundbesitz dotirt, im April 1802 eröffnet, in demselben Jahre, da S. in den Dienst der Ritterschaft förmlich, d. h. als Ritterschaftsnotair, [318] eintrat, um ihn erst 1855 (77 jährig) durch Niederlegung seines letzten Amtes als ritterschaftlich gewählter Präsident des livländischen Hofgerichts, zu verlassen. – Gegen das Ende seiner unvergleichlichen Laufbahn, und zwar aus Anlaß seines mit dem 50jährigen Jubiläum der Universität Dorpat zusammenfallenden ritterschaftlichen Dienstjubiläums (1802–1852) nahm S. Gelegenheit, einem Freunde gegenüber auszusprechen, schon in jungen Jahren hätte er sich zwei Hauptziele seines öffentlichen Wirkens gesetzt: Verbesserung der wirthschaftlichen und Rechtslage wie auch geistige und sittliche Veredelung des vornehmlich dem ehstnischen und lettischen Volke angehörigen livländischen Bauernstandes, und, nächstdem codificatorische Feststellung der Rechte und Gesetze der drei Provinzen überhaupt. Schon die nachfolgende kurze Skizze wird zeigen, daß ihm viel mehr gelingen sollte. – Für Samson’s beginnende landespolitische Thätigkeit ließ sich kaum eine geeignetere Vorschule denken, als jene vierjährige Auscultantenschaft und das unmittelbar daran sich schließende fünfjährige Notariat (1802–1807) in der Ritterschaftskanzlei. Denn hier war es, wo sein rastloser, spürkräftiger, stets auf große praktisch politische Ziele gerichteter Fleiß, neben gewissenhafter und eleganter Erledigung der laufenden Berufsarbeit, vor täglich zugänglichem reichem Ritterschaftsarchive, ihm Gelegenheit gab, in der politischen Geschichte und geschichtlichen Politik Livlands, zumal als sonderrechtlich privilegirter Provinz dreier undeutscher Reiche (Polens, Schwedens, endlich Rußlands) eine Bewandertheit und Gewandtheit sich anzueignen, wie kaum Jemand vor und nach ihm: Johann Reinhold Patkul vielleicht ausgenommen. Zugleich fügte sich’s, daß, gerade während jener neun Jahre, die baltischen Provinzen, nach Wiederherstellung ihrer von Katharina II. (1783–96) beseitigt gewesenen eigenrechtlichen Verfassungen durch Paul I. zu regem und fruchtbarem Schaffensdrange begeistert, mit für sie durchaus großen politischen und socialen Aufgaben befaßt waren: Wiederherstellung der Landesuniversität, Organisation des Bodencredites in autonom geschaffenen Creditvereinen; autonome Stiftung einer noch jetzt blühenden, stets vielseitig anregenden „freien ökonomischen und gemeinnützigen Societät“, endlich Fundamentirung einer agrarischen und bäuerlichen Gesetzgebung, die einerseits organische Fortbildung älterer Reformen war, andererseits den späteren reicheren Ausgestaltungen als Ausgangspunkt, Vorbild und Richtschnur gedient hat. Und dies alles unter persönlich wohlwollender Anleitung bewährter und gereifter älterer Praktiker, wie namentlich Friedrich Wilhelm v. Sivers, die es ebenso sehr verstanden, ihre den Bedürfnissen des Landes entsprechenden Gedanken der Sanction durch die höchste gesetzgebende Instanz, den Monarchen, entgegenzuführen, wie, den unsachlichen Einreden und Ränken mißgünstiger russischer Mittelinstanzen wirksam zu begegnen. – So z. B. hatte, gleich zu Anfang seines Notariats, 1803, S. beiderlei Bethätigungen livländischer Landespolitik seine gewandte Feder zu leihen; in positiver Richtung durch mustergültige Recessirung der denkwürdigen agrarischen Beschlüsse des Landtages dieses Jahres, aus denen das bezügliche Gesetz von 1804 hervorging; in negativer durch Formulirung eines ritterschaftlichen non possumus in Sachen der Landesuniversität. Diese nämlich hatte, auf Grundlage eines von den vereinigten Ritterschaften entworfenen, von den Reichsinstanzen nur nebensächlich modificirten und von Alexander I. bestätigten Statuts im April 1802 als ein von den Ritterschaften zu verwaltendes Institut zwar können eröffnet werden; doch war es schon gegen Ende desselben Jahres der Eifersucht eines beim Kaiser besonders einflußreichen ausländischen Professors gelungen, diesen zu bewegen, die Universität, ohne der Ritterschaft auch nur Kenntniß davon zu geben, in ein ihrer Leitung völlig entrücktes, des Grundbesitzes beraubtes und statt dessen auf Gelddotation gestelltes, von der Reichsbureaukratie abhängiges Institut zu verwandeln. Die livländische [319] Ritterschaft unterließ deßwegen die Einzahlung des nur für die selfgovernmentale Stiftung bewilligten Beitrages an die neu octroyirte akademische Verwaltungsbehörde, und als diese in büreaukratisch brüsker Form das Geld einforderte, war es S., der, auf diese Zumuthung, den Bescheid zu stylisiren hatte: „daß die hiesige Ritterschaft zu der Erfüllung dieses Ansuchens sich nicht verpflichtet halte, so lange sie durch den livländischen“ (sc. ständischen) „Kurator von der Nothwendigkeit dieses Beitrages nicht unterrichtet worden, weil ihr … eine Veränderung in der Geschäftsverwaltung des Kuratorii bis jetzt nicht officiell bekannt ist“ u. s. w. – Die codificatorischen Arbeiten Samson’s, welche schon 1818 in Riga begonnen hatten, fanden ihren Abschluß erst 1829–40 in St. Petersburg. Dort, und zwar in die bezügliche Abtheilung der eigenen Kanzlei des Kaisers berufen, vollendete S. in elfjähriger Arbeit die vorbereitende Redaction der drei ersten Theile (Behördenverfassung, Ständerecht und Privatrecht) des Provinzialgesetzbuchs für die Ostseeprovinzen, von denen jedoch nur die beiden ersten wesentlich auf Grund der Samson’schen Redaction vollendeten, von Nikolaus I. bestätigt, 1845 als Gesetzbücher publicirt wurden. Das baltische Privatrecht, viel später von einem andern hervorragenden baltischen Juristen, Dr. F. G. v. Bunge, umredigirt, erschien als Gesetz erst 1864, während die programmmäßigen zwei letzten Theile (Civil- und Criminal-Proceß, entworfen 1864–66 von der überwiegend aus ständischen Wahlen der vier baltischen Ritterschaften und der baltischen Städte hervorgegangenen sog. „Baltischen Central-Justizreform-Commission“), falls das jetzt dem gesammten Rechtsbestande der drei Ostseeprovinzen zugedachte, ja, in voller Ausführung begriffene wahrhaft nihilistische Zerstörungswerk zu ungestörter Durchführung gelangen sollte, wohl kaum das Licht der Welt erblicken dürften. – Neben jenen 22jährigen codificatorischen Arbeiten aber hatte S. noch manches Andere, kaum minder Denkwürdige zu bewältigen. – Bald nach dem Regierungsantritte des Kaisers Nikolaus galt es (1827), behufs Herbeiführung der kaiserlichen Bestätigung des livländischen Sonderrechts, insbesondere des die landespolitischen Competenzen der livländischen Ritterschaft umfassenden öffentlichen Rechts der Provinz, das ganze System desselben einer eingehend commentirenden Darlegung zu unterziehen. Mit dieser Arbeit ward von der Ritterschaft S. betraut, der inzwischen schon seit 20 Jahren aus dem Dienste ihrer Kanzlei in die richterliche und zugleich ständisch repräsentative Laufbahn übergetreten war: ersteres als Assessor des livländischen (lutherischen) Oberconsistorii, als Kirchspielsrichter, Landrichter, dann, seit 1824, als Vicepräsident des livländischen Hofgerichts. – Von tief einschneidender Bedeutung war insbesondere der langwierige und schwere Kampf, den S. in letztgedachter Stellung, kaum in dieselbe gelangt, gegen gewisse arge Mißbräuche unternommen hatte, die sich unter Connivenz mittlerer und hoher „kaiserlicher“ (d. h. bureaukratischer) Aufsichtsinstanzen in die Kanzlei-Gebahrung jenes höchsten provinciellen Gerichtshofes seit etwa 10 Jahren eingeschlichen hatten. Die Feindschaft des Wespennestes, in das fest zu greifen er den edlen Muth gehabt, war so heftig und einflußreich, daß S. seine Gesammtstellung längere Zeit hindurch ernstlich gefährdet glauben konnte; doch gelang ihm schließlich nicht nur die radicale Austilgung des nächsten Uebels, sondern auch die Unschädlichmachung erbitterter und mächtiger Feinde, die unter minder scharfblickenden und aufmerkenden Vorgesetzten versucht hatten, ihre schließlich sogar unter dem Schutze des damaligen Generalgouverneurs der drei Provinzen, Marquis Paolucci, straflos betriebene Ausbeutung des rechtsuchenden Publicums mit einigem dem Staatsabsolutismus schmeichelnden politisirenden Pseudo-Liberalismus zu verbrämen. Ein so vollständiger Sieg der guten und gerechten Sache freilich erfolgte erst 1843, nach 19jährigem zähem Ringen. Während desselben übrigens durfte sich S. stetig getragen fühlen von dem Vertrauen seiner Landsleute [320] und Standesgenossen in allen drei Provinzen nicht nur, sondern auch seines Monarchen. – Schon 1827 durch Wahl des livländischen Landtages zur höchsten provincialständischen Würde, eines der zwölf Landräthe, gelangt, trat er noch auf demselben Landtage energisch ein für die von der russischen Regierung mehrfach capitulationsmäßig zugesagte Errichtung eines deutsch verhandelnden und nach Provincialrecht richtenden Obertribunals für die baltischen Provinzen. War auch diese von der Ritterschaft einmüthig unterstützte Mahnung gleich vergeblich, wie so manche frühere und spätere, so erreichte S. damit gleichwohl, daß die Frage 13 Jahre lang anhängig blieb, ohne schließlich auf ein peremtorisches „Nein“ zu stoßen. Das Bewußtsein eines guten vertragsmäßig wohlerworbenen Rechtsanspruches der Baltiker auf eine Institution, ohne welche es in den Provinzen nie eine Justizreform geben wird, welche diesen Namen verdient, erhielt durch Samson’s Vorgehen neue Belebung. – Von besonderm Gewichte für Livland sollte der Umstand werden, daß, durch Wahl der livländischen Ritterschaft, S. während der 8 Jahre von 1843–51 mit seinem Amte als Landrath dasjenige des Präsidenten des livländischen Provincialconsistoriums vereinigte. Denn diese Doppelstellung erweiterte seine Competenz, gegen das schon seit 1839 indirect eingeleitete, 1845 aber offen hervortretende Bestreben der russischen Regierung, das ehstnische und lettische lutherische Landvolk Livlands in den vom weltlichen Arme schonungslos gehandhabten Bann der sog. „orthodoxen“ russischen Staatskirche zu locken und zu drängen, stetig und keineswegs ganz unwirksam zu reagiren. Die hochinteressanten Einzelheiten dieser Seite von Samson’s öffentlicher Thätigkeit können hier zwar nicht dargelegt werden; ein Wort jedoch, seine Geistesrichtung kennzeichnend, sei hier wiedergegeben, das er, im Vollbewußtsein einer regierungsseitig insidiösen Verquickung der kirchenpolitischen mit der agrarischen Frage, während seiner beide Fragen berührenden Delegation nach St. Petersburg im Frühjahr 1846 seinem dort geführten Tagebuche einverleibte: „Möchte nur das Landvolk in Livland, wenn für seine irdische Wohlfahrt gesorgt wird, auch selbst sein himmlisches Heil berathen. Von ihm selber nur kann die Entwirrung dessen hervorgehen, was es dermalen mit seinem Innern in heillose Zwietracht gebracht hat. Was helfen ihm alle Schätze der Erde, wenn es dem Frieden Gottes abwendig geworden ist.“ – Jetzt nur noch ein leider auch nur ganz kurzes Wort über Samson’s Antheil an den neueren und neuesten agrarischen resp. bäuerlichen, d. h. zunächst dem Letten- und Ehstenvolke Livlands geltenden und damit zugleich auch dem wohlverstandenen Deutschthum der drei Provinzen zu Gute kommenden Reformen! Mit der agrarischen und bäuerlichen Verfassung von 1804 war, ohne den klangvollen Namen „Aufhebung der Leibeigenschaft“ oder „Freilassung“ oder „Emancipation“, für Livland die Leibeigenschaft thatsächlich und in Gesetzesform aufgehoben. Agrarisch durch Einführung der Erbpacht für die bäuerlichen Landnutznießer, social durch Aufhebung jeglicher Befugniß willkürlicher Verfügung des Großgrundbesitzers über die Person bäuerlichen Standes, rechtlich und communal durch Klagerecht auch wider den Gutsherrn und überhaupt einen festen Instanzenzug, ferner durch die Anfänge geordneter Selbstverwaltung, war Livland mit jenem Gesetze, wenn auch dasselbe die Gutshörigkeit einstweilen noch bestehen ließ, den beiden Schwester-Provinzen weit voraus, und selbst die Freiheitsbeschlüsse der ehstländischen Ritterschaft von 1811 und 1816, der kurländischen von 1817, weil des soliden livländisch-agrarischen Fundaments von 1804 entbehrend, ändern an diesem Verhältnisse nichts. Dies hat S. selbst schon 1817 öffentlich ausgesprochen mit den Worten: „Wir können laut sagen: der Bauer heiße frei, da er es eigentlich schon ist“ – nämlich seit 1804. Es muß daher, zumal nach der ungemein gründlich-sachlichen Darstellung von A. Tobien (im Jahrgange 1880 der Balt. Monatsschrift), als durchaus [321] verfehlt erscheinen, den auf den Beschlüssen des livländischen Landtages von 1818 beruhenden Gesetzgebungsact von 1819, blos deßwegen, weil er die Gutshörigkeit aufhob und die Freizügigkeit innerhalb der Provinz herstellte, als „Aufhebung der Leibeigenschaft“ oder „Bauernfreilassung“ zu bezeichnen, obgleich diese falsche Bezeichnung wirklich landesüblich geworden ist. Diese Gesetzgebung, wie viel Gutes sie auch sonst unzweifelhaft enthält, ist übrigens längst insoweit als ein Mißgriff anerkannt, als sie an die Stelle des Erbpachtsystems eine, wie man heute sagt, nur zu „manchesterliche“ persönliche Freiheit des an keine Minimaldauer noch sonstige Schutzbedingung zu Gunsten des ökonomisch und social schwächern Theils gebundenen Landpachtcontractes setzte. – Diese Erkenntniß hatte S. selbst schon in den vierziger Jahren gewonnen und sprach sie wiederholt rückhaltlos aus. S. nämlich war – optima fide – ganz eigentlich „intellektueller Miturheber“ jenes schweren socialpolitischen Fehlers gewesen. Nicht nur hatte er jene pseudofreiheitlichen Grundprincipien des Gesetzes von 1819 auf dem bezüglichen Landtage von 1818 parlamentarisch vertreten, sondern ihm auch war die übrigens formell wohlgelungene Redaction des Gesetzbuches übertragen gewesen. Um so höher ist ihm als intellectuelles und sittliches Verdienst anzurechnen, daß er schon gleich im Beginne jener schweren Krisis der öffentlichen Zustände Livlands, d. h. vom Schlusse des Jahres 1841 an, kein Bedenken getragen hat, seinen Irrthum von 1818 offen zu bekennen und zur Heilung der demselben entsprungenen Schäden nach Kräften beizutragen. Aus dieser zunächst in der livländischen „Agrar- und Bauernverordnung von 1849“ ihren vorläufigen Abschluß findenden Epoche übrigens sei hier, soweit sich’s um Samson’s dauernd maßgebenden Einfluß auf diesen hochwichtigen Zweig des öffentlichen Rechtes Livlands handelt, nur zweierlei hervorgehoben. – Die russische Regierung hatte schon 1841 (beiläufig 2 Jahre nach Installirung eines zunächst fast gemeindelosen staatskirchlichen Bischofs in Riga, und während sie im Stillen die griechisch-„orthodoxe“ Invasion Livlands für 1845 vorbereitete) der livländischen Ritterschaft eine Reihe Vorschläge zur „Reform“ der bäuerlichen Zustände durch den baltischen Generalgouverneur übermitteln lassen. Der ritterschaftliche Ausschuß aber hatte demnächst ein ansehnliche Commission niedergesetzt, welche nicht nur diese Vorschläge prüfen, sondern auch eine selbständige Reformvorlage für den im Februar 1842 zusammentretenden Landtag ausarbeiten sollte. In diese Commission waren die hervorragendsten und bewährtesten Capacitäten der Ritterschaft gewählt worden, namentlich auch S., der damals in seinem 64. Lebensjahre stand. Für diese Commission nun, wo er den äußerlich nur bescheidenen Platz des „Schriftführers“ übernahm, hatte S. eine eingehende, das Ganze der agrarischen und bäuerlichen Frage Livlands umfassende, seither noch nie vollständig veröffentlichte Denkschrift ausgearbeitet, welche dann, ihrem Hauptinhalte nach, in die Commissionsvorlage für den Landtag überging. Jene zwei Hauptpunkte derselben betreffen zwei Hauptgegenstände, welche in den Regierungsvorschlägen lediglich durch völlige Ignorirung glänzten, erstlich: die religiös-sittliche und intellectuelle Bildung des Ehsten- und Lettenvolles, also – im weitesten Sinne – die Landvolksschule; sodann aber: die Organisation des Ueberganges der bäuerlichen Landpachtungen in freies bäuerliches Grundeigenthum auf rein facultativ privatrechtlichem Wege vermittelst Ausdehnung der seither nur dem Großgrundbesitzthum geltenden Competenzen des schon 1802 autonom gegründeten livländischen Creditvereins auch auf den schon seit 1804 rechtlich zulässigen bäuerlichen Kleingrundeigenthumserwerb. – Die esthnisch-lettische Volksschule war für Livland längst kein Novum mehr. Auf Grund von Landtagsbeschlüssen vom J. 1668 war sie schon nahezu ein halbes Jahrhundert vor Beginn der russischen Herrschaft über Livland in ein von der [322] Ritterschaft im Bunde mit der lutherischen Landesgeistlichkeit geleitetes System gebracht, dann 1765, und wiederum 1804, besonders aber 1819 in gleichem Sinne weiterentwickelt worden. S., wiewohl der geistige Autor des Gesetzes von 1819, war jetzt, 1841, der Erste, der erkannte, daß die Schule, sei sie auch durch die seitherigen schon 1839 erweiterten Organe fortzuleiten, einer geistigen und materiellen Kräftigung gerade jetzt dringend bedurfte. Und so darf wohl behauptet werden, daß, wenn heute, also in dem Augenblicke, da die russische Regierung sich anschickt, die seitherige, ohne ihr Verdienst treffliche livländische Landvolksschule zu einem russificatorischen Staatswerkzeuge zu entwürdigen, dieselbe ohne alle Staatsbeihülfe, auf rein selfgovernmentalem Wege, durch einhelliges Zusammenwirken der Ritterschaften, der lutherischen Landesgeistlichkeit und der lettischen resp. esthnischen Bauergemeinden, eine Tüchtigkeit erlangt hat, mit der sie dreist neben die besten Landvolksschulen Europas treten darf, S. derjenige gewesen ist, der dazu 1841 den ersten Impuls gegeben hat. – Nun aber die zweite, die agrarische Sache! Kaum war die Niedersetzung jener Commission bekannt geworden, als auch schon ein hochbegabter, aber in der Landespolitik noch gänzlich unerprobter junger Mann von 30 Jahren, der schon erwähnte Baron Hamilkar Fölkersahm, es unternahm, außerhalb derselben mit dem Einflusse Samson’s um die Palme zu ringen. Schon volle zwei Monate vor dem Zusammentritte der ritterschaftlichen Commission, deren Zusammensetzung doch alle Bürgschaften dafür bot, sie werde dem Landtage eine wahrhaft patriotische und wohldurchdachte, mithin zunächst vertrauensvoll abzuwartende Vorlage unterbreiten, schaarte der genannte Rival Samson’s um sich eine Anzahl Mitglieder der livländischen Ritterschaft, die meist den Kern und Keim der nachmals sog. „Fölkersahm’schen Partei“ bilden sollte. Der Februarlandtag 1842 sollte ihr erstes Versuchsfeld abgeben. Hier sei nur bemerkt, daß das Bestreben ihres Hauptes wesentlich darauf gerichtet war, die nur erst zu erwartende agrarische Vorlage der Commission, also das geistige Werk Samson’s, von vornherein zu beseitigen, und daß in dem Fölkersahm’schen Concurrenzprojecte jener von S. ganz concret entworfene Plan, dem bäuerlichen Pächter mit Hülfe des livländischen Creditvereins zu freiem Grundeigenthum zu verhelfen, keinen Raum fand. Der erste Anlauf Fölkersahm’s übrigens, in der livländischen Ritterschaft die führende Stellung zu erlangen, fiel so wenig nach Wunsch aus, daß er, tief entmuthigt, schon 1843 ins Ausland verreiste, um erst im Spätsommer 1845 heimzukehren, nachdem die Regierung, vertreten durch den neuen Generalgouverneur Golowin, ihre offene Campagne gegen das Lutherthum, unter reichlicher Beimischung communistisch-agrarischen Agitationsstoffes, ein halbes Jahr vorher eröffnet hatte. Im Auslande nun hatte Baron Fölkersahm zufällig das königlich sächsische Institut der „Rentenbank“ kennen gelernt. Hierauf nun gründete er den Plan, für Livland ein ähnliches Institut durchzusetzen, um dasselbe, die nachmals sog. „Bauerrentenbank“, demnächst dem neuen bäuerlichen Gesetzbuche einzuverleiben und, wohlgemerkt, unter Perhorrescirung des als den bäuerlichen Grundeigenthumserwerb vermittelndes Organ von S. schon 4 Jahre früher in’s Auge gefaßten und der Ritterschaft empfohlenen schon seit 1802 für den Großgrundbesitzcredit bestbewährten livländischen Creditvereins, zur hochprivilegirten bäuerlichen Bodencreditbank zu machen. Dem Schreiber dieses wenigstens ist es völlig unbekannt, worauf „Ein Votum in Angelegenheit der Bodencreditreform in Livland“ (Separatabdruck aus d. XVI. Bd. 4. Heft der „Livl. Jahrbücher der Landwirthschaft“, Dorpat, Druck von E. J. Karow, Universit.-Buchhändler, 1864, S. 10) den Satz gründen konnte: „ohne die Sprödigkeit des Creditvereins wäre die Gründung der Bauercreditbank sicher unterblieben“. Ihm ist, und zwar aus erster Hand, nur das Umgekehrte bekannt: ohne die Sprödigkeit des Gründers [323] der „Bauerrentenbank“ wäre die Activirung des Creditvereins für den Bauerlandverkauf sicher nicht 22 Jahre lang unterblieben! – Kurzum: es gelang Fölkersahm in 4jährigem Ringen (1845–48), den Samson’schen Weg zum gemeinsamen Ziele (Verwandlung des bäuerlichen Pachtbesitzes in freies Grundeigenthum durch facultativ privatrechtliche Einzeltransactionen) verlegt, dagegen den seinigen gesetzgeberisch (in der livländischen „Agrar- und Bauernverordnung von 1849“) eröffnet zu sehen. Die „Bauerrentenbank“ trat nun zwar in einem dem Mechanismus des Creditvereins nachconstruirten sehr kostspieligen Beamtenapparate, mit ihm selbst als Oberdirector bis zu seinem 1856 erfolgten Tode an der Spitze, in’s „Leben“; ihr verhießener Effect aber blieb aus. Das minime Vertrauen zu dem neuen Institute, der minime Gebrauch, den das dabei interessirte Publicum von demselben machte, diente nur zu greller Beleuchtung des leidigen öffentlichen Geheimnisses, daß die von der Ritterschaft hoch salarirten „Bauerrentenbank“-Aemter nahezu Sinecuren waren und blieben. – Dieser Zustand völliger socialpolitischer und volkswirthschaftlicher Unfruchtbarkeit des neuen Systems überlebte dessen Gründer noch um lange, bange 8 Jahre, bis endlich zwei scharfblickende und resolute livländische Patrioten, die keinerlei Interesse an der Verewigung des agrarischen Monopols der „Bauerrentenbank“ hatten, zunächst (gegen Ende 1863) indirect, auf privaten Abendversammlungen im Dorpater Locale der oben erwähnten „freien ökonomischen und gemeinnützigen Societät“, dann aber auch officiell auf der Generalversammlung des livländischen Creditvereins in Riga (im April 1864) den seit 1842 verschmähten Samson’schen Weg in erneute Erinnerung brachten. Auch verdient bemerkt zu werden, daß der Eine derselben ein Enkel R. J. L. Samson’s war: Hermann v. Samson, aus dessen Feder u. A. die in Dorpat 1883 erschienene hochinteressante und eminent lehrkräftige Schrift „Vom Lande“ stammt: eine Parallele zwischen ländlichen Rechts- und Culturzuständen Livlands und des – „nationalen“ – Rußlands. Der andere Patriot war der 1879 verstorbene viel und schwer verkannte Baron Gustav Nolcken, livländischer Landrath und, wiederholt, Landmarschall. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten. Schon am 31. Juli 1864 erschienen die „Regeln über den Kauf und Verkauf von Gesindesstellen“ (örtliche Bezeichnung für Bauernhöfe) „mit Hülfe des livländischen adeligen Creditvereins“. Dieser „Regeln“ gedenkt zwar auch A. Tobien im IV. Abschnitte seiner verdienstvollen „Beiträge zur Geschichte der livländischen Agrargesetzgebung“ (Balt. Monatsschrift 1882, Bd. XXIX S. 404 flg.). Doch war er zu wenig eingeweiht in die innere Geschichte des livländischen Parteiwesens von 1841–64, als daß er seine Darstellung auf etwas anderes hätte gründen können, als auf officielle Actenstücke und einiges vielleicht etwas zu einseitig suppeditirtes Privatmaterial. – Alsbald kam nunmehr, unter völliger Kaltstellung der „Bauerrentenbank“, der Uebergang des bäuerlichen Pachtbesitzes in freies Grundeigenthum in so regen Fluß, daß binnen den seitdem verflossenen 25 Jahren über ⅔2/3 sämmtlichen livländischen Bauerlandes der Privatgüter (m. a. W. ca. 27 000 Bauernhöfe) auf Grund einzelner Kaufverträge zwischen bäuerlichen Pächtern meist lettischer oder esthnischer Nationalität und meist deutschen Gutsherren in freies bäuerliches Eigenthum übergegangen sind. Ein gewaltiger Aufschwung des bäuerlichen Wohlstandes hat diese friedliche und freie Umwandlung auf selfgovernmentaler und privatrechtlicher Grundlage begleitet. – S. war, als sein Gedanke von 1841 endlich 1864 ins Leben trat, und in welch kräftig pulsirendes Leben, bereits seit 6 Jahren (1858) todt. Noch im Jahre seiner auch gerichtlichen Rehabilitation (1843, s. o.) war er durch Wahl der Ritterschaft, als einer der sog. „Hofgerichtslandräthe“, ins Hofgericht wiedereingetreten, dann 1849 dessen stellvertretender und 1851 wirklicher Präsident geworden. Der öffentlichen Thätigkeit entsagte er [324] 1855, um die letzten drei Jahre seines thaten- und auch leidensreichen Lebens in ländlicher Zurückgezogenheit mannigfachen Privatstudien zu widmen. Gedenkt man der durch seinen Mißgriff von 1818 mitverursachten 22jährigen Stockung der agrarischen Entwickelung Livlands (1819–41), und hinwiederum der durch jene Nebenbuhlerschaft andere 22 Jahre lang (1842–64) mitverhinderten Segnungen seiner seit 1841 gewonnenen besseren Erkenntniß, so wirkt diese Zusammenstellung geradezu tragisch. Doch läßt sich, abgesehen von dem Seelenadel, mit dem er von früheren Irrthümern offen sich losgesagt hatte, kaum eine schönere Sühne denken, als wenn wir binnen dem letzten Vierteljahrhunderte (1864–89) den seinen Urheber überlebenden Gedanken von 1841, endlich entfesselt, in raschem Siegesfluge das durch Irren und Wirren verzögerte Gute und Kluge über das Land ausbreiten sehen, das ihm zeitlebens das theuerste blieb: Livland! – Mag auch immerhin eine aus Unkenntniß und Befangenheit zusammengewebte Legende den agrarischen Aufschwung Livlands doch wohl zu ausschließlich mit dem Namen „Fölkersahm“ verknüpfen: es gilt doch hier erst recht jenes Wort Virgil’s, das Schreiber dieses einst auf den von S. angefertigten aber nicht ohne weiteres (s. o.) zur Geltung gekommenen Entwurf des „bürgerlichen Rechts Liv-, Ehst- und Kurlands“ von seiner Hand mit leichter Bleifeder geschrieben fand:

Hos ego versiculos feci, tulit alter honores!

Eine wahrheitsgemäße und gerechte Geschichtschreibung der Zukunft aber dürfte, im Bewußtsein dessen, daß es ohne jene selfgovernmentale und zwanglos privatrechtliche Begründung freien bäuerlichen Grundeigenthums für Livland überhaupt kein lebenswürdiges öffentliches Leben geben konnte, jenen am Eingange dieses Lebensabrisses verzeichneten Ausspruch Fölkersahm’s von 1842 ergänzend, auf Samson’s Grabstein die Worte setzen: Livland lebt immer noch von ihm!

Näheres über S. findet sich in der Baltischen Monatsschrift v. 1860 u. 1864, ferner in den Livländischen Beiträgen Bd. I–III, 1867–71, z. Thl. auch schon in dem v. d. Recke- und Napiersky’schen Schriftstellerlexikon für Liv-, Ehst- und Kurland.
W. v. Bock.