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Artikel „Sailer, Sebastian“ von Paul Beck in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 36 (1893), S. 763–765, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Sailer,_Sebastian&oldid=- (Version vom 11. Oktober 2024, 02:41 Uhr UTC)
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Band 36 (1893), S. 763–765 (Quelle).
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Sailer *): Sebastian (Geburtsname: Johann Valentini) S., Kanzelredner, schwäbischer Humorist, Volks- und Dialektdichter, geboren am 12. Febr. 1714 zu Waissenhorn im bairischen Schwaben, † am 7. März 1777 als Capitular in dem Prämonstratenserreichsstifte Obermarchthal in Oberschwaben, widmete sich dem geistlichen Stande und trat frühzeitig in das gen. Kloster ein. Im Besitz einer tüchtigen und vielseitigen Bildung wurde er nach Vollendung seiner Studien und der Priesterweihe Klosterpfarrer, zuletzt lange Jahre zu Dieterskirch. Er ward bald einer der populärsten Kanzelredner in ganz Süddeutschland. Auf seinen vielen Predigtfahrten hatte S. zahlreiche Bekanntschaften mit gelehrten Männern des In- und Auslandes, u. a. auf Schloß Warthausen mit dem bekannten geistreichen Grafen und k. k. Geheimrath Fried. v. Stadion und wahrscheinlich auch mit Wieland angeknüpft. Nach Wien im J. 1767 als Festredner zum schwäbischen Nationsfeste berufen, erhielt er dafür von der dankbaren Landsmannschaft daselbst eine Dose mit der Aufschrift: Ciceroni suevico sowie eine Audienz bei der Kaiserin Maria Theresia. Auf solchen Wegen entstanden die Fest- und Lobreden, von welchen er auf vielfachen Wunsch eine Auswahl unter dem Titel: „Geistliche Reden bei mancherlei Gelegenheiten und über verschiedene Materien gesprochen“ in 3 Bänden herausgab. Sailer’s Sprache in diesen Predigten und sonstigen zahlreichen religiösen Schriften ist eigenartig, ziemlich schwerfällig und hart. Die Kanzelreden leiden unter dem hohen Pathos, der Ueberladung, Geziertheit und Schwulst; auch die Orthographie ist regellos und wunderlich. Mehr als diese Arbeiten haben bei der Nachwelt seine komischen Dichtungen in oberschwäbischer Mundart sein Andenken erhalten. S. war von Haus aus eine jovial angelegte Natur, wie er selbst sagt, eine wahre Quecksilbernatur, mit einem guten Körnchen Mutterwitz begabt. Seinem unverwüstlichen, sprudelnden, dabei harmlosen, Niemanden verletzenden Humor entfloß eine Menge jovialer Schöpfungen, weitaus die meisten in oberschwäbischem Dialekte, zunächst in der Volksmundart der Gegend um den Bussen, den hl. Berg von Oberschwaben, geschrieben. S. wußte die Sprache des Volkes unvergleichlich gut zu handhaben. Als Pfarrer mitten unter Land und Leuten stehend, hatte er so recht Gelegenheit, deren Leid und Freud bis auf den Grund kennen zu lernen, die originellen Eigenheiten dem gemeinen Manne abzulauschen, seine Lebens- und Denkweise in voller Ursprünglichkeit in sich aufzunehmen und alle die von ihm so treu und köstlich gezeichneten Dorfgestalten tagtäglich vor Augen zu haben. Die namhaftesten Stücke Sailer’s sind folgende [764] Komödien: 1) „Die Schöpfung des ersten Menschen, der Sündenfall und dessen Strafe in 3 Aufzügen“, in welcher S. Gott Vater, den Schöpfer der Welten, oberländisch reden und als urgemüthlichen Bauernschultheißen, der nicht über seinen schwäbischen Dorfhorizont hinaussieht, wirthschaften läßt. Diesen Part pflegte der auch musikalisch gebildete S., die Geige in der Hand, in zahlreichen Gesellschaften ganz allein unter allgemeinem Gaudium aufzuführen, indem er sich zu den nach eigener Composition gesungenen Arien selbst begleitete; 2) „Der Fall Lucifers“ in 2 ebenfalls durchweg gereimten Aufzügen, eine köstliche, aber noch derber wie die „Schöpfung“ gehaltene Travestie in den Himmel verstiegener Menschen, mit ihren sich überfliegenden Gedanken, an welcher nach einer Mittheilung Friedr. Kölle’s in der „Pandora“ (Gedenkbuch zeitgen. Zustände u. Schriftsteller etc. I, S. 213) sich schon Goethe höchlichst ergötzt hat; 3) „Die 7 Schwaben oder die Hasenjagd“ in 2 Aufzügen (Prosa mit eingelegten Arien), der köstlich dramatisirte Kriegszug der „unsterblichen Sieben“, voll guter Einfälle mit volksthümlichen Stichelreden und Stammesneckereien, nicht das geringste unter den vielen Volksstücken dieses Namens; 4) „Schwäb. Sonn- und Mondfang“ in einem Aufzug und Prosa, ganz launig dramatisirt und den bekannten verschiedenen schwäbischen Ortschaften nacherzählten Schwank behandelnd, daß sie Sonne, Mond und Sterne auf einem Berge mit Netzen und Stangen einfangen wollten; 5) „Die schwäb. hl. 3 Könige“ in 1 Aufzuge, eine harmlose in Prosa gehaltene, beinahe an die alten Fastnachts- oder Dreikönigspiele erinnernde Burleske voll echter Komik, in welcher, wie in andern Stücken die Engel des Himmels, diesmal die 3 Weisen aus dem Morgenlande als stockschwäbische Bauern aufmarschiren und in welcher Herodes als gutmüthiger Schwachkopf erscheint, der unter dem Pantoffel seiner scharfzüngigen Frau stehend die Hauptkosten des Spaßes trägt; 6) „Die Schultheißenwahl zu Limmelsdorf,“ ein abwechslungsweise hochdeutsch und schwäbisch versificirter Einacter, eine gelungene Satire auf die bei solchen Wahlacten im Schwabenland gern mitspielenden engherzigen Privatinteressen, ein würdiges Seitenstück zu F. J. Wagner’s „Schultheißenwahl zu Blindheim“. Hervorzuheben ist ferner noch ein theils schriftdeutsch, theils mundartlich verfaßtes Festspiel „Beste Gesinnungen schwäbischer Herzen“. Dieses Huldigungsgedicht steht im Zusammenhange mit dem Besuch der nachmals so unglücklichen Marie Antoinette im Stift Marchthal am 1./2. Mai 1770 auf ihrer Brautfahrt von Wien nach Paris, wobei S. die Rolle des Festdichters übernommen hatte. – Noch zu seinen Lebzeiten hatte S. wegen des Inhaltes und Tones seiner damals übrigens so gut wie gar nicht im Druck sondern nur in Abschriften verbreiteten Dichtungen, namentlich der „Schöpfung“ mancherlei Anfechtungen seitens solcher zu erfahren gehabt, welche darin eine Profanirung göttlicher Dinge und eine Herabziehung des Heiligen zu finden glaubten. Diese Anklagen wurden zwar durch einen Machtspruch des damaligen Fürstbischofs von Konstanz, Cardinal v. Rodt, niedergeschlagen, erneuerten sich aber über 40 Jahre später bei der ersten Ausgabe von „Sailer’s Schriften im schwäb. Dialekt“, allerdings nicht ohne wieder nachdrücklichen Widerspruch hervorzurufen; und auch neuerdings haben sich wieder einige recht schiefe Urtheile über Sailer’s Muse vernehmen lassen. Der anspruchslose Marchthaler Conventual selbst hat freilich auf diese seine poetischen Erzeugnisse wenig Werth gelegt und diese Einfälle einer heitern Laune sorglos ihrem Schicksal und der Nachwelt überlassen, ohne daran zu denken, durch sie eine Stelle in der Reihe deutscher Dichter sich zu sichern. Gleichwol hatten aber diese Schätze seiner komischen Ader im Boden der schwäbischen Heimath Wurzel gefaßt, liefen von Hand zu Hand und waren in vielfältigen nach und nach aber ganz verdorben und fehlerhaft gewordenen, unvollständigen, unkritischen und willkürliche [765] Abweichungen vom Original enthaltenden Abschriften und Flugblättern unter Land und Leuten verbreitet. So wären sie wol mit der Zeit verloren gegangen, wenn nicht in letzter Stunde noch über vier Jahrzehnte nach Sailer’s Abscheiden einer der letzten Conventualen des Stifts Marchthal und noch einer der jüngeren Zeit- und Ordensgenossen Sailer’s, Pfarrer Sixt. Bachmann, das bleibende Verdienst erworben hätte, die überallhin zerstreuten Dichtungen seines ehemaligen Mitbruders mit vielem Fleiße, soweit dies noch möglich war, zu sammeln und 1819 eine später noch zweimal aufgelegte Ausgabe zu veranstalten. In der Geschichte der Litteratur ist S. gleichwol bisher viel weniger beachtet worden, als er es verdient; denn in der That ist er recht eigentlich der Bahnbrecher der schwäbischen Dialektdichtung. Gerechter als selbst Goedeke ist ihm Heinr. Kurz geworden, der ihn wenigstens öfter als den „Hauptvertreter der schwäbischen Mundart“ anerkennend anführt.

P. Beck, Zum 100jährigen Todestage Sailer’s etc., in Birlinger’s Alemannia, V. Jahrg. (1877), S. 104–115. – Derselbe ebd., XIX. Jahrg., S. 35–42: Bibliographie zu Sailer. – Derselbe, Ein Tag aus Marchthal’s Klostermauern etc., in „Alte und neue Welt“, 12. Jahrg. (1878), S. 718 bis 720, 746–752, 755–759. – Dr. Franz Binder im „Deutschen Hausschatz“, III. Jahrg. (1877), S. 667–671, 676–680. – Ed. Vogt, Sailer als Pfarrer, Prediger und Gelegenheitsprediger im „Deutschen Volksblatt“, Jahrg. 1877, Nr. 215–219, 222–243; Jahrg. 1878, Nr. 154–161; Jahrg. 1879, Nr. 27–30 etc. – Von Sailer existiren einige Bildnisse, ein gutes von den Augsburger Künstlern Gottfr. Bernh. Göz und Franz Regis Göz gestochenes Bild von Sailer ist seinem Predigtwerk, ebenso der Jubiläumsschrift beigegeben.

[763] *) Zu Bd. XXX, S. 192.