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Artikel „Reithard, Joh. Jakob“ von R. P. in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 28 (1889), S. 162–164, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Reithard,_Johann_Jakob&oldid=- (Version vom 25. Dezember 2024, 17:39 Uhr UTC)
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Reithard: Joh. Jakob R., schweizerischer Dichter, Schulmann und Publicist, geboren 1805, † am 9. October 1857. – R. ward zu Küsnach am Zürichersee, als Sohn begabter Eltern geboren, welche, obschon in bescheidensten Verhältnissen lebend, ihren Kindern eine gute Erziehung zutheil werden ließen. Frühe regte sich in dem Knaben der dichterische Trieb, gepflegt und gefördert von einer gleichgestimmten, phantasiereichen Mutter. Einen köstlichen Einblick in seine Jugendgeschichte gewährt er uns in der Erzählung: „Meine erste Schweizerreise“ im „Familienbuche“, die mit ihrem schalkhaften Humor und in ihrer Anschaulichkeit die Begabung Reithard’s zum Jugendschriftsteller documentirt. Schon im Jahre 1822 hatte R., damals kaum 17jährig, auf den Wunsch seines Vaters, die Ermunterung bewundernder Freunde, und wol auch aus eigenem Drang „Knospen“ im Druck herausgegeben, und obwohl dieselben manches Unreife enthalten, zeigen sie doch schon geistiges Leben, Phantasie und Reimgewandtheit. Bedeutender waren die 1842 erschienenen Gedichte, unter welchen „Rudolf v. Habsburg“; „Rudolf v. Erlach“ und „Die beiden Gemsjäger“ hervorzuheben sind. In Erzählung, Sage, Märchen und Legende leistet er hier das Beste, was nicht ausschließt, daß ihm nicht auch Gedichte contemplativer Art gelungen seien: feiner, sinniger, und wohlklingender als es in „Der Traum“ geschehen, läßt sich kaum ein glücklicher Gedanke in Worte bringen. Auf diese Gedichte folgte dann eine Reihe litterarischer Versuche, die er in verschiedenen Zeitschriften veröffentlichte, welche aber nicht alle als prima = Gut zu bezeichnen sind. „Die Jesuiten in Freiburg“, deren Herausgabe er später selber aufs lebhafteste bedauerte, sind z. B. entschieden zu verwerfen. Glücklicher ist, was R. in eigenen Zeitschriften publicirte. Es erschienen von ihm: ein „Jugendalmanach für 1843“; ein „Schweizerisches Familienbuch“; eine „Helvetia“ und zwei Jahrgänge der beliebten „Alpenrosen“.

R. hatte zur Zeit, als er diese Arbeiten erscheinen ließ, ein bewegtes Leben hinter sich. Ursprünglich zum Geistlichen bestimmt, mußte er diesen Beruf wegen einer Krankheit, die bleibende Folgen für ihn zu haben drohte, aufgeben. Dann soll er zu einem Graveur in die Lehre gethan, dieses Verhältniß aber infolge eines Gedichtes des Schülers, worin er gestand, keine Fähigkeit zu diesem Fache zu haben, gelöst worden sein. Seine Lernzeit beendete er mit einem Aufenthalt in der Pestalozzi’schen Anstalt zu Iferten, wo er sich unter der Leitung Niederer’s zum Lehrer heranbildete. Als ein lebhafter, aber noch nicht abgeklärter, geistig geweckter, aber noch nicht in sich gefestigter Jüngling trat R. nun ins Leben hinaus – erst als Hauslehrer in Chur, dann in Wädensweil und endlich in Glarus. Unterdessen brach die große politische [163] Bewegung der dreißiger Jahre aus. Der junge, ungestüme Lehrer warf sich mit ganzer Seele in das unruhige Treiben hinein, ja er wurde einer der feurigsten Litteraten und Journalisten der Partei. An einer tiefgehenden juristischen und historischen Bildung gebrach es ihm, aber er meinte es gut und seine pathetisch-populäre Schreibart gefiel; seine gewandte Feder verschaffte ihm überall Ansehen und Einfluß, und so erhielt er bald einen Ruf als Lehrer der deutschen Sprache und Litteratur nach Bern. Als ihm diese Stelle nur allzubald entleidet wurde, siedelte er nach Burgdorf hinüber, um die Redaction des „Volksfreundes“ zu übernehmen. Jetzt ging eine allmähliche Wandlung in seinen Ueberzeugungen vor. Die Uebergriffe der extrem-radicalen Partei, die Tendenz, an die Stelle der Familienaristokratie eine Aristokratie des Beamtenthums und der Parteigenossenschaft zu setzen, die Abneigung gegen den persönlichen Charakter vieler der tonangebenden Männer, wol auch etwa das Gefühl persönlich erlittener Kränkung – das Alles entfremdete Reithard, der ein Demokrat im edleren Sinne war, seinen früheren Gesinnungsgenossen, und er war daher froh, als ihn ein Ruf der Regierung von Glarus, die ihm das Amt eines Schulinspectors des Cantons übertrug, aus dieser unangenehmen Lage befreite. In Glarus redigirte er auch den „Alpenboten“. Hier ging Alles gut, so lange sein Freund und Gönner Landammann Schindler an der Spitze der Regierung stand; als aber dieser auf seine Staatsämter verzichtete und den Canton verließ, war auch Reithard’s Stellung unhaltbar geworden und schied er für immer aus dem pädagogischen Wirkungsreise. Wie sehr er übrigens im Glarnerlande heimisch gewesen, das bezeugen eine Reihe seiner schönsten Gedichte, wie auch seine in einfacher Prosa gegebenen Sagen, in welchen er die Natur des Landes gelungen schildert und dessen Ueberlieferungen getreu erzählt.

Den letzten und größern Theil seines Lebens brachte R. in bescheidenen Verhältnissen in Zürich zu, von wo aus er viele Beiträge in in- und ausländische Zeitungen lieferte. Nebenher entstanden auch mancherlei litterarische Erzeugnisse; so, zu Anfang des Jahres 1845, die „Radicale Jesuitenpredigt“ – eine wuchtige Satyre auf die leidenschaftliche, sich oft über Gesetz und Verfassung hinwegsetzende Befehdung der Urschweiz durch die Freischaarencantone und ihre Lenker – und, als im gleichen Jahre der Zug der Freischärler nach Luzern ein klägliches Ende genommen, die etwas tönende, aber ergreifende Schilderung: „Auf dem Emmenfelde“. 1847 erschien von ihm die „Wunderbarlich vaterländische Prophezeihung auf das Jahr der Ungnade 1847“, die Chronik dieses Jahres in altväterischen witzgesättigten Reimen abwickelnd, rechts und links treffend. Auf das Jubelfest von Zürichs Eintritt in den Schweizerbund verfaßte er „Den Tag zu Zürich“, eine Novelle im alten Chronikstil, in der er erzählt, wie es bei der Eidesleistung in Zürich Anno 1351 zugegangen, wobei es an feinen und deutlichen Anspielungen auf Personen und Zustände der Gegenwart, wie sie dem damaligen, selbst in die Parteiwirren hineingerissenen Beobachter erschienen, nicht fehlt. 1851 veröffentlichte er „Die Todesnacht auf dem Wallensee“, den Untergang des Dampfers „Delphin“ schildernd, – ein hochpoetisches Nachtstück von inniger Zartheit und wirksamer Kraft, stimmungsreich, tief fromm. 1853 endlich kam sein Hauptwerk heraus: die poetische Sammlung der „Geschichten und Sagen aus der Schweiz“. Es ist eine Arbeit, die aus der reinsten Liebe zum Vaterlande, einem für die Natur derselben begeisterten Sinn, einem in den Sitten und Bräuchen des Volkes heimischen Gemüthe hervorgegangen ist. Sie ist zugleich das Erzeugniß großer dichterischer Begabung und eines formenreichen und formgewandten Sprachtalents. R. ist ein Meister in der dichterischen Erzählung [164] und darf als solcher der nationalste der modernen schweizerischen Dichter genannt werden. Wenn er desungeachtet so wenig bekannt und noch weniger anerkannt ist, so mag der Hautgrund in seiner politischen Parteistellung liegen, in dem Umstande, daß er, als seine reichsten Producte an die Oeffentlichkeit traten, nicht mehr auf dem Boden der herrschenden Richtung stand, und ihm so alle jene Zeitungen und Zeitschriften versagten, die man zur Verfügung haben muß, wenn man sich heutzutage einen Namen machen will; er wurde förmlich todtgeschwiegen. Auch hatte er continuirliches Mißgeschick mit seinen Verlegern, was jedoch hier nicht näher erörtert werden kann.

Vgl. Zürcher Taschenbuch auf das J. 1882, S. 158–209. – J. J. R., von L. Pestalozzi, und den Nekrolog im „Neuen Tageblatt a. der östl. Schweiz“, Nr. 263 u. 264, 1857 (von A. Baumgartner).
R. P.