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Artikel „Ratzinger, J. Georg“ von Ludwig Julius Fränkel in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 53 (1907), S. 215–218, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Ratzinger,_Georg&oldid=- (Version vom 25. November 2024, 00:13 Uhr UTC)
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Ratzinger: J. Georg R., bairischer clerical-socialer Politiker und Publicist, wurde am 3. April 1844 zu Rickering bei Deggendorf in Niederbaiern als Sohn einfacher Bauersleute geboren. Er besuchte seit 1855 das Gymnasium zu Passau und studirte 1863–67 katholische Theologie an der Universität München, wo er 1868 zum Dr. theol. promovirte, und zwar auf Grund der Lösung der Preisfrage „Geschichte der kirchlichen Armenpflege“; diese sogleich gedruckte werthvolle ausführliche Arbeit erschien 1884 nochmals, wesentlich erweitert, wie R. überhaupt die Neuauflagen seiner Schriften mit vollem Rechte als „vollständig umgearbeitet“ hat bezeichnen dürfen. Darauf [216] fungirte R. kurze Zeit als Hülfsarbeiter bezw. Secretär eines seiner akademischen Lehrer, I. v. Döllinger’s, ohne sich (s. u. S. 218), unmittelbar vor dessen folgenschwerer Stellungnahme gegen die Beschlüsse des tagenden vaticanischen Concils, mit den Ideen des berühmten Theologen irgend zu befreunden. Vielmehr sollten ihn künftig dogmatische, überhaupt kirchlich-religiöse Streitfragen blutwenig beschäftigen, obwohl er schon 1869 als Cooperator in Berchtesgaden in die praktische Seelsorge eintrat. Der politischen Agitation gewann R. anfangs der 70er Jahre eine Säule des katholisch-feudalen Hochadels, der Graf Ludwig v. Arco-Zinneberg, der ihm auch eine lebenslängliche Rente auswarf. Seitdem wechselte er wiederholt mit priesterlicher und publicistischer Thätigkeit. So führte er 1870/71 in Würzburg die Redaction des „Fränkischen Volksblatts“; dann, nachdem er 1872–74 Caplan in Landshut gewesen, die des von ihm eben gegründeten Journals „Der Volksfreund“ in München 1873 bis zum Eingehen (1876), in Gemeinschaft mit seinem engeren Landsmanne, Berufs- und Gesinnungsgenossen Franz Joseph Knab (1846–99). 1875 wurde R. für den Wahlkreis Tölz in den bairischen Landtag, 1877 für Rosenheim in den Reichstag gewählt, und in beiden gehörte er loyal zur clericalen Fraction, in München wie in Berlin. Doch verzichtete er 1877 infolge eines persönlichen Vorkommnisses in Tölz aufs erste, 1878 schon auf das zweite Mandat. Abgesehen von der einjährigen Amtirung als Hofcaplan des Herzogs Karl Theodor in Baiern zu Tegernsee 1883–84 und der dreijährigen als Pfarrer in Günzelhofen bei Naunhofen, welch letztere Stelle er 1888 mit Erlaubniß der Krone gegen die Pfarrei Helfenberg bei Mühldorf tauschte, aber thatsächlich als „frei resignirt“ aufgab, hat sich R. fürder ausschließlich publicistischer und volkswirthschaftlich-wissenschaftlicher Schriftstellerei gewidmet, und zwar anfänglich vorübergehend in Wien, wohin ihn vielleicht sein dort zu Amt und Würden gelangter und genannter Freund Knab gezogen, dann meist in München, periodisch auch in Walchstatt am oberbairischen idyllischen Wörthsee.

Ursprünglich waschechter Anhänger und sogar Vorkämpfer der bairisch-katholischen „Patrioten“-Partei, hatte er, infolge jener Studien und der steigenden Schroffheit seiner particularistischen Neigung, von der hoffähig und „reichstreu“ sich erhaltenden Centrumspartei bei der Wahl fallen gelassen, sich direct von ihr losgesagt und im großen Ganzen, wenn auch nicht officiell, die Principien des 1893 in die Wahlbewegung eingreifenden „Bairischen Bauernbundes“, insbesondere in der Schattirung seiner Heimath Niederbaiern, auf seine Fahne geschrieben. So zog er für den Kreis Regen 1893 und widerspruchslos, weil bedingungsgemäß ohne Centrumsgegner, 1899 in den Landtag, wo er als wohlbeachtete Autorität auch in maßgeblichen Ausschüssen saß und 1899 die Seele, selbst formell der Führer der neuen agrarischen „Freien Vereinigung“ ward; 1898 schickte ihn der Wahlkreis seiner Geburt, Deggendorf, in den Reichstag. Den Radicalismus der landsmännischen Bauernbündler, die weder socialpolitisches Wissen noch diplomatischen Tact besaßen, zu zügeln vermochte er nicht, und so näherte er, der möglicherweise diese populäre Strömung auch mit als Steigbügel benutzen wollte, sich später wieder, freudig begrüßt, innerlich der Centrumspartei; wie dessen Vertreter nach Ratzinger’s Tode unter großer Genugthuung aussagten, auch äußerlich. Der stark demokratisch angehauchte Dr. Gäch, nach Ratzinger’s Tode Wortführer der Fraction in der Münchener Abgeordnetenkammer, hat noch vier Jahr später, am 25. November 1903, daselbst erklärt: „Wenn man immer wieder den verstorbenen Dr. Ratzinger an die Rockschöße der Bauernbündler hängen wolle, so müßten diese dagegen protestiren. Dr. Ratzinger sei vom Fleisch und Blut des Centrums gewesen; [217] er habe auch eine lange Kutte angehabt. Dr. Ratzinger sei das Unglück des Bauernbundes gewesen. Man möge Dr. Ratzinger doch endlich aus der Debatte ausschalten.“ Trotzdem er also politisch so wandelbar aufgetreten ist, oft sogar unberechenbar und für andere niemals wirklich zuverlässig, weil eben seine Ueberzeugung ihm selbst manchen Streich spielte und er infolgedessen von ultrareactionären zu fast socialistischen Vorschlägen übersprang, kannten ihn alle als persönlich liebenswürdigen und entgegenkommenden Mann. Dies bekundete auch bei seiner schmerzlichen letzten Krankheit und dem Leichenbegängnisse die Theilnahme schroffer politischer Gegner; auch ich selbst habe ihm seine rein politischer Tendenz entstammende persönliche Zeitungsdenunciation von September 1892 nicht nachgetragen. Acht Jahre litt er schwer am Magen mit wechselndem Grade der oft argen Beschwerden. Das Versagen der Ernährung brachte ihn im Herbst 1898 an den Rand des Grabes. Eine Magenoperation stellte ihn scheinbar wieder her, mußte aber mehrmals wiederholt werden, bis seine rücksichtslose parlamentarische Pflichttreue in Verbindung mit ungünstigen inneren Geschwüren die längst übermäßig angegriffene, zudem nie sonderich feste Lebenskraft abschnitt. Am 3. December 1899 ist R. im Münchener Stadtkrankenhaus r. d. I. gestorben. Den Spruch: „nasci, pati, mori“ legte ihm, dem Dulder seinen Wunsch erfüllend, der Geistliche auf das Grab nieder.

R. besaß ausgedehnte Belesenheit, voran auf nationalökonomischem, auch auf historischem Felde, vielseitiges Wissen und Weltbildung. Auf socialpolitischem und im engeren Sinne volkswirthschaftlichem Gebiete hatte er gründliche Studien getrieben, deren Ergebnisse er freilich nicht völlig zu systematisiren und in ihrem Facit in der Praxis zu verwerthen verstand. Wenigstens verrannte er sich beim Vortrage seiner Theorien behufs Nutzanwendung für die Staatsmaschine häufig in curiose Wunderlichkeiten und Widersprüche. Unleugbar kannte R. die ländlichen Zustände der Gegenwart und Vergangenheit, insbesondere Altbaierns, aus eigenen Einblicken, Umfragen und Forschungen, und sein ehrliches Augenmerk richtete sich auf ein zufriedenes, wohlauskommendes Bauernthum, das er allerdings einseitig als einzigen wirklichen Nährstand betrachtete. Dieser Wahn stempelte ihn, den Akademiker gewordenen Sohn des Dorfes, zum streitbaren Agrarier bäuerlichen Anstrichs, mit welcher Farbe sich im ersten Theile seiner Wirksamkeit mehr der christlich-katholische, in deren zweiter Hälfte mehr bairisch-particularistische und scharf antisemitische Ansichten gatteten. Die peinvolle Krankheit der letzten Jahre sowie seine factische parlamentarische Isolirtheit verbitterten den unermüdlich forschenden, schriftstellernden, weniger – dazu reichten die körperlichen Mittel und die Studirzimmernatur nicht aus – agitirenden Mann mehr und mehr und verschuldeten öfters gallige Ausbrüche. Als Publicist wirkte R., ein energisch zupackender, rasch Feuer fangender Anwalt seiner wechselnden Sym- und Antipathien, 26 Jahre (1871–97, wo es einen leichtverständlichen Conflict gab) als Münchener bezw. bairischer Berichterstatter der clerical-großdeutschen „Deutschen Reichszeitung“ (Bonn), seit 1869 als ständiger Mitarbeiter der Görres’schen „Historisch-politischen Blätter“, in den letzten Jahren seit seiner Häutung eifrig an Dr. J. Sigl’s extrem antipreußischem und katholisch-agrardemokratischem „Bairischen Vaterland“. Daneben aber auch in führenden Centrumsblättern, wie „Germania“ (Berlin), „Donauzeitung“ (Passau), ja sogar schließlich bei seinem Rückweg zur Centrumsrichtung mit ausdrücklichem Ziele, bei deren bairischem Hauptorgane, der „Augsburger Postzeitung“.

Ratzinger’s selbständig erschienene Schriften sind außer der angeführten verdienstlichen preisgekrönten Dissertation „Geschichte der kirchlichen Armenpflege“: [218] sein Hauptwerk, das Lehrgebäude „Die Volkswirthschaft in ihren sittlichen Grundlagen. Ethisch-sociale Studien über Cultur und Civilisation.“ (1881, 2., vollständig umgearbeitete Aufl. 1895); „Die Erhaltung des Bauernstandes. Ein Reformprogramm des hochseligen Grafen Ludwig von Arco-Zinneberg. Bearbeitet“ (1883), auf Ratzinger’s erwähnten Gönner zurückführend; „Die Bierbrauerei in Baiern“ (1884); polemisch ist die Flugschrift aus den Anfängen des Altkatholicismus „Das Concil und die deutsche Wissenschaft“ (1871) gehalten; der politischen und Wahlagitation dient der Mahnruf „Bauern, einigt euch!“ (1897). Eine Sammlung seiner gediegenen historisch und geschichtlich-ökonomischen Untersuchungen bot der Band „Forschungen zur bairischen Geschichte“ (1898), großenteils auf den Passauer Cleriker und Geschichtsschreiber Albertus Bohemus bezüglich, laut dem Referat des „Literar. Centralblatts“ (1898, Nr. 33 Sp. 1226) eine höchst beachtenswerthe Leistung und entschiedener Gewinn für die Wissenschaft. In nachdrücklich antisemitischem Fahrwasser schwimmt R. mit den zwei auf nationalökonomischer bezw. socialpolitischer Basis ruhenden Broschüren „Jüdisches Erwerbsleben. Skizzen aus dem socialen Leben der Gegenwart“ (5., vollständig umgearbeitete Aufl. 1893) und „Das Judentum in Baiern. Skizzen aus der Vergangenheit und Vorschläge für die Zukunft“ (1897), bezeichnenderweise beidemal unter Pseudonym sich verhüllend: die erste von Dr. Robert Waldhausen, die letztere von Dr. Gottfried Wolf gezeichnet. Als Summe der Abwägung dieser litterarischen Erzeugnisse sammt der des positiven Gehalts seines öffentlichen Wirkens ergibt sich das Urtheil, daß G. R. ein reich unterrichteter Socialpolitiker von tüchtigem Talent und beträchtlicher Gelehrsamkeit war, der alles Zeug in sich trug, eine hervorragende Rolle im staatlichen Leben zu spielen, falls er consequenter, andererseits weniger als Eigenbrödler sich bethätigt hätte. Für Baierns parlamentarische Entwicklung bedeutete der Tod dieser gewichtigen Persönlichkeit aus dem Landtagsgetriebe heraus einen einschneidenden Umschwung, der sich in dem baldigen Zusammenbruche des altbairischen Bauernbundes am deutlichsten ausprägte; R. war es nicht gelungen, diesen später in mäßigere Bahnen zu lenken.

Grundlage vorstehenden Lebens- und Charakterbildes ist mein – hier revidirter und ergänzter – Artikel im Biogr. Jhrb. u. Dtsch. Nekrolog IV, 246 f., s. auch S. 244, wo ausführl. Litteraturangaben. Davon seien hier nur wiederholt die autobiogr. Daten nebst Bildn. in J. Kürschner’s „Neuem Reichstag 1898(–1903)“, S. 249. Hinzuzufügen: Augsburg. Postztg. Nr. 25 v. 25. Jan 1905, S. 6; Münchn. Neueste Nachr. v. 1899, Nr. 560 S. 6 (Todesanzeige); Bericht über die Landtagsverhandlungen v. 25. Nov. 1903 (s. o.) und 18. Juli 1906 (in Abg. Schädler’s Rede: R. als Lotteriegegner). – Antiquariatskatalog Nr. 30 von H. Lüneburg (E. Reinhardt), München (1900), bietet S. 1–30 aus Ratzinger’s Nachlaß 774 Bände aus.