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Artikel „Ostendorf, Julius“ von Konrad Friedländer in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 24 (1887), S. 503–507, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Ostendorf,_Julius&oldid=- (Version vom 24. Dezember 2024, 01:06 Uhr UTC)
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Ostendorf: Gottfried Friedrich Johannes Julius O. wurde am 2. April 1823 zu Soest geboren. Sein Vater war Prediger an der Petrikirche dieser Stadt, seine Mutter eine geb. Rochol. Schon im achten Lebensjahre verlor der Knabe den Vater. Seine Schulbildung erhielt er auf dem Gymnasium seiner Vaterstadt, und da er sehr talentvoll und lernbegierig war, so konnte er schon Ostern 1840, eben 17jährig, nachdem er die Reifeprüfung sehr gut bestanden hatte, zur Universität gehen. Er studirte anfangs Theologie auf den Universitäten zu Bonn, Halle und Berlin. Da er aber zu erkennen glaubte, daß er sich besser zum Schulmanne eigne, so wendete er sich philologischen Studien zu und bestand im Herbst 1845 vor der königlichen Commission die Prüfung pro facultate docendi. Sein pädagogisches Probejahr leistete er am Archigymnasium zu Soest und war dann an derselben Schule beschäftigt, bis er um Weihnachten 1846 zu commissarischer Wirksamkeit an das Gymnasium zu Wesel berufen wurde. Eben sollte er in dieser Stellung definitiv angestellt werden, als ihn eine schwere Erkrankung im August 1847 zwang dem Amte zu entsagen und in seiner Heimath die Genesung zu erwarten. Bald danach traten die politischen Stürme des Jahres 1848 ein. O. betheiligte sich lebhaft an dem Vereinsleben zu Soest und wurde von dem Wahlkreise Soest-Hamm zum Mitgliede des Frankfurter Parlaments erwählt. Er schloß sich der sogenannten Erbkaiserpartei an, deren hauptsächlichste Führer Heinrich v. Gagern und Dahlmann waren. Als die preußischen Mitglieder des Parlaments Ende Mai 1849 abberufen wurden, schied auch O. aus der Versammlung, nahm aber an den Verhandlungen seiner Parteigenossen in den letzten Junitagen zu Gotha theil, in welchen das Programm der Gothaer aufgestellt wurde: Bundesstaatliche Verfassung für Deutschland mit Ausschluß von Oesterreich in constitutionellen Formen unter dem preußischen Erbkaiserthum. Getreu diesem Programme, welches 1866 und 1871 zu voller Verwirklichung gelangte, hat O. auch in seiner gesammten pädagogischen Wirksamkeit auf die nationale Erziehung der Jugend stets besonderen [504] Werth gelegt. Dann lebte O. wieder als Privatgelehrter zu Soest, bis er 1850 nach Lippstadt ging. Diese Stadt war bis dahin halb lippisch, halb preußisch gewesen und kam 1850 durch einen Staatsvertrag ganz in den Besitz von Preußen. Dadurch wurde auch eine lange geplante Umwandlung der Schulverhältnisse herbeigeführt. Ein seit 1520 bestehendes Gymnasium war in den Kriegszeiten zu Anfang unseres Jahrhunderts aus Mangel an Geldmitteln mehr und mehr zurückgegangen und schließlich zu einer dreiclassigen „höheren Stadtschule“ geworden. So genügte die Anstalt den Anforderungen der Zeit nicht mehr, sie sollte zu einer Realschule erweitert werden. Da erkrankte am Anfange des Jahres 1850 der alte Rector Wahlert und O. wurde zu seiner Vertretung berufen. Gleich darauf starb der Rector und so blieb O. in Lippstadt. Man hatte den rechten Mann gefunden. In 22jähriger Wirksamkeit hat O. der Stadt eine mustergiltige Realschule erster Ordnung geschaffen, sich selbst aber den Ruf eines der tüchtigsten deutschen Schulmänner, eines ausgezeichneten Directors erworben. Schnell hob sich die Schülerzahl, da auch von auswärts viele Eltern ihre Kinder nach Lippstadt schickten. Die Staatsbehörden deuteten voll Anerkennung auf die große Zahl der auswärtigen Schüler hin, in welcher sich das Vertrauen der Eltern zu dieser Schule äußere und rühmten die ehrenvolle Stellung, welche sich die Anstalt unter den Realschulen „nicht blos unserer Provinz“ erworben habe. Diese Erfolge wurden hauptsächlich dadurch erreicht, daß O. ein ausgezeichnetes Collegium zu bilden und dasselbe durch seine unermüdliche und aufopfernde Hingebung an die Aufgaben des Amtes zu gemeinsamer Arbeit zu begeistern, es trotz der geringen Gehalte lange an die Schule zu fesseln verstand. In gleicher Weise bemühte er sich um das körperliche wie um das geistige Wohl der Jugend. Vielleicht weil O. an sich selbst erfahren hatte, wie die Vernachlässigung körperlicher Uebung und Abhärtung in der Jugend sich im späteren Leben rächt, nahm er nicht blos das Turnen, sondern auch das Schwimmen, das Exerciren, das Schlittschuhlaufen in die Obhut der Schule und, solange es ihm seine Gesundheit gestattete, unternahm er auch in den Ferien größere Reisen mit den Schülern an den Rhein, an die Weser, nach Thüringen, ja selbst bis in die Schweiz. Sein Hauptbestreben aber war darauf gerichtet, durch Verbesserung und Ausbildung der Lehrmethode, durch weise Beschränkung des Lehrstoffs der Ueberbürdung der Schüler entgegenzuarbeiten und ganz besonders durch Beziehung der einzelnen Lehrfächer aufeinander und geeignete Concentration des Unterrichts das Interesse zu steigern und das Lernen zu erleichtern. In dieser Concentration, über welche er ebenso wie über die Leibesübungen und über die nationale Erziehung sich in Programmabhandlungen und Schulreden mehrfach ausgelassen hat, hat er Großes geleistet. Diese Bemühungen Ostendorf’s fanden volle Anerkennung. Das Curatorium der Schule zeigte sich stets bereit, seine Pläne zu fördern; die städtischen Behörden kargten nicht mit der Bewilligung der für die Stadt verhältnißmäßig hohen Ausgaben; die Mitbürger übertrugen ihm die Ehrenämter eines Stadtverordneten, eines Kirchenältesten, eines Synodalmitgliedes; die Staatsbehörden lobten wiederholt den ehrenhaften und höchst strebsamen Sinn des gesammten Lehrercollegiums, die löbliche Führung und den Gesundheitszustand der Schüler, das in dem ganzen Charakter der Anstalt hervortretende Streben, besonders Ostendorf’s eigne Bemühungen und Leistungen. Am meisten aber ehrt den vortrefflichen Lehrer die pietätsvolle Gesinnung, welche seine Schüler ihm weihten und welche sie noch nach seinem Tode in der Ostendorffeier vom 8. Juni 1878 so schön bekundet haben. Diese Feier galt der Enthüllung des Denkmals, welches ihm auf dem Platze vor dem Gebäude des Realgymnasiums errichtet worden ist. Ehemalige Schüler hatten die Sammlungen zur Aufbringung der Kosten angeregt und außer denselben auch [505] noch ein Capital für eine Ostendorfstiftung aufgebracht. Das Denkmal trägt die von Robert Cauer ausgeführte Büste Ostendorf’s.

Schon mehrfach waren an O. Berufungen an größere Schulen mit günstigeren Bedingungen für ihn persönlich ergangen. Im Interesse seiner Schule hatte er dieselben abgelehnt. Da kam 1872 eine Aufforderung, das Directorat der Realschule erster Ordnung zu Düsseldorf zu übernehmen. In Lippstadt hatte er gethan, was zu thun war. Die Schule war fertig; sein rastlos weiter strebender Geist bedurfte neuer Arbeit. Schon seit den letzten 50er Jahren war O. als eifriger Verfechter der Realschule aufgetreten und hatte die Ansicht ausgesprochen, daß dieselbe mit ihren Lehrgegenständen ebenso wol wie das Gymnasium im Stande sei, die zur allgemeinen freien Bildung führende geistige Schulung zu gewähren. Im weiteren Verlaufe seiner pädagogischen Entwickelung war er zu der Ueberzeugung gekommen, daß das gesammte höhere Schulwesen in Deutschland einer durchgreifenden Umgestaltung bedürfe. Um die einheitliche Grundlage für alle höheren Schulen möglichst lange festzuhalten befürwortete er, daß der fremdsprachliche Unterricht nicht mit dem Lateinischen, sondern mit einer neueren Sprache (Französisch) beginnen solle. So hatte ihn der Plan einer grundsätzlichen Schulreform schon in den letzten Lippstadter Jahren beschäftigt. Eine höhere Bürgerschule nach seinem Sinne einzurichten und zu leiten war sein Lieblingswunsch geworden. Die Gelegenheit dazu bot sich in Düsseldorf, hier konnte er mit der Realschule erster Ordnung eine höhere Bürgerschule verbinden. So folgte er denn dem Rufe nach Düsseldorf und trat damit in diejenige Periode seines Lebens, in welcher er hauptsächlich als Schulreformer zu wirken bestrebt war.

Ostern 1872 wurde O. zu Düsseldorf in sein neues Amt eingeführt; in seiner Antrittsrede besprach er die Mängel des höheren Schulwesens und entwickelte seine Reformgedanken. Die von ihm gewünschte höhere Bürgerschule wurde schon zu Michaelis d. J. eröffnet. Freilich mußte O. sich, um der Schule die Militärberechtigung zu sichern, zu Concessionen im Lehrplan entschließen; so mußte namentlich das Englische aufgenommen werden, obwol O. empfahl, sich auf eine fremde Sprache (Französisch) zu beschränken. Die Schule nahm einen sehr glücklichen Aufschwung und befindet sich gegenwärtig, seit Ostendorf’s Tode, unter einem besonderen Director in höchst blühendem Zustande. Die Realisirung seiner übrigen Reformgedanken hat O. nicht erlebt. Freilich hat er sich auch selbst darauf keine Hoffnung gemacht; er war der Meinung, daß sie erst in der Zukunft zu voller Anerkennung und Durchführung gelangen würden.

Zunächst aber bot sich ihm eine günstige Gelegenheit zur Vertretung seiner Ansichten an maßgebender Stelle. Im October 1873 berief der Minister Falk eine Conferenz zur Berathung über das höhere Schulwesen des preußischen Staats und O. wurde zu dieser Conferenz hinzugezogen. Hier trat er energisch für die Nothwendigkeit der vielfach angefochtenen Realschulen erster Ordnung ein und befürwortete lebhaft diejenige Gestaltung des höheren Schulwesens, welche er in seinen beiden kurz vorher veröffentlichten Schriften „Das höhere Schulwesen unseres Staates“ und „Mit welcher Sprache beginnt zweckmäßigerweise der fremdsprachliche Unterricht“ empfohlen hatte. Nach denselben sollte auf den dreijährigen Elementarcursus (vom 6. bis 9. Lebensjahre) die Mittelschule vom 9. bis 12. Lebensjahre folgen. Sie war für alle diejenigen bestimmt, deren Bildung über den Kreis der Volksschule hinausgehen sollte, und nahm gleich auf der untersten Stufe das Französische auf. Mit dem vollendeten 12. Jahre sollte sich das Gymnasium anschließen mit zwei gemeinsamen Unterclassen und Latein und dann sollte noch fünf Jahre hindurch (also vom 14. bis 19. Lebensjahre – um ein Jahr sollte die Schulzeit verlängert werden –) eine Scheidung in drei Abtheilungen eintreten: in eine altsprachliche, eine neusprachliche und eine naturwissenschaftlich-mathematische [506] Abtheilung. In der Conferenz wurde anerkannt, daß der Plan ein wohl durchdachter sei und von zwei hochangesehenen Männern (Wiese und Bonitz) wurde der Wunsch ausgesprochen, es möge ein Versuch gemacht werden, wie sich der Beginn des fremdsprachlichen Unterrichts mit dem Französischen statt mit dem Lateinischen bewähren würde. O. hat selbst diesen Versuch nicht mehr machen können. Erst nach seinem Tode ist er gemacht worden und zwar mit günstigem Erfolge. In Altona wurde die Realschule, welche im wesentlichen der Ostendorf’schen Mittelschule entspricht, 1878 mit einem Realgymnasium verbunden, welches durch Gabelung in Untertertia beginnt und in dieser Classe erst das Latein anfängt. Das preußische Unterrichtsministerium genehmigte den Plan des Directors, indem es ihn als ausführbar und für Altona zweckmäßig anerkannte. Ein anderer Theil des Ostendorf’schen Planes ist im Realgymnasium des Johanneums zu Hamburg ins Leben getreten, nämlich die Gabelung der Oberclassen (Obersecunda und Prima) in eine neusprachliche und mathematisch-naturwissenschaftliche Abtheilung. Auch diese Einrichtung fand den Beifall des preußischen Unterrichtsministeriums und kann als bewährt bezeichnet werden. Die Directorenconferenz der Provinz Schleswig-Holstein beschäftigte sich 1883 mit der Frage dieser Bifurkation und sprach im wesentlichen ihre Billigung derselben aus. Unmittelbar vor der Octoberconferenz hatte sich O. noch eine andere Gelegenheit geboten, für seine Ansichten in weiten Kreisen Propaganda zu machen. Die Freunde der Realschulen, besonders ihre pädagogischen Vertreter, bildeten die Realschulmännerversammlungen, von welchen die zu Eisenach im Herbst 1872 die vorbereitende war. Es folgten im Herbste 1873 und 1874 die Tage zu Gera und zu Braunschweig. Beiden Versammlungen präsidirte O. und erfüllte sie mit seinem Geiste. In Gera wurden in seinem Sinne die Grundsätze aufgestellt, welche nach den Wünschen der Versammelten bei der Gestaltung des höheren Schulwesens maßgebend sein sollten. In Braunschweig versuchte man durch eingehendere Vorschläge den Weg anzudeuten, auf welchem die Reform angebahnt werden könne. Die Zeit schien in manchen Beziehungen für Ostendorf’s Absichten sehr günstig zu sein. Am Tage des Zusammentritts der Braunschweiger Versammlung wurde O. in dem Kreise Bielefeld-Herford-Halle in den preußischen Landtag gewählt, um bei der erwarteten Vorlage des Unterrichtsgesetzes seine Reformpläne zu vertreten. Indessen war es ihm nicht beschieden, weitere Erfolge zu gewinnen. Unter den Realschulmännern trat eine lebhafte Gegenbewegung gegen ihn hervor, weil viele die Realschule erster Ordnung durch sein Auftreten bedroht glaubten. Im Landtage, in welchem er sich der nationalliberalen Partei angeschlossen hatte, kam er zu keiner Bedeutung, da er, um sein Amt möglichst wenig zu vernachlässigen, immer nur auf kurze Zeit in Berlin anwesend war. Auch hemmte schon die böse Krankheit, welche ihn nach wenig Jahren hinwegraffen sollte, in hohem Grade seine Thätigkeit. Der Realschulbewegung hielt sich O. von da an fern, theils dieser Krankheit wegen, zum Theil aber auch, weil die Bewegung eine Richtung nahm, die ihm nicht ganz recht war. Seine Reformpläne sichern ihm einen Platz in der Geschichte der deutschen Pädagogik. Manche Anzeichen deuten darauf hin, daß bei der zukünftigen Gestaltung des höheren Schulwesens seine Gedanken nicht ohne Einwirkung bleiben werden.

O. ist mehrfach von schweren Krankheiten heimgesucht worden. Die letzte Krankheit war ein sehr schmerzhaftes Blasenleiden, an welchem er länger als ein Jahrzehnt litt und das ihn in den letzten fünf Jahren seines Lebens mehr und mehr belästigte. Vergebens versuchte er dem Umsichgreifen desselben durch den Aufenthalt in den Alpen während der Ferien oder durch den Besuch von Karlsbad und Wildungen entgegenzuwirken. In den Herbstferien 1877 [507] unterwarf er sich zu Halle a. S. einer Operation, die zwar glücklich ausgeführt wurde. Dann aber trat eine verderbliche Wendung ein und am 31. August erlag er seinen Leiden. Die Leiche wurde zur Bestattung nach Lippstadt geführt.

O. war seit dem 28. August 1868 mit Fräulein Hilbeck aus Lippstadt verheirathet und hinterließ seine Wittwe mit zwei Söhnen und einer Tochter. Außer den schon angeführten Schriften und zahlreichen Programmabhandlungen („Ueber die Leibesübungen“, „Beiträge zur Realschulfrage“, „Ueber den neusprachlichen Unterricht“) und außer verschiedenen Aufsätzen im Pädagogischen Archiv (z. B. „Zur Concentration des Unterrichts“) hat O. noch folgende Schriften veröffentlicht: „Die Vorbildung für das Lehramt an Realschulen“, 1870; „Volksschule, Bürgerschule und höhere Schule“, 1872; „Ueber das nationale Kaiserthum der Hohenzollern“, 1873; „Ueber nationale Erziehung“, 1874; „Die Conferenz zur Berathung über das höhere Schulwesen des preußischen Staates“, 1874; „Die Umgestaltung des hiesigen Volksschulwesens“, Düsseldorf 1876. Eine Lebensskizze oder Lebensgeschichte Ostendorf’s ist, soweit mir bekannt, bisher nicht geschrieben: die Quellen für die obigen Mittheilungen sind vornehmlich: die Programme der von O. geleiteten Anstalten; verschiedene Acten, in welche mir gütigst Einsicht gestattet wurde; private Mittheilungen, welche ich der Familie, besonders der Frau Dr. O. und mehreren seiner ehemaligen Amtsgenossen, namentlich Herrn Professor Lottner in Lippstadt, zu danken habe.