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Artikel „Noë, Heinrich“ von Viktor Hantzsch in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 52 (1906), S. 642–645, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:No%C3%AB,_Heinrich&oldid=- (Version vom 13. Oktober 2024, 07:38 Uhr UTC)
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Noë: Heinrich August N., einer der besten deutschen Naturschilderer und anziehendsten Reiseschriftsteller, ist als Sprößling einer alten Hugenottenfamilie am 16. Juli 1835 in München geboren. Sein Vater, ein königlicher Beamter, wurde von hier aus zunächst nach Augsburg, dann nach Aschaffenburg versetzt. Der Sohn besuchte die Gymnasien dieser Städte und studirte dann seit 1853 in München, später in Erlangen Naturwissenschaften und vergleichende Philologie. Unterstützt durch ein hervorragendes Sprachentalent und ein vortreffliches Gedächtniß, eignete er sich allmählich in 18 fremden Idiomen vom Sanskrit bis zum Russischen gute Kenntnisse an. Dadurch erregte er die Aufmerksamkeit des Professors Karl Halm, eines ausgezeichneten Sprachforschers. Als dieser 1857 die Leitung der kgl. Hof- und Staatsbibliothek in München übernahm, bot er ihm eine Assistentenstelle an diesem berühmten Institut an. N. ging auf den Antrag ein und wirkte mehrere Jahre bei der Ordnung und Vermehrung der fremdsprachlichen Bücherbestände mit. Auch übernahm er infolge seiner Sprachgewandtheit den Verkehr mit den ausländischen Besuchern. Der dadurch vermittelten Bekanntschaft mit einigen englischen Gelehrten verdankte er es, daß ihm ein gut bezahlter Posten am Britischen Museum in Aussicht gestellt wurde. Er lebte einige Zeit in London, um einen Einblick in die Verhältnisse zu gewinnen, in denen er leben sollte. Indes vermochte er sich weder mit dem Klima noch mit dem Getriebe der Weltstadt zu befreunden, und so kehrte er bald nach München in die gewohnten Verhältnisse zurück. Im Laufe der Jahre glaubte er zu bemerken, daß die Sehkraft seiner Augen wesentlich abnahm. Auch schien es ihm, als ob die sitzende Lebensweise seiner Gesundheit nicht zuträglich sei. Da er überdies schon seit früher Jugend einen starken Drang nach Freiheit und Unabhängigkeit empfand, wurde ihm der tägliche Dienststundenzwang, den sein Beruf mit sich brachte, allmählich unerträglich. Jahrelang kämpfte er mit dem Gedanken, sein Amt niederzulegen, doch schreckte ihn die Besorgniß vor völliger Mittellosigkeit immer wieder ab. Erst als es ihm gelungen war, Beziehungen zu einigen angesehenen Zeitungen anzuknüpfen, die seine schriftstellerischen Versuche gern annehmen, glaubte er den Schritt ins Ungewisse wagen zu dürfen. Sehr gegen den Willen seiner Angehörigen gab er 1863 seine Stellung an der Hofbibliothek auf und begann nun, nachdem er noch für alle Fälle in Erlangen den philosophischen Doctortitel erworben hatte, im berauschenden Wohlgefühle seiner völligen Ungebundenheit als Landfahrer umherzuziehen. Er durchstreifte Süddeutschland, Oesterreich, Italien, Frankreich und einen Theil Spaniens, kehrte aber immer wieder nach den deutschen Alpen zurück, die er über alles liebte. Wo es ihm gefiel, ließ er sich zu längerem Aufenthalte nieder, nirgends aber vermochte er dauernd Fuß zu fassen. Anfangs wählte er München zum Ruhesitze, um seinen alten Freunden nahe zu sein. Als er aber hier in den einflußreichen Kreisen durch zwei politisch-satyrische Flugschriften: „Ach wie dumm geht es in Baiern zu“ und „Gottes Zorn“ (beide 1866) Anstoß erregt hatte, siedelte er nach Mittenwald über, das nun für mehrere Jahre der Ausgangspunkt seiner Alpenwanderungen wurde. Im Herbst 1875 ließ er sich in Wien nieder, um die Redaction der „Alpenzeitung“ zu übernehmen. Aber auch hier hielt er nicht lange aus. Dann zog er als Culturnomade in den österreichischen Alpen und den Donauländern umher. Den Sommer verbrachte er meist in Tirol, Kärnten, Krain oder Istrien, den Winter vorzugsweise in Oberitalien, am Gardasee oder in dem von ihm als Curort entdeckten und eindringlich empfohlenen Abbazia. 1879 trug er sich mit dem Plane, [643] sein Heim in dem eben erst occupirten Bosnien aufzuschlagen; doch schreckte ihn die Unsicherheit der politischen Verhältnisse schließlich wieder davon ab. Seit 1884 fand er eine Zuflucht in Görz; doch wurde ihm der Aufenthalt bald durch verdrießliche Streitigkeiten mit italienischen Irredentisten verleidet. Als ihn die Beschwerden des vorzeitig herannahenden Alters zu drücken begannen, zog er 1890 für mehrere Jahre nach Abbazia, dessen mildes Seeklima ihm wohl that. Aber finanzielle Sorgen lasteten schwer auf ihm, und so sah er sich im Sommer 1893 genöthigt, eine ihm angetragene Stellung als Redacteur der „Laibacher Zeitung“ anzunehmen. Auf diesem vorgeschobenen Posten des Deutschthums vertrat er kräftig seine nationalen Ueberzeugungen. Aber dadurch zog er sich die unversöhnliche Feindschaft einiger Wortführer der slovenischen Bewegung zu, die ihn auf alle Weise bekämpften. Da er sich nicht mehr frisch genug fühlte, um den unaufhörlichen Angriffen der Gegner Stand zu halten, legte er sein Amt nieder und verließ Laibach. Wiederum zog er ruhelos in Steiermark und Tirol umher, bis er endlich in Gries bei Bozen eine Heimath fand. Ein schwerer Schicksalsschlag war für ihn der unerwartete Tod seiner ältesten Tochter Maria Walpurgis, die ihn seit Jahren als verständnißvolle und unentbehrliche Helferin bei seinen litterarischen Arbeiten unterstützt hatte. Seitdem fühlte er Lebensmuth und Spannkraft unwiederbringlich schwinden. Anzeichen eines beginnenden Gehirnleidens stellten sich ein, das von ärztlicher Seite bald als unheilbar erkannt wurde. In seiner Noth suchte er im Wein noch mehr als früher Trost und Vergessenheit. Eine Kaltwassercur in Thalkirchen bei München brachte nur scheinbare Besserung. Schließlich sah er sich genöthigt, das Bozener Krankenhaus aufzusuchen. Hier starb er am 26. August 1896 nachts 12 Uhr. Auf dem evangelischen Friedhofe fand er seine Ruhestätte. Ein bescheidenes Denkmal, von Freunden gestiftet, schmückte sein Grab.

N. war ein Mann von großem, kräftig gebautem Körper und überaus lebhaftem Geiste. An Unterhaltungsgabe kamen ihm Wenige gleich. Auch im Fußwandern nahm er es mit Jedem auf; doch liebte er die gemächlichen Thalwege und mied die lebensgefährlichen Gipfel. Auf Aeußerlichkeiten legte er nicht den geringsten Werth. Es störte ihn nicht im mindesten, wenn er unterwegs wegen seiner nachlässigen Kleidung mit einem Holzknecht verwechselt wurde. Die Grenzen, welche Convention und Sitte ziehen, hielt er niemals ängstlich inne; aber sein angeborenes Feingefühl bewahrte ihn vor groben Ausschreitungen und vor Verwilderung. Wein, Weib und Gesang wußte er zeitlebens hoch zu schätzen. Einen guten Trunk verschmähte er nie, und in späteren Jahren ergab er sich dem Alkohol mehr, als ihm zuträglich war. Die Frauen verwöhnten ihn um seines stattlichen Wuchses, seiner edlen Gesichtsbildung und seiner bestrickenden Liebenswürdigkeit willen, die sich in frohen Stunden entfaltete. Trotzdem verlief seine erste Ehe unglücklich und endigte mit einer wenig erfreulichen Trennung. Später lebte er mit einer Freundin in einer Art Gewissensehe, aus der zwei Töchter hervorgingen. Manchmal überkam ihn ein Hang zur Einsamkeit. Dann zog er sich in irgend ein entlegenes Alpenthal zurück und hauste wochenlang fern von jeder Cultur als bedürfnißloser Naturmensch in einer unbewohnten Sennhütte oder gar in einem offenen Heuschuppen. Die Unbilden der Witterung ertrug er mit bewunderungswürdiger Widerstandsfähigkeit. Gern verglich er sich mit dem nordamerikanischen Einsiedler Henry David Thoreau, dessen tiefsinniges Buch „Walden oder das Leben in den Wäldern“ ihn immer von neuem anzog. Wie dieser philosophische Waldmensch gelangte er allmählich durch seinen vertrauten Umgang mit der Natur zu einer mystischen Weltanschauung, die ihn lehrte, auch [644] die unbedeutendsten Ereignisse im Lichte der Ewigkeit zu betrachten. Kirchliche Frömmigkeit lag ihm allerdings fern, und so hatte er wiederholt verdrießliche Auseinandersetzungen mit der Geistlichkeit. Seine unbegrenzte Liebe zur Natur und das feinsinnige Verständniß, das er ihrer Schönheit entgegenbrachte, kommt auch in vielen seiner Schriften zum Ausdruck und verleiht ihnen einen eigenartigen Reiz. Die Zahl seiner Werke ist sehr beträchtlich. Allerdings sind nicht alle von gleichmäßiger Güte. Neben ausgereiften glänzenden Leistungen von dauerndem Werthe finden sich Arbeiten, welche der Auftrag eines Verlegers oder die Sorge ums Brot in wenig Wochen ohne Lust und Liebe entstehen ließ und die sich darum nicht über die gewöhnliche Reiselitteratur erheben. Beim großen Publicum fanden seine Bücher im allgemeinen nicht den verdienten Anklang, sodaß nur wenige mehrere Auflagen erlebten. Am höchsten stehen nach Inhalt und Form seine Landschaftsschilderungen aus den Alpen und ihren Nachbargebieten, die eine reiche Fülle anregender Gedanken und feinsinniger Naturbeobachtungen enthalten und noch heute von jedem Freunde der Berge gelesen werden sollten: „Bairisches Seebuch“ (München 1865), „In den Voralpen“ (ebd. 1865), „Oesterreichisches Seebuch“ (ebd. 1867), „Neue Studien aus den Alpen“ (ebd. 1868), „Der Frühling von Meran“ (Meran 1868), „Brennerbuch“ (München 1869), „Dalmatien und seine Inselwelt“ (Wien 1870), „Bilder aus Südtirol und von den Ufern des Gardasees“ (München 1871), „Italienisches Seebuch“ (Stuttgart 1872), endlich das vierbändige „Deutsche Alpenbuch“ (Glogau 1875–78). Sie bieten eine willkommene Ergänzung zu den rein praktischen Zwecken dienenden Reisehandbüchern, indem sie vor Antritt der Reise den Leser in die rechte empfängliche Stimmung versetzen und seine Aufmerksamkeit auf die zu erwartenden Schönheiten lenken, nach der Rückkehr aber das Gesehene geistig und gemüthlich vertiefend deuten und erklären und dadurch aus einem flüchtig vorübergerauschten Sinneseindruck in einen dauernden Gewinn verwandeln. Von bewunderungswürdiger Treue und Anschaulichkeit sind namentlich die Schilderungen der Alpenwelt im Wechsel der Jahreszeiten und die Betrachtungen über Charakter und Sitten des Volkes in einzelnen Gegenden. In späteren Werken Noë’s mischt sich ein nicht Jedem ohne weiteres verständliches und genießbares grüblerisches und mystisches Element in die Naturschilderung. Hierher gehören: „Winter und Sommer in Tirol“ (Wien 1876), „Ein Tagebuch aus Abbazia“ (Teschen 1884), „Die Jahreszeiten“ (Görz 1888), „Sinnbildliches aus der Alpenwelt“ (Klagenfurt 1890), „Bergfahrten und Raststätten“ (München 1892), „Deutsches Waldbuch“ (ebd. 1894), „Edelweiß und Lorbeer“ (ebd. 1896). Als sein Ruf als gründlicher Kenner der Alpen feststand, wurde er von buchhändlerischer Seite wiederholt aufgefordert, Reisehandbücher über größere Gebiete oder Monographien über einzelne vielbesuchte Gegenden und Orte zu verfassen. Für Meyer’s Reisebücher bearbeitete er den 1. Band der „Deutschen Alpen“ (Leipzig 1877), für den Verlag von Leon in Klagenfurt mehrere kleine Führer (Ampezzo und seine Dolomiten; Gastein und seine Nebenthäler; von Klagenfurt nach Villach, Tarvis und zu den besuchtesten Kärtner Seen, sämmtlich 1880) und für die Direction der österreichischen Südbahngesellschaft eine Beschreibung ihrer Brennerlinie (Wien 1881). Zu der in Zürich erscheinenden Sammlung „Europäische Wanderbilder“ steuerte er mehrere Hefte bei, die auch in französischer und englischer Uebersetzung erschienen: „Villach und seine Umgebung“ (1882), „Die österreichische Südbahn“ (1883), „Die Brennerbahn vom Innstrom bis zum Gardasee“ (1883), „Von der Drau zur Adria“ (1884), „Gmunden“ (1890). Andere Localführer behandeln Bozen (zuerst 1880, dann in veränderter Gestalt 1898 mit dem Bildniß und Lebensabriß des Verfassers von seinen Freunden [645] herausgegeben), Gossenspaß (1898), Innsbruck (1889), Arco (1890), Görz (1891), Mittenwald in Tirol (1894) und das Berchtesgadener Land (1898).

Man würde Noë’s litterarische Thätigkeit nicht allseitig überschauen, wenn man nicht auch seiner dichterischen Neigungen gedenken wollte. Schon als Student übte er sich im Uebersetzen fremdsprachlicher Dichtungen. 1861 ließ er eine Auswahl aus den Werken des russischen Lyrikers Tschjutschew erscheinen. Später wendete er sich hauptsächlich dem Roman und der Novelle zu. Viele dieser Arbeiten blieben unvollendet, nur wenige wurden veröffentlicht: „Dies irae“ (München 1872), „Erzählungen und Bilder“ (ebd. 1873), „Die Brüder“ (Berlin 1873), „Der Zauberer des Hochgebirgs“ (ebd. 1874), „Gasteiner Novellen“ (Wien 1875), „Robinson in den hohen Tauern“ (Jena 1875) und „Geschichten aus der Unterwelt“ (Wien 1892). Als seine Kinder heranwuchsen, schrieb er zunächst für sie, dann aber auch für andere allerlei Jugenderzählungen, in denen aber zuweilen das Unheimliche und Schauerliche allzu stark hervortritt: „Die Reise in den Naßwald“, „Die Pioniere der Unterwelt“, „Am Hofe der Babenberger“, „Der Wildgärtner von Heiligenblut“, „Die Fahrt der Sibylle“, „Primus und Samo“ (sämmtlich Teschen 1886). Außer diesen selbständigen Werken verschiedensten Werthes und Umfangs hat N. noch eine unübersehbare Zahl von kleineren, meist gern gelesenen Aufsätzen schildernden, beschreibenden oder erzählenden Inhalts verfaßt, die er theils in den von ihm selbst vorübergehend herausgegebenen Zeitungen, theils in der Allgemeinen Zeitung, der Neuen Freien Presse, der Wiener Zeitung und anderen angesehenen Tagesblättern, endlich auch in der Gartenlaube und ähnlichen populären Zeitschriften veröffentlichte. Einige seiner Bücher sind aus solchen Feuilletons hervorgegangen. Manche, die zu guter Stunde in glücklicher Stimmung geschaffen waren, verdienen es, gesammelt und durch einen Neudruck gerettet zu werden, die meisten aber sind mit Recht versunken und vergessen.

Biographisches Jahrbuch I, 1897, S. 447 f. (Franz Brümmer) und II, 1898, S. 417–424 (Hans Grasberger). – Persönliche Mittheilungen von Friedrich Ratzel †. – Mittheilungen des Deutschen und Oesterreich. Alpenvereins XXII, 1896, S. 219 f. (J. C. Platter). – Beilage zur Allgemeinen Zeitung 1898, Nr. 148 (Friedrich Ratzel).