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Artikel „Nittinger, Gottlob“ von Paul Beck in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 23 (1886), S. 715–718, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Nittinger,_Gottlob&oldid=- (Version vom 8. Dezember 2024, 13:11 Uhr UTC)
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Nittinger: Karl Georg Gottlob N., Arzt und Impfgegner κατ᾿ ἐξοχὴν, geb. am 23. November 1807 zu Bietigheim, einem kleinen Städtchen in Würtemberg, † in Stuttgart am 8. März 1874, frühzeitig Waise und in harter Jugend aufgewachsen, besuchte, anfänglich zur Theologie, dann wegen Mittellosigkeit für das Lehrfach bestimmt, die Schulen seiner Vaterstadt, hernach die lateinische Anstalt zu Nürtingen und das Schullehrerseminar in Eßlingen, in welchem er als Amanuensis und Liebling des bekannten Professors Hochstetter zugleich eine treffliche Ausbildung in den Naturwissenschaften erhielt. Nach der herkömmlichen Lehrgehülfenzeit hatte er das Glück, Hauslehrer bei den Kindern (u. a. bei dem Herzog[1] Alexander, dem nachmaligen begabten, frühverstorbenen Dichter) des Herzogs Wilhelm von Würtemberg in Stetten i. R. zu werden, bei welchem als einem großen Freunde der Naturwissenschaften und die Medicin selbst praktisch ausübenden Herrn er den ersten Grund zu seinem späteren Berufe [716] legte. Eine entscheidende Wendung nahm sein Lebensweg, als er bald darauf einen ehrenvollen Ruf als Lehrer an das damalige englisch-französische Institut nach Frankfurt a. M. bekam, von wo aus er im J. 1832 auf Veranlassung der Familie seiner dortigen Verlobten, zugleich seinem eigenen Herzenswunsche folgend, zum Studium der Medicin in Heidelberg und Würzburg überging. Auf ersterer Hochschule schloß er sich der Burschenschaft an und ließ sich zur Theilnahme an dem Frankfurter Attentate hinreißen, was für ihn noch glimpflich genug ablief und woraus er sich auf Zeit seines Lebens eine Lehre zog. Nach in Würzburg mit Auszeichnung abgemachter Promotion „de statu putrido cum febre“ versah er während der Saison des Jahres 1834 die Stelle eines Vicebadarztes zu Kissingen, begab sich dann auf eine wissenschaftliche Rundreise, welche ihn im J. 1836 u. a. auch nach Wien führte, als kurz darauf daselbst die Cholera ausbrach. Sofort stellte er sich Professor Rokitansky zur Verfügung und hielt über die ganze Dauer der Epidemie aus. Die gleiche Seuche traf er hernach auf der Heimreise von Oberitalien in München an. Anfangs des Jahres 1837 wandte er sich zur Fortsetzung seiner Studien, namentlich behufs seiner Ausbildung in der operativen Chirurgie zunächst nach Straßburg und im Herbste darauf nach Paris, woselbst er die Kliniken und Vorlesungen der berühmtesten Professoren jener Zeit: Magendie, Velpeau, Lisfranc, Roux, Civiale, Cloquet, Sichel, Ricord, Bazin etc. besuchte. Sein weiteres Vorhaben, die damalige schweizerische Handelsexpedition um die Welt als einer der Assistenten des Naturforschers Tschudi, eines früheren Studienfreundes von N., zu begleiten, konnte er nur zum Anfang ausführen, da er während der Fahrt auf der Höhe von Gibraltar schwer erkrankte und nach länger nöthig gewordener Verpflegung zuerst in Algesiras, dann in Lissabon in die Heimath zurückkehren mußte. Nun ließ er sich nach mittlerweile erstandenem Staatsexamen und nachdem zum zweiten Male die harte Prüfung über ihn gekommen, die Verlobte durch den Tod verlieren zu müssen, im J. 1839 in Stuttgart als praktischer Arzt nieder. Bald hatte er sich in der großen Stadt eine ausgebreitete Praxis errungen; dem nahen Berg wurde er der Gründer seines Glückes, indem er im J. 1840 den Besitzer der bis dahin unbenützt gelassenen Sprudelquelle mit ihrem Mineralwasser zur Errichtung des Badeetablissements veranlaßte; ebenso führte er das Magnesiumwasser in Stuttgart ein. Auch am öffentlichen Leben nahm der joviale Mann regen Antheil; eine Zeitlang, zu Anfang der 1840er Jahre, war er, selbst tüchtiger Musiker und Componist (z. B. der Schiller’schen Ode „An die Freude“), Mitvorstand des Stuttgarter Liederkranzes, des damaligen Mittelpunktes des geselligen Lebens. An dem stürmischen Jahr 1848, dessen Wogen auch in der Schwabenresidenz hochgingen, nahm der einstige Demagoge und Hauptwachstürmer von 1833, vielleicht wider Erwarten mancher, keinen activen Antheil. Nicht als ob ihn die Bewegung ganz kalt gelassen hätte, aber all’ sein Sinnen und Trachten hatte sich – abgesehen davon, daß seine Lebenserfahrungen ihn von Ueberstürzungen etc. abhielten – bereits ein anderes Ziel und Streiten vorgenommen – den Kampf gegen das Impfen und den Impfzwang. Längst schon hatte er an so vielen hergebrachten Heilmethoden der alten Schule, namentlich an den sogenannten „Giftkuren“ Anstand genommen und eine Reform durch eine gründliche Umkehr zu den kosmischen Heilmitteln der Natur im Auge; der ärgste Gräuel war für ihn aber die Einimpfung des Thiergiftes von der Kuh, die von ihm sogenannte „Virusation“. In Würtemberg, dem „deutschen Impfparadies, wie er es nannte, war der Impfzwang durch ein am 25. Juni 1818, somit noch vor dem Inkrafttreten der Verfassungsurkunde erlassenes Gesetz eingeführt, welches von der Annahme ausging, „daß die Impfung vor den natürlichen Blattern unbedingt sichere“. Nachdem N., der sich von Anfang der Impfung [717] nur mit dem größten Widerwillen unterzogen, im September 1847 zum letzten Male geimpft, leitete er den Widerstand gegen dieselbe zunächst in der Presse ein und ging dann mit den beiden rasch aufeinander erschienenen Broschüren „Darf weiter geimpft werden? etc.“ und „Das württembergische Impfgesetz“ (beide Stuttgart 1848), welchen im J. 1849 die weitere Schrift „Die 50jährige Impfvergiftung des württembergischen Volkes“ folgte, zum förmlichen Angriff über; und von nun an war sein Leben ein fortwährender, nie ruhender Kampf gegen das „Impfdogma“. Weder Autoritätsglaube, Polizeistrafen, Confiscationen, Auspfändungen, noch Hohn, Spott, Enttäuschungen aller Art etc., nichts war im Stande, ihn von der Bahn, die er einmal für die richtige erkannt, abzubringen. Auf das würtembergische Medicinalcollegium und auch auf die Mehrzahl der würtembergischen Aerzte, welche sich in dem „württembergischen ärztlichen Vereine“ verkörperten, blieb die Bewegung ohne Eindruck; ebenso hatten die wiederholten, von verschiedenen Kreisen der Bevölkerung ausgegangenen Petitionen an die würtembergische Ständeversammlung nur einen geringen Erfolg. Dadurch ließ sich N. aber nicht entmuthigen; im Gegentheil erhob er, beider Mittel gleich mächtig, in Wort und Schrift nur um so lauter im In- und Auslande seine Stimme. Das Feld seiner agitatorischen Thätigkeit – und ein Agitator im wahrsten Sinne des Wortes war er – erweiterte sich immer mehr und dehnte er es nach und nach beinahe auf ganz Europa, Frankreich, England, Italien, Schweden-Norwegen, die Niederlande etc. aus; so wohnte er, einer Einladung folgend und überall seine Sache selbst verfechtend, im J. 1860 dem Congrès scientifique de France zu Cherbourg und das Jahr darauf dem zu Bordeaux an, welch’ letzterem er seinen Atmosphärenatlas (das sogenannte „Atmosphärion“) vorlegte – ein Werk immensen Fleißes, in welchem auf 50 Blättern die Temperatur der ersten 50 Jahre dieses Jahrhunderts Tag für Tag ziffermäßig verzeichnet ist, um an der Hand derselben darzuthun, wie alle Blatternjahre in die niedere Zone fallen und in mittleren und obersten Wärmeregionen keine epidemische Pocken überhaupt mehr vorkommen und daran seine weiteren Schlüsse zu knüpfen. Eines seiner hervorragendsten Werke: „Jenner’s Gant etc.“ (1862), nach der Rückkehr von Bordeaux verfaßt, gibt das auf beiden Congressen vorgeführte Material und entwickelt zugleich die bereits in dem „Testamente der Natur“ niedergelegten Grundlagen seines kosmo-dynamischen Systems („Zur Reform des Mechanisch-dynamischen, d. i. Allopathie“) weiter. „Wol das bedeutendste Resultat seiner naturwissenschaftlichen Forschungen ist die Entdeckung der Blau- und Oxalsäure im Kosmos und deren Mutter, des Cyans, als des ursprünglichen Pockenstoffes im Blute des Menschen.“ Seine sämmtlichen weiteren, durchweg polemisch gehaltenen – mit allem möglichen nicht zur Sache gehörigen, hin und wieder geradezu phantastischen Beiwerke, mit vielen originellen Einfällen und Kernsprüchen, aber auch mit Ausfällen aller Art ausgestatteten – Schriften, ob deren Zahl (etliche 20) man sich erstaunt fragt, wo der vielbeschäftigte Mann nur die Zeit dazu hernahm, – anzuführen, würde hier zu weit gehen. Im großen Ganzen lassen dieselben mehr oder weniger an Form und Klarheit zu wünschen übrig; ebenso sind sie nicht frei von gewagten Behauptungen, wie z. B. die Cholera sei ein Kind der Vaccination etc. Zu einem Abschlusse seines Systems eines richtigen Naturheilverfahrens, wie er es sich zurechtgelegt hatte, ist der im 67. Jahre nach einem reichbewegten Leben voll Kampf und Arbeit Dahingegangene nicht gekommen. Sind auch die meisten seiner Werke bereits überholt, so wird bei allen seinen der Sache nicht zuträglichen, übrigens manchmal auch durch die Kampfweise der Gegner provocirten Ungehörigkeiten und vor allem bei seiner bis zum Fanatismus gehenden Leidenschaftlichkeit doch der Name Nittinger’s in den Annalen der Impfgegner als eines ihrer bahnbrechendsten, überzeugungstreuesten [718] und energischsten Vorkämpfer, nicht minder als eines echten self made man und eines Originalmenschen fortleben. Ueber seine Grundanschauungen selbst läßt sich aber erst dann ein endgültiges Urtheil abgeben, wenn einmal – vielleicht erst in ferner Zeit – die fortschreitende Wissenschaft in einer bis jetzt noch so offenen und ungelösten Frage, wie es das (in neuerer Zeit auch sonst zur Anwendung gebrachte) Impfen ist, das letzte entscheidende Wort gesprochen haben wird.

N.’s Biographie, ein Lebens- und Kampfesbild etc. Stuttgart 1874; und die in derselben aufgeführten Schriften und Werke N.’s; Zeitungslitteratur aus der Zeit des Impfstreites etc.

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. S. 715. Z. 4 v. u. l.: Grafen statt Herzog. [Bd. 26, S. 832]