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Artikel „Lange, Wichard“ von Ferdinand Sander in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 51 (1906), S. 578–581, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Lange,_Wichard&oldid=- (Version vom 23. November 2024, 04:50 Uhr UTC)
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Lange: Wichard L., Schulmann, † am 10. Januar 1884. – Friedrich Wichard L. war am 20. Mai 1826 in Krampfer bei Perleberg, Kreis Westprignitz, geboren. Sein Vater, Joachim Lange, war Schafmeister auf dem dortigen von Möllendorf’schen Rittergute, ein Autodidakt, der seine geringe Schulbildung in achtungswerthem Fleiße noch beim Hüten seiner Herde wesentlich zu ergänzen verstanden hatte. Strickend hinter seinen Schafen, dichtete er zur Zeit der Erhebung Preußens 1813–15 patriotische Lieder, die sich durch markige Sprache ausgezeichnet haben sollen. Auch die Mutter wird als tüchtige Frau von ungewöhnlicher Schärfe des Urtheiles, Kraft des Willens und von seltener Aufopferungsfähigkeit bezeichnet. Früh erwachte in dem begabten Knaben der Trieb zum Lernen und zum Lehren. Der Ortslehrer, Kantor Möhring, bereitete ihn mit anderen Knaben so weit vor, daß er nach absolvirter Volksschule in die Präparandenanstalt zu Pritzwalk, Ostprignitz, aufgenommen werden konnte, von wo er 1844 zu dreijährigem Besuche in das von Diesterweg geleitete Seminar für Stadtschulen zu Berlin überging. Hier knüpfte sich bald ein engeres Band zwischen Lehrer und Schüler, das bis zu Diesterweg’s Tode (1866) sich bewährte. Der Meister wies dem jungen L. mehrfach Privatunterricht in Berliner Familien zu und erwählte ihn nach absolvirtem Seminarcursus zum Hülfslehrer der Anstalt. Im Seminar wandte der strebsame Jüngling sein Interesse besonders der Mathematik, Physik und Geographie zu. Auch hörte er nebenher Vorlesungen an der Universität, z. B. Physik bei Magnus. Diesterweg’s Empfehlung brachte L. auch Ostern 1848 nach Hamburg, wo dieser fortan die Stätte langjähriger erfolgreicher Thätigkeit als Lehrer und Erzieher fand. Er wurde dort zuerst Lehrer an der höheren Bürgerschule von Dr. Alexander Detmer. Er gewann bald Ansehen und Vertrauen. Auf Veranlassung und mit Beihülfe des hamburgischen Fabrikherren Friedrich Traun und seiner Frau unternahm er 1849 eine Studienreise nach England, Belgien und den Rheinlanden, um Erfahrungen für eine Schule zu sammeln, die Herr und Frau Traun für die Kinder der Arbeiter des Geschäftes H. C. Meyer, an dem sie betheiligt waren, planten. Die Absicht, auch Paris zu besuchen, mußte L. der dort herrschenden Cholera wegen aufgeben. Heimgekehrt, erfuhr er, daß seine Gönner den alten Plan aufgegeben und Friedrich Fröbel nach Hamburg eingeladen hatten, um mit dessen Beirath eine Anstalt für das vorschulpflichtige Alter zu begründen. Enttäuscht trat er nun in sein altes Verhältniß an der Detmer’schen Schule zurück und bekämpfte anfangs in den Berathungen über das Projekt, zu denen man ihn einlud, Fröbel’s Gedanken. Indeß traf er bei einer dieser Gelegenheiten mit Alwina Middendorff, der Tochter von Fröbel’s Mitarbeiter Wilhelm Middendorff (1793–1854), zusammen, die den ersten von Frau Doris Lütkens, geb. v. Cossel, eingerichteten Kindergarten Hamburgs leitete, und wurde durch sie bald mit Fröbel näher bekannt. Rasch vollzog sich nun die [579] Wandlung seiner Ansichten, aus der er als Anhänger Fröbel’s und als Bräutigam Alwina’s hervorging. Das Weihnachtsfest 1849 verlebte das Brautpaar in Keilhau, wo L. vollends in den dortigen Fröbel’schen Kreis sich einlebte. Er war bereit, dort als Mitarbeiter einzutreten. Allein dieser Plan zerschlug sich, besonders, wie es scheint, durch den Widerspruch Barop’s, des Vetters seiner Alwina. – So galt es, in Hamburg für den neuen Haushalt eine festere Grundlage zu schaffen. Sie fand sich, indem L., der inzwischen auch die Doctorwürde erlangt hatte, zu Ostern 1851 die Concession für die Leitung einer höheren Knabenschule erhielt und durch Traun’s vertrauensvolles Entgegenkommen in Stand gesetzt wurde, alles zur rechtzeitigen Eröffnung seiner „Realschule“ vorzubereiten. In den Osterferien fand in Keilhau die Hochzeit statt. So war denn in zwiefacher Hinsicht Lange’s Lebensglück begründet. Die Gattin bewährte sich in zweiunddreißigjähriger Ehe als treue, auch für das Berufswirken ihres Mannes verständnißvolle Gehülfin, die vortrefflich vor allem auch seine sanguinische Reizbarkeit gegenüber unliebsamen Erfahrungen zu mäßigen und zu mildern wußte. Ueberdies gewann er durch sie an ihrem Vater für die ersten Jahre seines schweren Unternehmens neben dem allzeit getreuen Lehrer Diesterweg einen zweiten väterlichen Berather. Die Schule gedieh und stand bald in der ersten Reihe der höheren Privatschulen, denen in Hamburg dazumal noch das ganze weite Gebiet außerhalb der gelehrten Schule (Johanneum) und des Realgymnasiums (seit 1834) überlassen war. Lange’s Bemühen, seine Anstalt ganz im Geiste Pestalozzi’s und Diesterweg’s als Lehr- und Erziehungsanstalt zugleich zu organisiren, war um so verdienstlicher, da er die meist in sehr jugendlichem Alter eintretenden Gehülfen bei dem Mangel einer geregelten Vorbildung in Hamburg sich oft erst selbst didaktisch und pädagogisch erziehen mußte. Eine ganze Reihe tüchtiger Schulmänner ist auf diese Weise durch L. vorgebildet worden, die in ihm ihren Meister und ihr Vorbild verehrten und noch verehren. Zeitweilig war mit der Realschule auch eine gelehrte Abtheilung verbunden, die für die oberen Gymnasialclassen vorbereitete. Es genüge, vorab zu bemerken, daß er seine Anstalt auch da auf der Höhe zu erhalten verstand, als nach 1866 und 70 in Hamburg eine straffere Ordnung des Schulwesens eintrat und mit dem preußischen Berechtigungswesen höhere Ansprüche an die Vorbildung der Lehrer geltend wurden. Vor allem bewahrte L. selbst jederzeit den Ruf eines ausgezeichneten, anregenden Lehrers. Seine Thätigkeit beschränkte sich jedoch nicht auf den engeren Umkreis seiner Schule. Am Vereinsleben der Hamburger Lehrerwelt betheiligte L. sich besonders als Mitglied des schulwissenschaftlichen Bildungsvereines, in dem seine gründlichen, lehrreichen und anregenden Vorträge stets gern gehört wurden. Oefter ließ er sich auch im Hamburger Schulblatte, dem Organe des genannten Vereines, vernehmen, und wie als Redner, so zeigte er auch als Schriftsteller große Gewandtheit der Form. Das Ansehen, das er sich in weitem Umkreise erwarb, führte 1859 zu seiner Wahl in die Bürgerschaft, der er von da bis 1865 und nochmals von 1874 bis zu seinem Tode angehörte, auch in dieser Körperschaft ein geachtetes Mitglied und ein wirksamer Redner. In die Jahre seiner früheren Zugehörigkeit zu ihr fielen die ersten Verhandlungen über die gesetzliche Regelung des Schul- und Schulaufsichtswesens in Hamburg. L. betheiligte sich rege an den darauf bezüglichen Debatten und gehörte seit 1864 dem bürgerschaftlichen Ausschusse an, der den von der damaligen, provisorischen Oberschulbehörde vorgelegten Entwurf des Schulgesetzes zu begutachten hatte. Er war zwar überzeugt von der Nothwendigkeit festerer Ordnungen auf diesem Gebiete und thatkräftigen Eintretens [580] von Stadt und Staat, besonders für die allgemeine Volksbildung. Wie von einem Schüler Diesterweg’s zu erwarten, wollte er aber der Freiheit und Freiwilligkeit nicht mehr vergeben als durchaus nöthig war. Daß er ein Gegner des mit der allgemeinen Heerespflicht in Hamburg einziehenden Berechtigungswesens und, wenigstens später, ein Freund der allgemeinen Volksschule war, bedarf kaum des Wortes. Als die gesetzliche Regelung des Schulwesens 1870 ins Leben getreten war, wurde L. von der Lehrerschaft (1873) in die Oberschulbehörde gewählt und kam dadurch wieder in die Bürgerschaft, die ihn 1880 in den Bürgerausschuß wählte. In der Oberschulbehörde gehörte er der II. Section (für das höhere Schulwesen) an. Sein politischer wie sein pädagogischer Standpunkt war in allen Hauptfragen der freisinnige seines Lehrers Diesterweg. In der Bürgerschaft hielt er sich zur sog. linken Fraction, jedoch ohne seine persönliche Ueberzeugung in einzelnen Fragen der Parteidisciplin zu opfern. Auch als Freimaurer hat er diese Gesinnung – nach dem am Grabe gesprochenen Nachrufe – durch lange und segensreiche Thätigkeit als Leiter an erster Stelle bewährt und bei den Brüdern des Ordens gepflegt. Endlich war sein Blick keineswegs auf Hamburg, das ihm ganz zur Heimath geworden, beschränkt. Der Einheit und Größe wie der freiheitlichen Entwicklung Deutschlands galt seine volle Liebe, und warm trat er stets für seine Idee der deutschen Nationalschule in Schrift und Wort ein. Dies besonders auf den allgemeinen deutschen Lehrerversammlungen, deren treuer Besucher er war, und deren große Scharen er durch sein lebhaftes Auftreten und durch seine zündende, durch Humor und Satire gewürzte, für manche Hörer freilich allzu wortreiche und pathetische Beredsamkeit oft und zuletzt noch 1883 in Bremen hinzureißen verstand. – Auf einen weiten Umkreis wirkte L. endlich auch als Schriftsteller. Nach Diesterweg’s Tode (1866) übernahm er die Leitung von dessen 1827 begründeter Zeitschrift „Rheinische Blätter für Erziehung und Unterricht“ (Frankfurt a. M. bei Moritz Diesterweg) und gewann damit ein Organ, durch das er manche seiner kleineren fleißigen Arbeiten veröffentlichen konnte. Außerdem besorgte L. die 2. Auflage der pädagogischen Schriften Friedrich Fröbel’s (1874), sowie die Neuherausgabe der Bücher seines verstorbenen Freundes Karl Schmidt: „Geschichte der Erziehung und des Unterrichts“ (3. u. 4. Aufl., diese Köthen 1883) und „Geschichte der Pädagogik“ (4 Bde., 3. Aufl. 1873–76).

Lange’s Lebensende war tragisch und erweckte nah und fern lebhafteste Theilnahme. Am 4. December 1882 verlor er seine treusorgende Gattin, die nach eigenem Bekenntnisse und nach dem Zeugnisse seiner Freunde sein guter Engel und Schutzgeist gewesen war. Seiner tiefen Trauer und seinem heißen Danke gegen die Geschiedesne gab der Wittwer ergreifenden Ausdruck in einem Aufsatze der Rheinischen Blätter (1883, S. 99 ff.). Er fand die Ruhe des Gemüthes und das Gleichgewicht des Geistes nicht wieder nach diesem erschütternden Verluste. Dazu kam ein übles Gerede gegen seine Anstalt, in der Unregelmäßigkeiten bei der Schlußprüfung vorgekommen sein sollten, an denen mindestens der Director völlig unbetheiligt war. Das war zuviel für die seit je reizbaren und jetzt aufs äußerste erregten Nerven des kranken Mannes. Statt dem im Finstern schleichenden Feinde mit festem Blicke gegenüberzutreten, suchte und fand er am 10. Januar 1884 freiwillig den Tod in einem Zuflusse der Alster. Allgemeine Bewegung und wärmste Theilnahme an diesem beklagenswerthen Ausgange des beliebten und geachteten Mannes gab sich kund. Der Vorsitzer der Bürgerschaft sagte im Beginne der nächsten Sitzung: „Es ist meine Pflicht, dessen zu gedenken, was L. zu einem hervorragenden Mitgliede dieser Versammlung gemacht hat, der mannhaften Kraft, [581] mit der er seiner Ueberzeugung Ausdruck zu verleihen, der Freimüthigkeit seines Wortes, mit der er oft genug die Versammlung hinzureißen wußte, und die uns noch oft ihn entbehren lassen werden. Wir werden ihn deshalb stets in Ehren halten!“ Nach den Tagesblättern war ein größeres Gefolge und ein feierlicheres Begängniß geraume Zeit in Hamburg nicht gesehen, als das Wichard Lange’s am 13. Januar 1884. – Es gibt einen versöhnlichen Abschluß, daß, wie das Andenken Lange’s unversehrt aus dieser tragischen Krisis hervorging, so sein eigenstes Lebenswerk, die Realschule, noch heute unter der Leitung seines Sohnes Dr. Wichard Lange blüht.

Außer verschiedenen Nekrologen, besonders von Halben in den Rhein. Blättern (1884, III) und handschriftlichen Aufzeichnungen von C. Rud. Schnitger (Eigenthum des Schulwissensch. Bildungsvereines in Hamburg) mehrfache Privatmittheilungen aus Hamburg.