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Artikel „Kruse, Andreas Abraham Theodor“ von Adolf Häckermann in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 17 (1883), S. 254–257, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Kruse,_Andreas_Theodor&oldid=- (Version vom 23. Dezember 2024, 06:57 Uhr UTC)
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Kruse: Andreas Abraham Theodor K., als pommerscher Geschichtsforscher und praktisch um das städtische Gemeinwesen Stralsunds in vielfacher Weise verdient, ward geboren am 23. Mai 1787 zu Alt-Strelitz als Sohn eines Senators daselbst und starb am 29. November 1873 zu Stralsund. Seit 1801 in der Handlung des Kaufmann Glaser zu Stralsund thätig, hatte er in der Folge Gelegenheit, unter den schwierigsten Verhältnissen, als das Land in den Händen der Franzosen und durch die Continentalsperre von Napoleon bedrückt war, seine praktische Tüchtigkeit und regen Eifer für dieselbe zu zeigen, so daß er wiederholt mit Aufträgen zur Vermittelung wichtiger überseeischer Handelsgeschäfte nach England, Dänemark und Schweden in den Jahren 1811–13 gesandt wurde. In jener Zeit, da er sich 17 Monate in London aufhielt, um durch gütlichen Vergleich oder gerichtliche Beitreibung eine Summe von 12 000 Thalern als Schadenersatz für eine leichtfertig unterlassene Versicherung von dem Hause Cowie & Co. einzuziehen, lernte er überall Land und Leute genau kennen und gewann Sinn, Blick und Verständniß für den Großhandel. Da sich der Proceß wegen der Schwerfälligkeit der englischen Jurisdiction in die Länge zog und erst am 19. Januar 1813 vor dem Court of Kings Bench unter Lord Ellenborough’s Vorsitze zu Gunsten des Klägers zur Entscheidung kam, so gewann K. Muße ein genaues Tagebuch zu führen, in welchem er ausführliche Berichte über seine Erlebnisse verzeichnete. Die hinterher folgende Befreiung des Seehandels durch Bewältigung Frankreichs nahm seine kaufmännische Thätigkeit für eigene und fremde Rechnung auf’s Aeußerste in Anspruch. Am 2. November, als eben die Nachricht von dem Siege bei Leipzig eingetroffen war, verließ K. London und kehrte nach Stralsund zurück. Hier übernahm und erweiterte er bald darauf die Glaser’sche Handlung und vermählte sich 1815 mit der jüngsten Tochter seiner Principalin. Sogleich begann auch seine Wirksamkeit auf städtischem, staatlichem und litterarischem Gebiet, besonders für die Geschichte Stralsunds. Die erste Pflicht, welche der junge Bürger der Stadt im communalen Leben übernahm, war herkömmlich die Theilnahme an der Armenpflege, und selbige eröffnete ihm ein weites Feld für sein eifriges Streben und Schaffen. Den Kirchen-, [255] Kloster- und zahlreichen Innungs- und Privat-Armenstiftungen fehlte nämlich eine ausreichende innere Organisation. Auch hatte die französische Occupation eine Fülle von Armuth gebracht und das Gemeindevermögen sowie die einzelnen Bewohner mit Schulden belastet. Es traten deshalb im J. 1817 fünf Rathsherren als Inspectoren, vier Kaufleute als Administratoren und Anfangs 15, später 18 Bürger ersten und zweiten Grades als Armenpfleger zu einem Collegium zusammen, in welches K. aufgenommen und 1824 zum rechnungsführenden Administrator des Johannis-Armenhauses erwählt wurde. Seit jener Zeit beginnt Kruse’s eigenartige Doppelthätigkeit, welche ihn Anfangs praktisch wirken, dann aber die Erfahrungen seines Berufs schriftstellerisch verwerthen ließ. In diesem Sinne haben wir demnach seine 1847 erschienene Schrift „Umriß einer Geschichte der Unterstützungsquellen und des Armenwesens in Stralsund, insbesondere des Johannis-Armenhauses“ als eine Rechenschaft über sein Wirken als Armenpfleger aufzufassen. Nach dem Vorbilde der 1820 in England gegründeten infant-schools richtete K. im Verein mit Pastor Tamms, Kaufmann Rühs, Sarnow und Furchau im Refectorium des alten Franziscanerklosters die Kinderstube zu St. Johannis ein. Schon in den ersten Jahren seines Bestehens erregte dies Institut die allgemeine Aufmerksamkeit und namentlich war es Hamburg, aus welchem dasselbe der Stadt zahlreiche Besucher zuführte und wo man nach solchem Vorbilde ähnliche Anstalten ins Leben rief. Durch Rathsbeschluß erhielt nach Jahresfrist die Anstalt als „Kinderstube der Armenpflege“ einen öffentlichen städtischen Charakter und ward der Administration des Johannis-Armenhauses unterstellt. Als erster Administrator der Armenpflege beschaffte K. mit unermüdlicher Sorgfalt die Geldmittel für die Winterspeisung der Kinder. Auch an der Stiftung der Taubstummenanstalt hatte er neben Furchau, Tamms und Siebe hervorragenden Antheil, welcher von einem so guten Erfolge gekrönt wurde, daß, nachdem sie 25 Jahre als ein Privatinstitut unter der Leitung ihrer Gründer bestanden, ihr 1862 Corporationsrechte verliehen wurden und sie 1865 mit Genehmigung der Stände unter städtisches Patronat trat. Auch als Fabrikant und Kaufmann hat K. für Stralsund hohe Verdienste, insofern er die Anschauungen, welche er während seines Aufenthaltes in England von der dortigen Industrie gewonnen hatte, daheim, wo nach dem Kriege die Gewerbthätigkeit völlig danieder lag, zur Hebung derselben und Bildung der Industriellen zu verwerthen wußte. Im J. 1824 begann er mit der Gründung einer Bibliothek für Handel und Gewerbe, welche aus Zeitschriften und Büchern bestand und deren Verzeichniß nach einigen Jahren schon 1338 Bände aufzählt. Auch die Entstehung der städtischen Gewerbeschule seit dem Jahre 1829 ist namentlich auf Kruse’s Wirken zurückzuführen, insofern er mit Syndikus Brandenburg, Pastor Furchau, Oberbauinspector Michaelis und den Professoren Nizze und Hasenbalg zu einem auf dieselbe gerichteten Verein zusammentrat, während der Unterhalt derselben durch Bürgerschaft, Landstände, königliche Regierung und Kaufmannschaft beschafft ward. Auch nachdem im J. 1832 die Anstalt als Provinzial-Gewerbeschule von der Staatsregierung und der Stadt übernommen und die Aufsicht über dieselbe einem aus Mitgliedern der königlichen Regierung, des Raths und der Bürgerschaft gewählten Curatorium anvertraut worden war, widmete K. noch weiter ihrer Verwaltung mit gleichem Eifer seine Kräfte. Seitdem er 1839 in die Körperschaft der Deputirten der Kaufmannschaft berufen wurde, wußte er in ähnlicher Weise die Handelsinteressen der Stadt zu fördern, indem er ihre Seeverbindungen durch Dampfschifffahrt zu heben suchte und sich das Verdienst erwarb, Stralsunds Rhederei das erste Dampfschiff zugeführt zu haben. Ein erneuter Aufenthalt in England, welcher ihm die binnen 30 Jahren erfolgte Umwandlung des materiellen Lebens durch die Dampfkraft und Eisenbahnen vor Augen führte, ließ es ihm [256] wünschenswerth erscheinen, durch Anlage einer Eisenbahn über Mecklenburg Stralsund direct mit Berlin zu verbinden und verfaßte er zu diesem Zwecke eine Denkschrift „Vorläufige Ansichten über eine Berlin-Neustrelitz-Stralsunder Eisenbahn“, worin er auf die hohe Wichtigkeit des Unternehmens hinwies. Die Staatsbehörden waren jedoch dem Unternehmen nicht günstig, so daß sich das Project trotz vielfach erneuter Bemühung in Wort und Schrift, wie der Aufsatz in Hübner’s Jahrbuch für Staats- und Volkswirthschaft, Artikel in der Stralsunder Zeitung und eine auf ministerielle Veranlassung verfaßte Broschüre „Ueber die Versorgung von Berlin mit Nahrungsmitteln“, Berlin 1853, zuletzt die Schrift „Ueber Scandinaviens Eisenbahn- und Dampfschiff-Verbindungen mit besonderer Rücksicht auf die Seepost zwischen Ystad und Stralsund“ beweisen, zerschlug. Was damals nicht gelingen wollte, ist heute bereits in Ausführung gebracht, und die 1878 eröffnete Nordbahn bezeugt, daß ihre Nothwendigkeit im Staats- und Landesinteresse schon damals mit richtigem Verständniß erfaßt war. Noch wichtiger für seine Lebensentwickelung war seine Stellung als Altermann des Gewandhauses. Indem nämlich nach dem alten Stadtrecht, welches erst durch den 1871 in Kraft tretenden Verfassungsreceß Aenderungen erlitten hat, die Altersleute des Gewandhauses an der Spitze der Bürgerschaft standen und die Verhandlungen des bürgerschaftlichen Repräsentantencollegiums mit dem Rathe leiteten, gewann K. in diesem Amte auf die städtischen Angelegenheiten einen noch erweiterten Einfluß; zugleich erhielt er im Betrachten des reichen Urkundenschatzes dieser Körperschaft die Anregung, sich in die Geschichte Stralsunds zu vertiefen und schriftstellerisch darin thätig zu sein. Gerade nämlich das Collegium der Stralsunder Gewandhaus-Alterleute konnte auf eine inhaltreiche Geschichte zurückblicken, da unter den früh gebildeten Zünften die Innung der Tuchhändler in communaler Bedeutung eine hervorragende Stellung einnahm und das mit dem Jahre 1281 beginnende Originalregister der Compagnie eine höchst ausgiebige Quelle für die Kenntniß der städtischen Angelegenheiten ist. Mit dem größten Eifer wandte er sich diesen Studien zu, welche ihn von nun an bis in sein Greisenalter fesselten. An der Schwelle des Alters stehend, begann er Latein zu lernen, um den Schlüssel zum Verständniß mittelalterlicher Schriften seines Archivs zu erhalten. Auch blieb er nicht bei der Geschichte dieser Institution stehen, vielmehr erweiterten sich seine wissenschaftlichen Bestrebungen naturgemäß zur Erforschung der gesammten Verfassungsgeschichte Stralsunds. Seine historischen Forschungen erschienen gesammelt in den Sundischen Studien 1851–1855 und enthalten 1) Urkundliche Nachrichten zur Geschichte des Gewandhauses, 2) die oben erwähnte Geschichte des Johannisklosters, 3) Darstellung der Stralsunder Stadtverfassung, 4) Darstellung der Machtentwickelung Stralsunds im Hansabunde mit Abbildung von Bertram Wulflam’s Haus und Siegel. Sind auch manche seiner Angaben durch neuere Studien zu berichtigen, so bieten jene Sammlungen dessenungeachtet jedem pommerschen Geschichtsforscher ein unschätzbares Material für die Entfaltung der heimathlichen Cultur und städtischen Verfassung. Aber auch Kruse’s praktische Thätigkeit verdient rühmende Erwähnung, insofern er nicht nur ein beträchtliches, für milde Zwecke bestimmtes Innungsvermögen geschickt und treu mitverwaltete, sondern sich auch zur Aufgabe stellte die Corporation zu vermehren und sie im Sinne ihrer ursprünglichen Stellung als Vereinigungspunkt der Kaufleute für merkantilische Interessen nutzbar zu machen. Als am 2. Januar 1852 in festlicher Weise das 500jährige Bestehen der Altermänner des Gewandhauses gefeiert ward, konnte der damalige Senior derselben mit Befriedigung auf das Gelingen seines Regenerationswerkes zurückblicken. Das Jahr 1848 führte K. aus der Enge provinzieller und städtischer Interessen auf den Kampfplatz des politischen Lebens. Als Deputirter zum Handelscongreß in Frankfurt a. M. vom 1. September bis 7. December dort [257] weilend, war er Zeuge des Ringens in der Paulskirche um die Gestaltung Deutschlands und nahm aus dem Anblick der verwirrten und widerstrebenden Elemente nur Zweifel an dem Gelingen des Einigungswerkes mit in die Heimath. Hier ward K. nun von der conservativen Partei zum Abgeordneten für die zweite Kammer gewählt und hat vom 26. Februar 1849 bis zum J. 1863 ohne Unterbrechung dem gesetzgebenden Körper angehört. Klarheit in der Beurtheilung der gegebenen Verhältnisse, Besonnenheit bei Fassung der Beschlüsse und Festhalten an dem einmal als recht Erkannten, verbunden mit Unabhängigkeit des Charakters, mit immer lebendigem Eifer und unablässigem Fleiße haben K. während der 15jährigen Thätigkeit die Achtung seiner Collegen in der Volksvertretung und das in wiederholter Wiederwahl ausgesprochene Vertrauen seiner Wähler gesichert. Mit seinen Wählern blieb er ein für allemal in ununterbrochener Verbindung und wirkte durch stete Mittheilungen auf Klärung der politischen Ansichten hin. Den Sitzungen des 1849 als Sammelpunkt für die gemäßigten Elemente gegründeten Bürgervereins wohnte er beinahe allwöchentlich bei und machte, so lange er ein Mandat führte, Mittheilungen aus der Volksvertretung, die zum Theil in dem unter seiner Mitwirkung 1849 ins Leben gerufenen Organ des Bürgervereins, dem „Volksblatt für Neuvorpommern und Rügen“, zum Theil in der „Stralsundischen Zeitung“ weiteren Kreisen zugänglich gemacht wurden. Bei Eröffnung der zweiten Kammer am 26. Februar 1849 schloß er sich der Rechten unter Führung des Freiherrn v. Vincke an, welche nur mit Mühe die Anerkennung der octroyirten Verfassung unter Vorbehalt einer Revision durchsetzte. Nach Auflösung der Kammer am 27. April, der ein octroyirtes Wahlgesetz folgte, ward K. wiedergewählt und trat einem sich jetzt bildenden Centrum bei, dessen Programm „das Werk der Einigung Deutschlands unter Preußens Schutz und oberster Leitung“ war. Nach dem Olmützer Vertrage gehörte er jener Gruppe von Männern an, welche mit Schwerin, Auerswald, Vincke, Harkort und Anderen in der zweiten preußischen Kammer an der Verfassung festhielten. Beruf und Pflicht zur Landesvertretung fand er auch in der Ueberzeugung, „daß aus Neuvorpommern und Rügen neben den Interessen der Landwirthschaft auch die des Handels, der Schifffahrt und Gewerbe von einem Sachkundigen wahrgenommen werden sollten.“ Für die Aufhebung des lästigen Sundzolles hat seine sorgfältige und als trefflich anerkannte Berichterstattung wesentlich eingewirkt. Der aus den Eisenbahnverhältnissen sich ergebenden Differenzen mit seinen Wählern und des vorgerückten Alters wegen verzichtete er auf die liebgewordene parlamentarische Wirksamkeit, zog sich immer mehr und mehr von jeglicher öffentlichen Thätigkeit zurück und wandte seine Muße wieder den früher gepflegten geschichtlichen Studien zu. Die letzte Frucht derselben war die „Erinnerung an den am 23. Mai 1470 geschlossenen Stralsunder Frieden“, durch welchen die deutschen Städte der Hansa ihr Haupt über das mächtige Dänemark erhoben. Kruse’s Aufruf, den denkwürdigen Säculartag festlich zu begehen, zündete und er sah am Abend seines Lebens die Sendboten der alten Hansestädte in Stralsunds Mauern versammelt, um einen Bund zur Förderung der Wissenschaft, den Verein für hanseatische Geschichte und Alterthumskunde zu schließen. Von seinen Söhnen haben sich Heinrich, geb. am 15. December 1815, als langjähriger Chefredacteur der Kölnischen Zeitung, sowie als dramatischer Dichter; Karl, geb. am 22. Juni 1828, zur Zeit Provinzialschulrath in Danzig, im praktischen Schulfach und durch schriftstellerische Leistungen in der klassischen Philologie einen Namen gemacht.

Vgl. Dr. Rudolf Baier, Nekrolog in der Strals. Ztg. 1874 Nr. 29 bis 34. – Pyl, Pommersche Geschichtsdenkmäler, S. 12–16.