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Artikel „Kratzenstein, Eduard“ von Otto Kratzenstein in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 51 (1906), S. 362–364, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Kratzenstein,_Eduard&oldid=- (Version vom 28. März 2024, 09:57 Uhr UTC)
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Kratzenstein: Eduard K., Doctor der Theologie und Missionsinspector in Berlin, ist am 29. October 1823 in Quedlinburg geboren. Er besuchte das dortige Melanchthon-Gymnasium, nahm aber, da der Vater ihn anfangs nicht – wie es sein Wunsch war – studiren lassen wollte, in Secunda weder am griechischen noch am hebräischen Unterricht theil und holte diese Gegenstände, nachdem der Vater seine Einwilligung zum Studium gegeben hatte, erst in Prima durch Privatunterricht nach. Trotzdem konnte er schon nach 8 Schuljahren mit einem vorzüglichen Abgangszeugniß zur Universität gehen. Er wandte sich nach Halle um Theologie zu studiren. Zwei seiner dortigen Lehrer hatten besonderen Einfluß auf seine geistige und religiöse Entwicklung: Gesenius und Tholuck. Der große Erneuerer der hebräischen Philologie weckte in ihm den Sinn für Sprachbeobachtung und Sprachvergleichung und eine besondere Vorliebe für das Hebräische. Durch Tholuck’s Einfluß aber wurde er aus einem Rationalisten ein bibelgläubiger Pietist im besten Sinne des Wortes. Nach vollendetem Studium bestand er die beiden theologischen Examina mit „sehr gut“. Dann war er drei Jahre lang Hauslehrer bei dem Major v. Steiger in Riggisberg nahe beim Thuner See. Zeitlebens hat er es als ein Glück gepriesen, daß er so Gelegenheit hatte, schon früh in ganz andersartigen politischen und kirchlichen Verhältnissen zu leben und dadurch vor Einseitigkeit und Parteifanatismus bewahrt worden sei. 1851 schied er aus der Schweiz und ging als Erzieher der beiden Söhne von Philipp und Marie Nathusius, der bekannten Schriftstellerin, nach dem in der Nähe von Quedlinburg gelegenen Neinstedt. In Quedlinburg war damals durch den späteren Barmer und Berliner Missionsinspector Wallmann eine tiefgehende religiöse Bewegung entstanden. K. schloß sich den durch W. zu innerlicher Frömmigkeit erweckten Kreisen an und wurde bald einer ihrer Führer. Um so erfreulicher war es ihm, daß er im J. 1854 in das Diakonat der dortigen Schloßkirche berufen wurde, zumal er in dem Pfarrer Brinkmann einen gleichgesinnten Amtsgenossen fand. In seiner Amtsführung legte K. das Hauptgewicht auf persönliche Seelsorge durch Hausbesuche. Daneben pflegte er das Vereinsleben und trat auch einem von Wallmann gegründeten Missionsverein bei. Dadurch kam er wol zum ersten Mal in nähere Berührung mit der Heidenmission.

Seine Wirksamkeit in der Vaterstadt war aber nicht von langer Dauer. Auf Wallmann’s Vorschlag, der inzwischen Inspector der Berliner Mission geworden war, wurde er im J. 1858 als zweiter Inspector an das Seminar der Gesellschaft berufen. Hier fand er im Unterricht und in der Erziehung der künftigen Missionare ein Arbeitsfeld, das seiner Neigung und seiner besonderen Begabung entsprach. Er sah sich da freilich vor keine leichte Aufgabe gestellt. Denn obwol die meisten seiner Zöglinge nur Volksschulbildung besaßen, so waren doch auch frühere Real- und Gymnasialschüler und auch Gymnasialabiturienten darunter. Er verstand es aber meisterlich, nicht nur die früheren Handwerker zu der ungewohnten geistigen Arbeit anzuleiten und zu wissenschaftlichem Denken zu erziehen, sondern auch bei seinen so verschieden vorgebildeten Schülern einen gleichmäßigen Stand theologischer Ausbildung zu erreichen. Sein Unterricht nahm, wo es irgend ging, die Form des Zwiegesprächs [363] an, so daß die Schüler selbst die Resultate finden halfen, wodurch ihr Interesse und ihr Eifer geweckt wurden. Da er knapp, gedankenreich und lebendig unterrichtete, so gewann jeder den Eindruck, daß er etwas Gediegenes und mit größter Gewissenhaftigkeit Durchgearbeitetes zu hören bekam. Dadurch erwachte in den Schülern die Ueberzeugung von der Wichtigkeit des Gegenstandes und zugleich Lust und Freude daran. Und das sind die besten Lehrmeister. Wichtiger aber als dieser gediegene und erfolgreiche Unterricht war der tiefgehende erzieherische Einfluß, den er auf die jungen Leute ausübte, und durch den er sie auf ihren schweren Beruf, Lehrer, Erzieher und Seelsorger von Heiden und Heidenchristen zu sein, trefflich vorbereitete. Die Lauterkeit seines ganzen Wesens, sein mit nachsichtiger Milde und Geduld gepaarter Ernst, seine unbedingte Verschwiegenheit machten ihn wie von selbst zum Seelsorger und vertrauten, väterlichen Freund seiner Schüler, dem sie ihr tiefstes Herz öffneten, und bei dem sie Trost, Rath und Hülfe in allen Dingen suchten und fanden. „Der Einfluß seiner geheiligten, vor Gottes Angesicht wandelnden Persönlichkeit wirkte heiligend, stärkend, belebend.“ Diese stille, verborgene und doch so tiefgreifende segensreiche Thätigkeit hat er über 38 Jahre lang geübt und so der Arbeit der Berliner Missionare die nöthige Einheitlichkeit verliehen und ihr den Stempel seines Geistes aufgedrückt. Denn bei seinem Tode waren sämmtliche Missionare der Berliner Mission in Süd- und Ostafrika, in Süd- und Nordchina, mit Ausnahme der zwei oder drei ältesten, seine Schüler. Mit ihnen allen hat er lebenslang in regelmäßigem brieflichen Verkehr gestanden und ist ihr Vertrauensmann und Berather geblieben bis zu seinem Tode. So ist es nicht zuviel gesagt, daß „die Berliner Mission seiner stillen, treuen und tiefen Arbeit weitaus ihr Bestes verdankt“. Er war die lebendige Tradition, oder, wie einer seiner Freunde es tiefer und treffender ausdrückte, das Gewissen des Missionshauses. Dazu befähigten ihn seine persönlichen Eigenschaften. Denn „er war der Treuesten und Festesten einer in unserer evangelischen Kirche, schriftgläubig, bekenntnißmäßig, charaktervoll und unerschrocken“. Seine Demuth und seine aufrichtige Herzlichkeit, sein großer sittlicher Ernst, mit dem sich ein harmlos heiteres, humorvolles Wesen aufs beste verband, gewannen ihm schnell alle Herzen. Auch für die Weckung und Belebung des Missionsinteresses in weiteren Kreisen war K. unermüdlich thätig durch zahlreiche Berichte und Vorträge auf Missionsversammlungen wie auch durch verschiedene, meistens in Warneck’s „Allgemeiner Missionszeitschrift“ erschienene Aufsätze. Seine wichtigste, auf die Mission bezügliche Schrift ist seine „Kurze Geschichte der Berliner Mission in Südafrika“, welche 1893 in vierter Auflage erschien. Sie zeichnet sich durch Klarheit und zuverlässige Treue der Darstellung aus, und ihr Studium ist zur Erlangung einer gründlichen Kenntniß des Berliner Missionsswerks unentbehrlich.

Neben dieser reichen amtlichen und halbamtlichen Thätigkeit fand er noch Zeit und Kraft zu privaten Arbeiten, und diese bezogen sich theils auf die Erforschung und Auslegung der prophetischen Schriften Alten und Neuen Testaments, theils auf Sprachstudien. Die erste Frucht seiner biblischen Studien war ein 1874 als Festschrift zum fünfzigjährigen Jubiläum der Berliner Mission erschienenes Büchlein: „Christisches und Antichristisches, eine Probe eschatologischer Psalmenprophetie“. Es ist eine Auslegung der Psalmen 42–51, welche nachzuweisen versucht, daß der Psalter keine planlose Sammlung sei, sondern ein organisches Ganzes, voller Hindeutungen auf Christus und die Christus-feindlichen Mächte der letzten Zeiten. Im J. 1878 erschien „Die Offenbarung St. Johannis für das Verständniß der Gemeinde ausgelegt“. Die Sprache ist leicht und verständlich, die Auslegung tief und praktisch und berührt dadurch so wohlthuend, daß sie überall zeigt, wie sehr [364] dem Verfasser das, was er sagt, Herzenssache ist. Als bekannter Vertreter der Lehre vom 1000jährigen Reiche Christi wurde er öfter aufgefordert Vorträge über diese Fragen zu halten, von denen manche im Druck erschienen; z. B. „Die Bedeutung des prophetischen Wortes für das christliche und kirchliche Leben der Gegenwart“ (1879), „Zeitfolge der Christianisirung der Völker nach Andeutungen der biblischen Weissagung“ (1884) und sein Antheil an der mit gleichgesinnten Freunden herausgegebenen Vortragssammlung: „Blicke in die Zukunft des Menschengeschlechts nach dem prophetischen Wort der heiligen Schrift“ (1887). Die Anerkennung, welche seiner Arbeit gezollt wurde, kam dadurch zum Ausdruck, daß die theologische Facultät zu Greifswald ihn anläßlich seines siebzigsten Geburtstages zum Doctor der Theologie ernannte. Eine weitere ganz unerwartete Ehrung empfing der bescheidene Mann bald darauf durch die Verleihung des Rothen Adlerordens.

Neben dem Studium der Bibel waren Sprachvergleichung und Sprachbeobachtung ihm die liebste Beschäftigung. Er war auf diesem Gebiete vollständig Autodidact. Dennoch traf er mit sicherem Sprachinstinct meist das Richtige. Von der Sprachvergleichung ging er weiter zu einer Art Sprachphilosophie oder Sprachmystik. Er begnügte sich nicht damit, Sprachgesetze zu finden, sondern wollte erforschen, warum dieselben so und nicht anders seien. Weiter bemühte er sich auch, den Charakter der einzelnen Buchstaben festzustellen. Mehrfach hat er daran gedacht, seine Gedanken und Forschungen hierüber zu veröffentlichen, etwa nach seiner Pensionirung. Leider kam es nicht mehr dazu. Denn am 30. September 1896 rief ihn ein plötzlicher Tod mitten aus seiner rastlosen und reich gesegneten Thätigkeit ab.

Richter, Die Evangel. Missionen. 1897, Nr. 4. – Wilhelm Kratzenstein, Eduard Kratzenstein. Ein Lebensbild f. seine Freunde. Als Mscr. gedruckt 1897. – Private Mittheilungen.