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Artikel „Kapp, Ernst“ von Viktor Hantzsch in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 51 (1906), S. 31–33, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Kapp,_Ernst&oldid=- (Version vom 15. November 2024, 06:17 Uhr UTC)
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Kapp: Ernst K., Geograph, einer der Hauptvertreter der Schule Karl Ritter’s, wurde am 15. October 1808 zu Ludwigstadt im bairischen Oberfranken als jüngster Sohn eines mit zwölf Kindern gesegneten wenig bemittelten Justizamtmannes geboren. Da beide Eltern frühzeitig starben, verlebte der Knabe theils bei Verwandten, theils unter Fremden eine mühselige und wenig freudenreiche Jugend. Einen guten Unterricht genoß er erst, als ihn sein als geographischer Schriftsteller bekannter ältester Bruder Friedrich, damals Gymnasialdirector in Hamm in Westfalen, in sein Haus aufnahm. Bereits mit 17 Jahren bezog er die Universität Bonn, um sich der classischen Philologie zu widmen. Nach Absolvirung des Trienniums wurde ihm durch Vermittlung seines Bruders eine Lehrerstelle am Gymnasium in Hamm übertragen, die er aber schon 1830 mit einer besser dotirten und aussichtsreicheren in Minden vertauschte. Hier fand er neben seinem Amte Zeit und Gelegenheit, sich eingehend mit philosophischen, historischen und geographischen Studien zu beschäftigen. Besonders vertiefte er sich in die Ideen Hegel’s und Karl Ritter’s. Die Lehren dieser beiden Denker befruchteten seine pädagogische Thätigkeit und regten ihn auch zu eigenen schriftstellerischen Versuchen an. Zunächst erschien ein „Beitrag zur Begründung eines sicheren Ganges des geschichtlich-geographischen Unterrichts mit besonderer Rücksicht auf die untere Gymnasialbildungsstufe“ (Minden 1831). Darin schlug er vor, da die Geographie eine historische Wissenschaft und die Geschichte gleichsam in Bewegung gesetzte Geographie sei, beide Unterrichtsfächer in engem Zusammenhang und wechselseitiger Durchdringung zu behandeln. Diese Abhandlung würde jedenfalls in weiteren Kreisen anregend gewirkt haben, wenn sie nicht allzu theoretisch gehalten und in einem ziemlich ungelenken und schwer verständlichen Stil abgefaßt gewesen wäre. Ihre Grundgedanken legte er bald darauf in einer zweiten hauptsächlich für Elementarlehrer bestimmten Schrift „Die Einheit des geschichtlich-geographischen Schulunterrichts“ (Minden 1833) in etwas populärerer Form nochmals dar. Um zu zeigen, wie er sich die praktische Durchführung seiner Ideen vorstellte, gab er gleichzeitig einen „Leitfaden beim ersten Schulunterricht in der Geschichte und Geographie“ (Minden 1833) heraus, der ziemlichen Anklang fand und bis 1870 sieben Auflagen erlebte. Bald darauf veröffentlichte er für die Hand der Schüler unter dem Titel „Hellas, historische Bilder für den Jugendunterricht“ (Minden 1833) eine Sammlung von geschichtlichen Dichtungen. Daß er auch die Leistungen früherer Pädagogen, die sich mit der Methodik des historisch-geographischen SchulunterrichtL beschäftigt hatten, kannte und beachtete, bewies er in seiner nächsten, als Schulprogramm erschienenen Schrift „De incrementis quae ratio docendae in scholis historiae et geographiae cepit“ (Minden 1836), in der er die betreffende ältere Litteratur sorgfältig zusammenstellte. In den nächsten Jahren vertiefte er sich immer weiter in die Gedankenwelt Karl Ritter’s, namentlich auch in dessen geschichtsphilosophische und metaphysisch-teleologische Speculationen. Wie bei diesem seinem Vorbilde entfalteten sich seine Ideen allmählich aus der pädagogischen Praxis. Als reifes Ergebniß langjährigen Nachdenkens erschien endlich sein zweibändiges Hauptwerk „Philosophische oder vergleichende allgemeine Erdkunde als wissenschaftliche Darlegung der Erdverhältnisse und des Menschenlebens in ihrem inneren Zusammenhange“ (Braunschweig 1845–46). Darin wollte er die Möglichkeit und Nothwendigkeit einer Philosophie darlegen, deren Object die Erde ist, „nicht blos in ihrem Fürsichsein, sondern als Prophezeihung des im Menschen zur Erscheinung kommenden Geistes, als Hintergrund aller geschichtlichen Färbung und als Material der Verklärung der Dinge, mit einem Worte, die Erde, wie sie bestimmend auf die Entwicklung des Geistes einwirkt und hinwiederum vom [32] Geiste bestimmt und verändert wird“. Das Werk enthält außer einer Einleitung über die Wechselbeziehungen zwischen Geographie und Geschichte drei Theile. Der 1. behandelt die physische Geographie, schildert die Erde als Planeten, beschreibt ihre Oberfläche und die auf ihr wirkenden Kräfte und entwickelt bereits andeutungsweise jene Grundgedanken der Biogeographie, welche später Friedrich Ratzel weiter ausgebaut und systematisch behandelt hat. Der 2. Theil umfaßt die politische Geographie und zeigt den Menschen als das ordnende Princip der Natur. Er sucht nachzuweisen, daß wie der Einzelmensch an seinem Körper seinen Einzelleib, so die Menschheit an dem Erdkörper ihren Allleib habe. Von dieser Annahme ausgehend behauptet er, daß der Entwicklungsgang der Menschheit in ihrer Gliederung nach einzelnen Völkern durch die Gliederung der Erdoberfläche in gesonderte Festlandsräume bedingt und beherrscht worden sei. Als gestaltendes Prineip für die Architektonik der Erdräume erkennt er das Wasser und zwar in seinen Erscheinungsformen als Fluß, als Mittelmeer und als Ocean. Daher entfaltet sich nach seiner Darlegung die politische Geographie historisch als Beschreibung der potamisch-orientalischen, der thalassisch-classischen und der oceanisch-germanischen Welt. Er will damit sagen, daß die ältesten Staaten an den großen Strömen des Orients entstanden, die der classischen Culturperiode an einem inneren Meere und die der nachclassischen, durch die Vorherrschaft der Germanen gekennzeichneten am offenen Weltmeere. Der dritte Theil der philosophischen Erdkunde endlich beschäftigt sich mit der Culturgeographie. Er behandelt zunächst die Geographie der Raumcultur, dann die der Zeitcultur und steigt im Schlußabschnitt von der Verklärung der Natur zu kühnen, von Mystik durchwehten Speculationen auf.

Das gründlich durchdachte und ideenreiche Werk fand namentlich bei den Schülern Ritter’s Beifall und Anerkennung. Auch auf manche Geographen der folgenden Generation, namentlich auf Friedrich Ratzel, der es in seiner Anthropogeographie mehrfach erwähnt, hat es anregend gewirkt. Doch erwuchsen ihm auch zahlreiche Gegner, die dem Verfasser vorwarfen, er hafte allzu äußerlich am Formalismus Hegel’s, übersehe ganz die naturwissenschaftliche Grundlage der Erdkunde und suche seinen Mangel an empirischer Kenntniß durch gewagte philosophische Speculationen zu verschleiern. Die Kritiker griffen einzelne gewaltsame Constructionen und auffällige logische Entgleisungen heraus, mißbilligten den Stil des Verfassers, den sie als dunkel und schwülstig bezeichneten, und wiesen nach, daß er weder in seinen geschichtlichen noch geographischen Ausführungen überall auf dem Boden der neuesten Forschungen stand.

Bei der Bearbeitung dieses Hauptwerkes hatte K. allmählich die Ueberzeugung gewonnen, daß die Geographie nicht nur eine historische, sondern auch eine politische, tief in das Leben des Staates und der Gesellschaft eingreifende Wissenschaft sei. Diese Einsicht führte ihn zunächst zu theoretischer und bald auch zu praktischer Beschäftigung mit der Politik. Am besten hat er seine politischen Grundanschauungen in einer kleinen Schrift „Der constituirte Despotismus und die constitutionelle Freiheit“ (Hamburg 1849) dargelegt, in der er in äußerst bilderreicher Sprache auf die Nothwendigkeit einer liberalen Umbildung des alten Feudalstaates und einer naturgemäßen Lösung der socialen Frage hinwies. „Ihr mögt“, heißt es darin, „mit den Papierballen ersterbender Ergebenheitsadressen die Risse des alten mittelalterlichen Staatsgebäudes noch so subtil verkleben: die Risse bleiben, sie erweitern sich, und das Papier reißt mit. Da braucht’s Steine, gute feste Quadern! Ganze Außenmauern müssen neu aufgeführt werden! Der Hofraum und die Rüstsäle [33] müssen verengert, die engen Zellen für das Dienst- und Arbeitspersonal müssen erweitert werden. Luft und Licht müssen überall unbeschränkten Zutritt haben. Fort mit den dumpfigen Souterrains, fort mit den schmalen krummen Wegen der Wendeltreppen! Zugeworfen die verdächtigen unterirdischen Gänge und Burgverließe, verrammelt die geheimen Thüren und Auswege, weggeräumt den Feudalschutt! Und nun noch große offene Fenster und Thüren, daß alles Volk draußen schauen kann, was drinnen geschieht, und vor allem oben Eine geräumige helle Kammer mit erquicklicher Aussicht!“ Durch eine derartige Sprache erregte er das Mißfallen seiner vorgesetzten Behörde, die ihn durch mancherlei Zurücksetzungen ihr Uebelwollen empfinden ließ, umsomehr, als er öffentlich erklärte: „Die vorhandenen Autoritäten sind abgenutzt und haben sich überlebt“. Durch Einleitung eines Disciplinarverfahrens schwer gekränkt legte er 1849 sein Schulamt freiwillig nieder, lehnte mehrere Berufungen, die aus anderen Städten an ihn ergingen, entschieden ab, verließ mit seiner Familie Deutschland und begab sich nach Nordamerika. Nach längeren Irrfahrten fand er bei Sisterdale in Texas eine zweite Heimath. Er vertauschte die Feder mit dem Spaten, rodete ein Stück Urwald aus und legte eine Baumwollfarm an, die trotz mancher Fehlschläge glücklich gedieh und ihn vorwärts brachte. Auch sein älterer Bruder Alexander, Gymnasialdirector in Soest und sein Neffe Friedrich, der später als Geschichtschreiber und Parlamentarier hervortrat, folgten seinem Beispiel und ließen sich in den Vereinigten Staaten nieder. Nachdem er 16 Jahre fern von der Culturwelt gelebt hatte, kehrte er 1865 besuchsweise nach der alten Heimath zurück. Die politische Umgestaltung Deutschlands, die durch den Krieg des folgenden Jahres hervorgerufen wurde, erregte frohe Hoffnungen und erweckte den Wunsch in ihm, seinen Lebensabend im Vaterlande zu verbringen. Er ließ sich in Düsseldorf nieder und betrieb ernsthaft wissenschaftliche Studien. Vom politischen Parteiwesen hielt er sich fern, doch verfolgte er es als aufmerksamer Beobachter. In den ersten Jahren beschäftigte ihn namentlich eine gründliche Umarbeitung seines Hauptwerkes, das er unter dem veränderten Titel „Vergleichende allgemeine Erdkunde in wissenschaftlicher Darstellung“ erscheinen ließ (Braunschweig 1869) und das trotz seiner veralteten teleologischen Grundgedanken den Beifall so urtheilsfähiger Sachkenner wie Oscar Peschel fand (Ausland 42, 1869, S. 198–204). Acht Jahre später veröffentlichte er als reife Frucht fast dreißigjährigen Nachdenkens sein letztes Werk „Grundlinien einer Philosophie der Technik“ (Braunschweig 1877), in dem er auf Grund seiner bei der Culturarbeit im Urwalde gewonnenen Erfahrungen versuchte, „die Entstehung und Vervollkommnung der aus der Hand des Menschen stammenden Werkzeuge als erste Bedingung seiner Entwicklung zum Selbstbewußtsein darzulegen“. Seitdem lebte er im Kreise seiner Familie in körperlicher und geistiger Rüstigkeit noch nahezu 20 Jahre, ohne indeß mit größeren litterarischen Erzeugnissen hervorzutreten. Am 30. Januar 1896 starb er zu Düsseldorf nach nur eintägiger Krankheit.

Dtsche. Rundschau f. Geographie u. Statistik XX, 1898, S. 40–43.