ADB:Graetz, Heinrich
Samson Raphael Hirsch, des Anwaltes und Wortführers des conservativen Judenthums, nach Oldenburg, woselbst er auch das Gymnasium besuchte. 1842 bezog er die Universität in Breslau und erlangte 1845 in Jena die Doctorwürde, auf Grund seiner 1846 erschienenen Schrift: „Gnosticismus und Judenthum“. 1848 war G. Hauslehrer bei S. R. Hirsch in Nicolsburg, der aus Oldenburg dahin als Landesrabbiner von Mähren berufen wurde. Doch scheint er sich dort geistig nicht besonders behaglich gefühlt zu haben und zeigte sich schon damals die Kluft, die sich zwischen ihm und seinem Lehrer aufthat, der ihn später aufs schärfste bekämpfte. Am 22. August 1850 wendet sich G. von Nicolsburg an Leopold Löw mit der Bitte, ihn in Kanisza als Rabbiner in Vorschlag zu bringen. Mit wenig verschleierter Anspielung auf S. R. Hirsch schreibt er: „Männer von entschieden principieller Gesinnung die ihre Ueberzeugung nicht aus dem faden Gebräu romantischen Dusels, sondern aus der frischen Quelle geläuterter Wissenschaft schöpfen, sind zu selten, als daß eine solche Erscheinung nicht ein andauerndes Interesse erwecken sollte und man gewinnt sie um so lieber, je mehr sie gelehrte und ungelehrte Alltagsmenschen verketzern und verfolgen – – – auch ich fühle den Drang in mir, die Wissenschaft als einzige Gottheit hinzustellen, der alles übrige zum Opfer fallen muß“ (Gesammelte Schriften von Leopold Löw V. Band, S. 142). Durch den Weggang des Landrabbiners Hirsch von Nicolsburg nach Frankfurt a. M. finden wir G. als Religionslehrer in Lundenburg thätig, woselbst er harte Kämpfe zu bestehen hatte (vgl. seinen Brief an den Landesrabbiner Abraham Placzek vom 23. Januar 1852, abgedruckt in der Geschichte der Juden in Kremsier von Rabb. Dr. A. Frankl-Grün III. Theil, S. 9). Sein Lebenswerk: „Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart“ nahm dort seinen Anfang und fand in Veit in Berlin einen bereitwilligen Verleger. G., der sich zum Prediger nicht gut eignete, weil er die Scheu öffentlich zu sprechen, nicht überwinden konnte, folgte von Berlin aus einem Rufe an das jüdisch-theologische Seminar nach Breslau – eröffnet am 10. August 1854 –, dem Dr. Zacharias Franke als Director vorstand. Dort entfaltete G. durch [511] 37 Jahre eine äußerst segensreiche Thätigkeit. Als Lehrer der jüdischen Geschichte und Exegese übte er einen großen Einfluß auf seine Schüler aus, die in das innere Getriebe seines geistigen Schaffens Einblick genommen und denen er stets mit liebevoller Theilnahme, ohne sie in ihrer individuellen Geistesrichtung zu hemmen, fördernd zur Seite stand. Er leitete seine Schüler nicht in dogmatischer Einseitigkeit und Engherzigkeit und hat gerade dadurch auf dieselben sehr wohlthätig eingewirkt. Eine Frucht seiner reichen Studien, denen er in Breslau, woselbst er auch 24 Jahre Professor an der Universität war, mit seltenem Fleiße hingegeben war, ist die Fortführung und Vollendung seiner „Geschichte der Juden bis auf die Gegenwart“ in 11 Bänden. Während sein Vorgänger in der jüdischen Geschichtsschreibung Isaac Marcus Jost mit noch ziemlich unzulänglichen Mitteln arbeitete, weil die historischen Studien vor ihm nur wenig Pflege fanden und er zudem in seinem Streben nach Objectivität geschichtliche Erscheinungen mehr vom Standpunkte einer modernen Beobachtungsweise als aus den jeweiligen Zeitverhältnissen heraus beurtheilte, war G. im Gegentheile in der Behandlung von Persönlichkeiten und Verhältnissen oft zu subjectiv, was besonders bei der Darstellung der Geschichte der Juden in der Neuzeit sehr stark hervortrat. Aber trotzdem, daß die Darstellung nicht überall künstlerisch abgerundet ist und ihr manchmal der ruhige und sachliche Ton abgeht, bleibt sein Werk doch unbestritten ein Denkmal ausdauernder Arbeitskraft, preiswürdigen Scharfsinns und Scharfblicks und ist selbst als eine bedeutende geschichtliche Geistesthat anzusehen, die in weiten Kreisen Liebe und Begeisterung für die jüdische Wissenschaft geweckt hat. Im J. 1874 war sein Geschichtswerk, das in verschiedene fremde Sprachen übertragen wurde, beendet, nachdem er früher, ehe er an die Darstellung der biblischen Geschichte herantrat, in welcher er einen überaus freisinnigen Standpunkt einnimmt, Palästina bereist hatte. Im J. 1871 trat G. mit seinem Commentare zu Koheleth und dem Hohen Liede, dem 1882–1883 ein solcher zu den Psalmen folgte, an die Oeffentlichkeit. Haben auch Graetz’ exegetische Arbeiten, in welchen er einen radicalen Standpunkt einnimmt, besonders wegen der Texteshypothesen, die allgemeine Anerkennung nicht gefunden, so bleibt ihm doch das unbestreitbare Verdienst, Bibelexegetisches in der talmudischen Litteratur nutzbar gemacht und manche bleibende Verbesserung des Textes vorgeschlagen zu haben. Zu erwähnen wäre noch seine Schrift: „Leket Schoschanim. Blumenlese neuhebräischer Dichtungen vom zweiten bis zum dreizehnten Jahrhundert chronologisch geordnet“ (1872) und seine werthvollen Programmarbeiten: „Die westgothische Gesetzgebung in Betreff der Juden“ (1858), „Dauer der gewaltsamen Hellenisirung der Juden und die Tempelentweihung des Antiochus Epiphanes“ (1864), „Frank und die Frankisten aus der letzten Hälfte des vorigen Jahrhunderts“ (1869), „Der einheitliche Charakter der Prophetie Joels und die künstlerische Gliederung seiner Theile“ (1873), „Das Königreich Messene und seine jüdische Bevölkerung“ (1879). Im J. 1879 erschien von G. eine anonyme Schrift: „Briefwechsel einer englischen Dame über Judenthum und Semitismus“ (Stuttgart). Am 10. September 1891 wurde G. unter großer Antheilnahme weiter Kreise auf dem jüdischen Friedhofe in Breslau beerdigt.
Graetz: Hirsch (Heinrich) G., Dr., hervorragender Geschichtsforscher und Exeget, geboren am 31. October 1817 in Xions, † am 7. September 1891 in München. G. genoß den ersten Unterricht in seiner Heimathgemeinde. Während der Lehrer, der ihm die Elementarkenntnisse beibrachte, ihn wegen seiner geistigen Anlagen sehr lieb gewann, hielt ihn sein zweiter Lehrer auf reiferer Stufe in Zerkow, für beschränkt und unfähig. 1830 kam G. nach Wollstein, wo er durch den Rabbiner auch Unterricht im Talmud erhielt. G., der sich hier unter mannichfachen Kämpfen und Entbehrungen bei seinem mächtigen Drange nach Wissen Kenntnisse angeeignet hatte, sehnte sich aus den engen geistigen Verhältnissen heraus und ging, angezogen durch die Persönlichkeit des Landrabbiners