ADB:Droste zu Hülshoff, Annette Freiin von

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Artikel „Droste-Hülshoff, Annette, Freiin von“ von Jacob Achilles Mähly in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 5 (1877), S. 415–417, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Droste_zu_H%C3%BClshoff,_Annette_Freiin_von&oldid=- (Version vom 10. Oktober 2024, 01:57 Uhr UTC)
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Band 5 (1877), S. 415–417 (Quelle).
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Droste-Hülshoff: Annette, Freifrau[1] von D.-H., das bedeutendste lyrische Talent deutscher Zunge unter den Dichterinnen dieses Jahrhunderts, wurde auf dem alten Stammschloß ihrer Familie (Hülshoff, in der Nähe von Münster in Westfalen) am 10. Jan. 1797 geboren und hat dort, unter ziemlich strenger Zucht, gelebt, bis nach des Vaters Tode die Mutter den Wittwensitz Ruschhaus bezog. Ihre, von Hauslehrern geleitete, Erziehung hatte einen wissenschaftlichen Anstrich, sodaß Annettens Kenntnisse nicht blos in der Mathematik ziemlich über das gewöhnliche Maß hinausgingen, sondern auch das Latein, noch in [416] späteren Jahren, ihrem Gedächtniß treu blieb und ihr bei ihrer Sammelneigung für Münzen, Gemmen etc. gute Dienste leistete. Neben einem früh sich regenden, durch eine wahrhafte Lesewuth genährten poetischen Talent (Klopstock, Salis, Matthisson und Hölty waren zunächst die Lieblinge) entwickelte sich auch eine bedeutende musikalische Begabung, welche in späteren Jahren sich im Drang zu selbständiger Liedercomposition offenbarte. Nach dem Tode des Vaters, welchem bald auch ihr Bruder nachfolgte, schwer darniedergebeugt und auch körperlich leidend, sah sich Annette gezwungen, eine Luftveränderung und auf Reisen Erholung zu suchen. Vorzüglich waren es die rheinischen Städte, welche sie fesselten, und Coblenz, Bonn und Köln wurden für längere Zeit abwechselnd ihre Absteigequartiere. Ueberall wurden, wenn auch nicht viele, so doch bedeutsame und fördernde Bekanntschaften angeknüpft (in Bonn besonders mit Johanna Schopenhauer und deren Tochter, ferner mit ihrem Verwandten, dem bekannten Rechtslehrer Clemens v. Droste); unter den großen Verstorbenen waren es besonders Walter Scott, Byron und Washington Irving, in deren geistige Gesellschaft sie sich eifrig und hingebend einlebte; ihre erzählenden Gedichte („Das Hospiz auf dem St. Bernhard“, „Die Schlacht am Loenerbruch“, „Des Arztes Vermächtniß“, „Der Spiritus familiaris des Roßtäuschers“) tragen deutliche Spuren dieses Umgangs, wenn schon das innerste geistige Gepräge, gleichsam das Mark der Empfindung, darin der Dichterin ganzes und volles Eigenthum ist. Daß aber selbst bei stofflicher Entlehnung Originalität möglich ist, zumeist bei einer so durchaus eigenwüchsigen Natur, wie sie unsere Dichterin besaß, beweist die Erzählung von „Des Arztes Vermächtniß“, welche mehr oder weniger bloße locale und dadurch bedingte anderweitige Umbildung der Schelling’schen Geschichte vom „Pfarrer von Drottning auf Seeland“ ist. Nur schüchtern und auf das Drängen ihrer Freunde willigte sie in die Herausgabe ihrer „Gedichte“ (Cotta 1837), deren Erfolg indeß, weniger ihre eigenen, als die Erwartungen ihrer „Stürmer und Dränger“ unbefriedigt ließ. Gerade die ungewöhnliche Originalität, wodurch sich diese Schöpfungen vor anderen und hauptsächlich vor solchen von Frauenhand auszeichneten, behagte dem großen Publicum weniger; sie konnten ihrer ganzen Art nach blos den verständnisvollen, feinfühlenden Naturen gefallen, welche gern mit einer groß angelegten Menschenseele in geistige Gemeinschaft treten und dabei einen Einsatz eigener geistiger Anstrengung nicht scheuen. Die schöpferische Kraft der Dichterin geht durchaus nach der Tiefe, nicht nach der Breite, eine fruchtbare Ader, im gewöhnlichen Sinn, ist ihr nicht eigen, dafür aber ist ihr Schaffen ein höchst intensives. L. Schücking’s „Malerisches und romantisches Westfalen“ verdankt, nach des Verfassers eigenem Geständniß, der Mitwirkung unserer Dichterin einen großen Theil seines Inhalts; sonst ist neben den (später sehr vermehrten) „Gedichten“, dem „Geistlichen Jahr“ und den (posthumen) „Letzten Gaben“ von der Feder der Verfasserin nichts bekannt geworden. Die Fragmente, welche L. Schücking (in seinem Buch Annette v. Droste, ein Lebensbild) von einem Charakterbild westfälischen Familienlebens, aus dem litterarischen Nachlasse der Verstorbenen, veröffentlicht hat, lassen sehr bedauern, daß ihr die Vollendung desselben nicht vergönnt war. – Seit Anfang der 40er Jahre dieses Jahrhunderts finden wir das Fräulein beinah häuslich niedergelassen, wenigstens einen großen Theil des Jahres angesiedelt auf dem altehrwürdigen Sitz ihres Schwagers, des rühmlichst bekannten Freiherrn v. Laßberg, auf Schloß Meersburg am Bodensee, im ganzen zwar (hauptsächlich aus körperlichen Gründen) einsiedlerischen Neigungen huldigend; aber bei der großartig geübten Gastlichkeit ihres Schwagers und bei der Anziehungskraft, welche dieses Schloß in seinen litterarischen Schätzen besaß, war es nicht möglich, gegen Männer, wie Uhland, Justinus Kerner, Wessenberg und andere berühmte und bekannte Germanisten [417] und Alterthumsfreunde sich abzuschließen. Im Winter des Jahres 1847 nahm das seit Jahren in ihr schlummerndes Brustübel einen bedenklichen Charakter an; nach einer nur anscheinenden Besserung brachte ihr der Frühling des folgenden Jahres den Tod; sie verschied den 24. Mai 1848 an einem Herzschlage. – Annette v. D. ist als Schriftstellerin eine Kernnatur durch und durch, in welcher, bei echt weiblichen Gefühlen, dennoch nicht in erster Linie diejenigen Früchte unserm Blicke begegnen, die wir zuallererst bei der weiblichen Natur zu finden gewohnt sind. Bei ihr gibt es nichts Verschwommenens, Gefühlseliges und Unfertiges, ihr Charakter ist Schärfe und Entschiedenheit. Ihre Lebensanschauungen scheinen vom Nervenleben des Weibes durchaus nicht influenzirt; eigenthümlich, ja oft hart und sogar schroff, mögen sie manchen Leser und manche Leserin fremd anmuthen, aber die Einsichtsvollen unter diesen müssen doch das Geniale des Urtheils, die Gedankenreife und den klaren, alle Lebensverhältnisse mit dichterischer Intuition durchdringenden Blick herausfühlen und den Eindruck erhalten, daß sie, sie mögen nun beistimmen oder widersprechen, im Banne einer mächtigen Individualität stehen. Beistimmung darf die Dichterin allerdings nicht immer und von Allen hoffen, weder für ihre religiösen Dogmen – sie ist nach heftigen Kämpfen ihrer männlich selbständigen, frei urtheilenden Seele vom Zweifel zu den Ueberlieferungen des strengen Katholicismus zurückgekehrt – noch für ihre politischen und socialen Principien – denn auch diese zieht sie ohne Scheu in den Bereich ihres poetischen Sinnens und Schaffens, und zwar sind ihre Anschauungen einseitig-conservativ, in Standesvorurtheilen befangen. Auf diesen Gebieten wird man übrigens die Größe einer dichterischen Persönlichkeit, zumeist einer Frau, nicht suchen wollen, obschon gerade das „Geistliche Jahr“ (ein Cyclus von Gedichten auf jeden Sonntag und Festtag des katholischen Kirchenjahres) wahre Perlen der Poesie enthält. Wahrhaft groß und eigenartig ist die Dichterin in den Naturschilderungen, besonders wo die dämonische, unheimliche Seite des Naturlebens vorliegt, gleichviel, ob des menschlichen oder des vegetativen, ob Gespensterspuk zu schildern oder das Unheil, das auf der düstern Haide lauert. Ihr Blick dringt, in beiden Kreisen, bis ins Einzelne und Einzelste mit einer bewunderungswürdig scharfen concreten Beobachtungsgabe, die das Individuelle echt poetisch herausfindet. Keine Spur von einer Verflüchtigung ins Abstracte trübt diese lebensvollen Bilder und Bildchen, welche nur in einem die Erscheinungen der Natur als lebenden Proceß anschauenden und fühlenden Sinne sich gestalten können. Hand in Hand mit dieser Empfindung geht nun auch die Gabe des richtigen, den Kern treffenden Ausdrucks. Diese Gedankenfrische bedarf nicht des Schmucks und der Schminke der Rhetorik; sie empfiehlt sich und wirkt unmittelbar durch sich selber und ihre eigene Schönheit, die Schönheit ist aber hier das Richtige, welches sofort und ohne Zuthat die wahre Vorstellung des Gegenständlichen vermittelt, das Individuelle. Es gehört aber leider bei den herrschenden Ansichten von poetischer Diction schon eine gewisse Bildung dazu, um in jener contrastirenden Art einen Vorzug zu finden. – Werke: „Gedichte von A. E. v. D.-H.“ (sic!), Münster 1837; dieselben vielfach vermehrt bei Cotta, Stuttgart 1844; „Das geistliche Jahr“, Stuttgart 1851 (2. Aufl. 1857); „Letzte Gaben“, Hannover bei Rümpler 1860.

Annette v. Droste. Ein Lebensbild von L. Schücking, Hannover 1862.[2]

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. S. 415. Z. 8 v. u. l.: Freiin (st. Freifrau). [Bd. 6, S. 795]
  2. S. 417. Z. 7 v. u.: Gesammelte Schriften von Annette Freyin v. Droste-Hülshoff. Herausgeg. von Levin Schücking. 3 Theile (mit Biographie). Stuttg. 1879. [Bd. 10, S. 767]