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Artikel „Bröcker, Ludwig Oskar“ von Heinrich Bubendey in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 47 (1903), S. 260–262, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Br%C3%B6cker,_Ludwig_Oskar&oldid=- (Version vom 26. November 2024, 21:04 Uhr UTC)
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Bröcker: Ludwig Oskar B. wurde am 23. September 1814 zu Greifswald geboren, Seine Eltern waren Hamburger. Sein Vater war in der Franzosenzeit von einem deutschen Wachtposten versehentlich mit einem Gewehrkolben niedergestoßen, einer Verletzung, der er bald nach der Geburt des Sohnes erlag. Auch die vorübergehende Uebersiedlung nach Greifswald war eine Folge der Unruhen während der Franzosenzeit. Da auch die Mutter ebenso wie zwei Schwestern Bröcker’s bald darauf starben, war er im Alter von 10 Jahren völlig verwaist. Aeußerlich nahm sich seiner sein mütterlicher Großvater an, der ihn in Flottbeck bei Hamburg in einem damals bedeutenden Pensionate erziehen ließ; ein glückliches Familienleben aber hat er in seiner Jugend nie kennen gelernt. Später trat er in Hamburg in die Gelehrtenschule des Johanneums. Ob er durch die damals dort wirkenden Lehrer, unter denen sich tüchtige Philologen und geistreiche Männer, wie namentlich Franz Wolfgang Ullrich, befanden, wissenschaftliche Anregung empfangen hat, läßt sich nicht entscheiden: doch ist es nicht wahrscheinlich, da er nie davon sprach und da er in allen seinen Studien etwas Autodidactisches hatte. Bezeichnend für seinen Charakter ist es, daß er die Schule vor Absolvirung des Cursus verlassen mußte, weil er in einer übrigens harmlosen Schulaffaire sich nicht entschließen konnte, von dem von ihm einmal eingenommenen Rechtsstandpunkte zurückzutreten, um dadurch die über ihn verhängte Strafe abzuwenden. Er besuchte dann 1833/34 das damals in Hamburg als Zwischenstufe zwischen Gymnasium und Universität bestehende akademische Gymnasium, in dessen Matrikel er schon als historiae et philosophiae studiosus bezeichnet wurde, und ging dann zur Universität Leipzig, um zuerst hier, dann in Jena Jura zu studiren. Abgeschlossen wurde diese Zeit durch die Erlangung der juristischen Doctorwürde, die jeder hanseatische Jurist zu erwerben pflegte, weil dort damals kein anderes officielles Document der juristischen Studien gefordert wurde: Aber schon während dieses juristischen Studiums hatte er, einer tief innerlichen persönlichen Neigung folgend, sich nicht auf die Fachstudien beschränkt, sondern sich historischen Studien zugewandt. Außerdem mochte er auch dadurch mitbestimmt werden, daß er fühlte, er sei für eine praktisch-öffentliche Thätigkeit nicht gerade beanlagt. Dies ist auch wohl übereinstimmend mit einer dieser Zeit angehörenden interessanten Schilderung seiner Persönlichkeit, die wir seinem Universitätsfreunde Rudolf Schleiden verdanken. Schleiden wurde, wie er sagt, durch etwas Faustisches in Bröcker’s Natur angezogen: „ihm sei niemals jemand vorgekommen, der es in gleicher Weise verstanden hätte, bei seinem Gespräche sofort einen bedeutenden Gegenstand aufs Tapet zu bringen: ein Gedanke hätte bei ihm den andern gejagt“. Jenem inneren Triebe also folgend wandte sich B. nicht der Advocatur in seiner Vaterstadt zu, sondern ging nach Heidelberg, um dort unter Schlosser Geschichtsstudien zu treiben und seine geschichtliche Bildung zu vertiefen. Schon nach einem Jahre erlangte er hier 1838 durch eine Abhandlung „über die Parteiungen des karthagischen Staates 240–201“ auch in der philosophischen Facultät den Doctorgrad. Dann ließ er sich als Privatdocent der Geschichte nieder und zwar zuerst 1839 in Kiel, sodann nach einer kurzen, dem Studium gewidmeten, Zeit in Tübingen, wo er bis 1848 Vorlesungen gehalten hat. Oekonomische Gründe waren es wol, die ihn bewogen, um diese Zeit einer Aufforderung zu folgen, die an ihn von Seiten der Redaction der Augsburger [261] Allgemeinen Zeitung gerichtet wurde, Mitarbeiter dieses weitverbreiteten Organs zu werden: und die gleiche Thätigkeit führte ihn 1850 in seine Vaterstadt zurück an die Redaction der Hamburger Nachrichten. Hier schrieb er Artikel politischen, socialen und litterarischen Inhalts; setzte daneben seine geschichtlichen Studien ununterbrochen fort und ertheilte auch Unterricht an Privatschulen. Auf diesem Wege ist er dann also in das Lehrfach hineingekommen, das von jetzt an, äußerlich wenigstens, den Mittelpunkt seiner Thätigkeit bilden sollte, denn 1856 wurde er am Hamburger Johanneum, zu dieser Zeit dem einzigen Gymnasium Hamburgs, als Lector, wie es damals hieß, der französischen Sprache angestellt, neben welchem Fache er auch geschichtlichen und geographischen Unterricht ertheilte. 28 Jahre hindurch hat er sich diesem seinem Lehramte mit seltener Treue und Gewissenhaftigkeit gewidmet, obwol ihm, dem erst in späten Jahren zur Schulthätigkeit Uebergegangenen, manche schwere Erfahrung nicht erspart geblieben ist. Zu bedauern war es vor allen Dingen, daß, während er zuerst in den oberen Classen unterrichtete, er bald ausschließlich in den unteren Classen verwandt wurde, während seine ganze geistige Anlage ihn vorzugsweise auf jene Classen hinwies. Und wirklich haben auch gerade aus den oberen Classen viele seiner damaligen Schüler ihm aufrichtige Dankbarkeit bewahrt für die aus dem Vollen geschöpften, aus der eigensten Geistesarbeit hervorgegangenen Mittheilungen, die er z. B. in den französischen Stunden ihnen über französische Litteraturgeschichts machte und durch die er ihr Interesse auch für Stoffe zu erwecken wußte, die von dem regelmäßigen Pensum des Gymnasiums in der Regel ausgeschlossen sind.

Was ihm aber die amtlichen Pflichten an Zeit übrig ließen, das verwandte er auch jetzt auf wissenschaftliche Studien, die er mit zähem Eifer und edler Entschiedenheit als den Kernpunkt seines Strebens festzuhalten wußte. Drei Gebiete der Geschichte sind es vor allen Dingen, auf denen er sich thätig erwies: 1. die römische Geschichte, 2. die Zeit des beginnenden Mittelalters und der Herausbildung und Sonderung einerseitts der romanischen, speciell der französischen, andrerseits der deutschen Nationalität, aus dem Reiche Karl’s des Großen, 3. das Leben Jesu. Ueberall ist sein Verfahren ein kritisches, gegründet auf ungemein sorgsame Durchforschung der Quellen. Und zwar geht seine Gesammtrichtung entgegen der Hauptrichtung der ihm unmittelbar vorhergehenden wie seiner eigenen Zeit, wesentlich darauf hinaus, bedeutende kritisch-geschichtliche Arbeiten, die der bisherigen Tradition wesentlich negativ gegenübergetreten waren, durch antikritische Erwägungen inbezug auf die Sicherheit ihrer Ergebnisse zu prüfen und sie auf ein richtiges Maß zurückzuführen. So ist er in der römischen Geschichte der Niebuhr’schen Schule, in seinen Untersuchungen über die Evangelien und das Leben Jesu den negativen Tendenzen von D. Fr. Strauß und verwandter Kritiker entgegengetreten und zwar, was diese letzteren betrifft, nicht von kirchlich-dogmatischen Erwägungen ausgehend, die in seiner Schrift nirgends hervortreten und ihm selbst auch ferner lagen, sondern in rein historischem Interesse und in streng sachlicher Form. Mag da nun auch in manchen seiner Aufstellungen Unzutreffendes nachgewiesen sein, das Zeugniß ist ihm von des Gegenstandes kundigen Männern nicht versagt worden, daß er vieles Unhaltbare in den genannten kritischen Schriften scharfsinnig nachgewiesen und durch besser begründete Ausführungen ersetzt hat. Eine andere Eigenthümlichkeit, die zumal in seinen letzten Schriften über die Geschichte des deutschen Volkes im Mittelalter hervortrat, war die, daß, obwol gründliche Bekanntschaft mit den geschichtlichen Hauptwerken überall erkennbar ist, er doch mit Beiseitelassung der neueren Fach- und Speciallitteratur seine Darstellung einzig und allein auf [262] die Quellen gründete und bei aller Vielseitigkeit seiner Betrachtungsweise hieran unerschütterlich festhielt. Dadurch haben seine Arbeiten etwas Unmittelbares, der augenblicklich herrschenden Stimmung Unzugängliches, was ihnen ein charakteristisches Gepräge gab. Andrerseits hatte freilich derselbe Umstand die Folge, daß seine Bücher wenig beachtet wurden: denn jeder Weise sich selbst hemerkbar zu machen, auch der an sich berechtigten, war er aufs äußerste abgeneigt.

War er somit in der Wissenschaft ein einsamer Wandler auf eigenen Pfaden, so ist er auch im Leben kein andrer gewesen. Auch hier hat er jedes Hervortreten seiner Persönlichkeit vermieden; andrerseits hat er durch unbeugsames Festhalten an dem, was er einmal für recht erkannt, zwar gewiß manche schwere Erfahrung im Leben gemacht, hat sich aber auch die Achtung aller derer erworben, mit denen er verkehrte, besonders auch seiner Amtsgenossen an der Schule. In seiner Familie fand er sein Glück; er war seit dem 27. März 1848 mit Luise Schmidt, Tochter des Superintendenten August Schmidt in Ilmenau, vermählt und hat mit ihr 40 Jahre lang bis zu ihrem Tode am Osterabende des Jahres 1888 in glücklichster Ehe gelebt. Nachher hat er im Zusammenleben mit seiner einzigen, leider verwittweten, Tochter und einer Enkelin seine Freude gefunden. Bei seiner Emeritirung im Jahre 1884, die gerade auf seinen siebzigsten Geburtstag fiel, und wiederum an seinem achtzigsten Geburtstage kam die allseitige Liebe und Achtung, deren er sich erfreute, zu vollem Ausdrucke. Auch während des Stilllebens, das er im übrigen führte, widmete er, was ihm an Kräften blieb, seinen Studien. Am Weihnachtsabend des Jahres 1895 starb er eines sanften Todes.

Schriften: seine Doctordissertation s. o.; „Vorarbeiten zur römischen Geschichte“ (Tübingen 1842); „Geschichte des ersten punischen Krieges“ (ebd. 1846); „Untersuchungen über die Glaubwürdigkeit der altrömischen Geschichte“ (Basel 1855); „Briefe über moderne Kritik und altrömische Geschichte“. Erstes Heft (Hamburg 1857); „Untersuchungen über die Glaubwürdigkeit der altrömischen Verfassungsgeschichte“ (Hamburg 1858, 2. Ausgabe ebd. 1873); „Elementarbuch und Grammatik der französischen Sprache“ (Hamburg 1867); „Einleitung zu einer Geschichte von Frankreich“ (Hamburg 1869, Programm des Johanneums); „Geschichte von Frankreich“. Erster Band: Frankreich in den Kämpfen der Romanen, der Germanen und des Christenthums (Hamburg 1872. Weiteres ist nicht erschienen); „Untersuchungen über die Evangelien und das Leben Jesu“ (Hamburg 1874); „Untersuchungen über Diodor“ (Gütersloh 1879); „Moderne Quellenforscher und antike Geschichtsschreiber“ (Innsbruck 1882); „Geschichte des deutschen Volkes und des deutschen Reiches von 843–1024“, 2 Bände (Braunschweig 1890. Der erste Band war 1889 selbständig erschienen unter dem Titel: Deutschland vor tausend Jahren. Ein Kulturbild. Der zweite Band hat den Specialtitel: Die Zeit von 882–1024). Außer diesen größeren Schriften hat er mehrere Artikel in Pauly’s Realencyklopädie, in wissenschaftlichen Zeitschriften, in der „Augsburger Allgemeinen Zeitung“ und in den „Hamburger Nachrichten“ geschrieben.

Mittheilungen seiner Tochter. – Programm des Johanneums, Ostern 1896. – Rudolf Schleiden, Jugenderinnerungen e. Schleswig-Holsteiners. Wiesb. 1886, S. 219/20. – Sybel’s Histor. Ztschr. Bd. 69 (1892), S. 510/11.