„An der Saale kühlem Strande“
Von all den Tausenden, welche alljährlich das Fernweh nach dem unversiechbaren Jungbrunnen der Thüringer Berge ergreift und aus dem Staube und Lärm der Städte hinaustreibt in das tannengrüne schattendunkle Reich des Waldes, wendet sich oder wandte sich doch bisher die große Mehrzahl dem nordwestlichen Theile Thüringens zu, besonders deshalb, weil dessen schönste Punkte von Eisenach ab am schnellsten und bequemsten zu erreichen waren. Und doch kann sich der Südosten Thüringens gar wohl mit den Orten des nordwestlichen Theils messen, denen die Hauptmasse der Waldfahrer zuströmt. Denn wo wäre wohl in diesem ein Thal von so ursprünglicher Frische und Waldespracht, wie das Schwarzathal? Oder giebt es wohl überhaupt ein harmonischeres Waldbild, als Schwarzburg vom Brockenhäuschen des Tripsteinfelsens aus? Und hat nicht der Südosten Ilmenau und seine anmuthige Umgebung, Paulinzelle mit seiner herrlichen Klosterruine?
Freudig mußte daher ein Unternehmen begrüßt werden, welches dem längst und schwer empfundenen Mangel der schnelleren und bequemeren Erreichbarkeit der südöstlichen Hälfte des Thüringer Waldes Abhülfe schafft. Dieses Unternehmen ist die am 1. Mai 1874 eröffnete Saalbahn, welche bei Großheringen, einem Dörfchen zwischen Kösen und Sulza, von der Thüringer Bahn abzweigt, in Saalfeld, wo sie sich mit der Gera-Eichichter Bahn vereinigt, endet und den Reisenden von Halle oder Leipzig ab in etwa fünf Stunden nach Rudolstadt oder Schwarza und damit mitten hinein in’s Thüringerland, dicht vor die schönsten Partien des Südostens führt. Sie ist aber nicht nur der schnellste, sondern auch der schönste Weg nach jenem Theile Thüringens; denn durch sie ist es möglich, auch das an malerischen Landschaftsbildern reiche Saalthal mit Aufwand geringer Zeit kennen zu lernen, und so führt sie daher nicht blos Thüringen eine größere Zahl walddurstiger Pilger zu, sondern sie erschließt zugleich erst der Reisewelt das schöne, bisher nur spärlich besuchte Saalthal.
Ihm nun und seiner Bahn sei von der Gartenlaube ein Besuch abgestattet, indem sie heute ihren Lesern das umstehende [434] lebensvolle Bild Hermann Heubner’s, des bewährten Malers der Thüringer Berge, bringt. Mir aber sei es gestattet, mit führendem Wort diese Saalbahnfahrt zu all den Bergen und Burgen, zu all den Städten im Thale zu begleiten, die unser Bild in anmuthiger Gruppirung vor das Auge führt. –
Das Saalthal von Großheringen bis Saalfeld, welches die Saalbahn durchzieht, ist nur der größere Theil des vorderen Saalthals, welches erst zwischen Weißenfels und Naumburg in die weite Ebene mündet, durch die dann der breiter werdende Fluß seine trüben Wellen so langweilig und ehrbar der Elbe entgegenwälzt, daß man es ihm kaum ansieht, welche eine frische Jugend voll toller Sprünge hinter ihm liegt, in der er mit allen Bäumen und Blumen des Ufers verliebt gekost, all die blauäugigen Waldkinder, Roda und Orla, Unstrut und Ilm und seinen Liebling, die schmucke Schwarza an’s Herz gedrückt und mit den Jenenser Studenten im „Paradiese“ geschwärmt hat.
Aber auch gleich nach dem Eintritt in’s Saalthal wird die Gegend freundlicher; zahlreiche Obstpflanzungen schmücken den fruchtbaren Grund; Naumburg mit seinen Rebenbergen und Landhäusern taucht auf; Freiburgs alter Wartthurm schaut herüber; die alte Schulpforta zeigt sich zur Linken, und bald ist der Anfangspunkt der Saalbahn, das unscheinbare Dörfchen Großheringen, erreicht. Hier, nicht weit von den grauen Thürmen der Rudelsburg und Saalecks, beginnt das eigentliche Saalthal; hier zweigt sich die Saalbahn von der Thüringer ab, dringt nun mühsam, zwischen steinernen Futtermauern und trotzig den Eingang wehrenden Höhen hin, in das enge Thal ein und erreicht bald darauf die erste Station, das freundliche Städtchen Camburg, welches zu beiden Seiten des Flusses am Fuße des mit einer alten Warte gekrönten Thurmberges malerisch anmuthig sich ausbreitet. Dieser Berg gewährt eine erquickende Aussicht auf den fruchtbaren Grund, das freundliche Städtchen, die grünen Bergwände und die friedlich mitten hindurch ziehende Saale.
Von hier bis zum nächsten Haltepunkte windet sich der Schienenweg auf schmalem, mittelst langer Steinbauten dem Strome abgerungenem Boden durch einfache Wiesenauen, Obstpflanzungen und Saatfelder, bis plötzlich einer der bisher das linke Ufer verengenden Bergvorsprünge zurücktritt und sich vor unseren Blicken eines der reizendsten Bilder des Saalthales aufthut. Droben auf der schroffen Kante hoch übereinandergeschichteter, steil zur Saale abfallender Kalkfelsen schauen die drei Schlösser Dornburg’s in’s breiter sich ausdehnende Thal herab, und dazwischen blühen und grünen in voller schwellender Pracht die weinumrankten Terrassen, die schattigen Laubgänge und buntfarbigen Blumenbeete des Schloßgartens, die das kahle Bergeshaupt wie mit duftigem Kranze umwinden. Und doch entfaltet das alte Städtchen nur einmal im Jahre seinen vollen, reichsten Schmuck, und nur Der kennt es in seiner ganzen feenhaften Schönheit, der es gesehen hat an einem heiteren Sommertage, wenn all seine tausend Rosen glühen und duften, wenn alle seine blühenden Glocken und Glöckchen in leisem Windhauche zittern und die alten Schlösser, wunderbar beglänzt von hellem Sonnenscheine, wie eingesponnen liegen in Schimmer und Blumen.
So kenne ich dich, so stehst du licht und unvergeßlich in meiner Erinnerung, und so grüße ich mit freudigem Herzen dich wieder, mein rosenumranktes, duftumhauchtes Dornburg.
Aber diese reichen Gaben der Natur begründen nicht allein die Anziehungskraft der drei schlichten Bergschlösser; eines derselben ist zugleich eine geweihte Stätte, ein vom Genius der deutschen Poesie verklärtes Schmerzensasyl unseres größten Dichters. Denn während das mittlere der drei Bauwerke ein erst im achtzehnten Jahrhundert erbautes Lustschloß, das unterste, nördliche dagegen ein kaiserliches Palatium ist, in welchem einst in den Tagen Kaiser Otto’s des Ersten mehrfach Reichstag gehalten wurde, suchte und fand in dem am südlichen Ende des Felsens gelegenen, unscheinbarsten Gebäude der gebeugte Goethe am Abende seines Lebens Trost für den schweren Verlust, der ihn durch den Tod seines fürstlichen Freundes, des am 14. Juli 1828 plötzlich heimgegangenen Großherzogs Karl August, getroffen hatte. Von Weimar floh er, um „jenen düsteren Functionen zu entgehen wodurch man, wie billig und schicklich, der Menge symbolisch darstellt, was sie im Augenblicke verloren hat”, zuerst nach Jena, aber auch hier, wo ihn Alles an den theuren Todten mahnte, war seines Bleibens nicht lange. Da, in jenen trüben Tagen des Schmerzes stieg vor seiner Seele das Bild des freundlichen Dornburgs empor, und eine Ahnung, daß er dort finden werde, wonach ihn so heiß verlangte, wurde laut und immer lauter in ihm, so daß er schon am 7. Juli nach dem alten Städtchen abreiste. Und der große Naturkenner hatte sich nicht getäuscht, als er von all den schönen Gegenden, die das Land seines verewigten Freundes in reicher Fülle bot, das friedliche Dornburg zum Asyle wählte. Dort in der schlichten „Bergstube” des bescheidenen Schlößchens mit den mittelalterlichen Giebeln bewährte sich an ihm die freundlichmilde, schmerzstillende Kraft des Saalthals; mit Entzücken genoß er die anmuthig-schlichte Aussicht „hinab auf die zu Dörfern versammelten, durch Gartenbeete und Baumgruppen gesonderten Wohnsitze, das hübsche Thal mit seinen flachen Wiesen, steigenden Aeckern und einer bis an die unzugänglich-steilen Waldränder sich erstreckenden Vegetation”; der Friede der ihn umgebenden Natur brachte auch den verlorenen Frieden seiner verwundeten Seele zurück, und erst als die Blätter fielen und der Herbst seine mahnenden Boten in’s stille Thal sandte, nahm er wehmüthig dankbaren Abschied von dem anmuthigen Dornburg, das ihm so schönes Gastgeschenk gegeben hatte.
Seit jenen Tagen aber hat Niemand wieder die schlichte Bergstube bewohnt; liebevolle Pietät hat sie in demselben Zustande erhaltet, wie sie einst von dem greisen Dichterfürsten verlassen wurde. Und bieten die prunklosen Zimmer mit den einfachen Möbeln dem Auge auch nicht viel, sie bleiben doch eine geweihte Stätte, über welcher ein seltsam unbeschreiblicher Zauber liegt. Es ist, als sei in den stillen Räumen ein Hauch des Friedens, wie er einst hier über das trauernde Poetenherz gekommen, zurückgeblieben, als müsse der Blick aus den rebenumrankten Fenstern hinab auf das trauliche Landschaftsbild Alles, „was uns kränket und was uns bange macht”, zur Ruhe bringen und auch den schwersten Kummer leise von der bedrückter Seele lösen. Möge darum manch Saalbahnfahrer wohlgemuth den steilen Pfad nach den alten Schlössern hinansteigen und freudig eintreten in die schlichte Bergstube des Goetheschlößchens! Dort wird er bei dem Beschließer desselben, dem altem Hofgärtner Eckell, der einst auch Goethe mit Speise und Trank gelabt hat, nicht nur freundliche Aufnahme finden, sondern sich auch manch selbsterlebte Erinnerung an seinen unvergeßlicher Gast erzählen lassen können.
Doch unterdessen ist unser Zug längt weitergeeilt und braust nun an den Felsen des Städtchens dahin und bald an einer Reihe waldgekrönter Höhen vorüber, von deren einer die zerfallener Reste der Kunitzburg auf das zu ihren Füßen hingelagerte, durch feine Eierkuchen berühmte Dörfchen Kunitz herniederschauen. Nach und nach aber tauchen schon die kahlen, seltsamen Kalksteinformen der Jenaer Berge auf; der langgestreckte Rücken des einst mit drei Burgen geschmückten Hausberges, den jetzt nur noch die Ruine des Kirchberger Schlosses, der einsam fingerartige Fuchsthurm, krönt, wird sichtbar; gegenüber hebt der Landgraf mit dem Napoleonsteine sein Haupt empor; der Jenzig senkt sich in scharfgeschwungener Linie herab; frische Jenaer Luft strömt durch das Thal und weckt mächtig alte Erinnerungen auf an jene classische Zeit Jenas, da Schiller und Goethe im kleinen Saal-Athen lebten und wirkten, aber auch an jene für den Einzelnen nicht minder classischen Tage fröhlichster, studentischer Jugendluft der urgemüthlichen Musenstadt. Da zieht sich der Philosophengang, der berühmte „Spaziergang” des gelehrten Jenas, hin, während drüben „der Berg mit dem röthlich strahlenden Gipfel” erglänzt; hier durch die Erlen der feuchten Wiesen, in denen die Herbstnebel sich zu phantastischen Gestalten zusammenballen, ritt einst der „Vater mit seinem Kind”, und drüben im Giebelstübchen des Gasthofs „Zur Tanne” dichtete Goethe seinen unsterblichen „Erlkönig”; da grüßt das unscheinbare Kirchlein Wenigenjenas herüber, in dem sich still und einfach „der Kosten wegen” der arme Professor Schiller trauen ließ, und dort wieder winken die schmucken „Bierdörfer”, in denen sich die „Lustigen von Weimar” kraftgenialisch amüsirien und in denen noch heute der durstige Musensohn seine fidelen „Exkneipen” hält. Und sieh, dort erscheint nun das alte, liebe Jena selbst, und mit ihm tauchen all die unvergessenen Stätten akademischer Wirksamkeit, Burgkeller und Universität, Rose und Zeise und all die ehrwürdigen Locale, wo dem Studenten leibliche und geistige Nahrung reichlich verabfolgt wird, vor [435] unseren Blicken auf. Heute aber soll ihnen all ihr Locken und Grüßen Nichts helfen. Wie es auch den alten Jenenser heimwehstark hineinzieht in all die Herrlichkeiten der alma mater, heute sei nicht von ihnen gesungen und gesagt, so Vieles und Lustiges auch davon zu berichten wäre; die Gartenlaube wird ihnen später ein besonderes Gedenkblatt widmen. Darum fort mit den Erinnerungen an die „schönen Tage von Aranjuez”, hinweg mit den alten Studentenliedern, die alle wieder wach werden und lustig durch Kopf und Herz klingen! Zum Abschiede aber ein Kännchen Lichtenhainer auf das Wohlergehen und Blühen der fröhlichen Musenstadt und aus warmem Herzen ein aufrichtiges; „Stoßt an! Jena soll leben!”
Hinter uns liegen nun die Thürme und Häuser Saal-Athens; das Dampfroß führt uns weiter den Bergen zu, durch die Gärten der Stadt und durch das „Paradies”, einen von der Saale durchflossenen, vom Schienenstrange durchschnittenen Spaziergang, hinweg über die Stelle, wo die jetzt ganz verschwundene Rasenmühle einst sich erhob, von welcher ein unbekannter Poet so herrlich gesungen hat:
Wir fahren vorüber an den „Burgen auf den Bergen“, an den bierberühmten Ortschaften Ziegenhain, Wöllnitz und Lichtenhain, den Sitzen ruhmreicher, uralter Herzogsgeschlechter „von Bieres Gnaden“, während weiterhin oberhalb des Städtchens Lobeda von schroffem Bergscheitel die Ueberreste der Lobedaburg, einer der größten und besterhaltensten Burgen „an der Saale kühlem Strande“, verödet in die freundliche Landschaft herniederblicken. Bald darauf ist die nächste Haltestelle, das Dörfchen Rothenstein erreicht, über welchem sich, steil zur Saale abfallend, eine aus rothen Sandsteinschichten gebildete Höhe, der Rothensteiner Felsen, erhebt. Hier war es, wo im dreißigjährigen Kriege sich ein schwedischer Trompeter, von den Feinden verfolgt, mit seinem Roß in die Saale hinabstürzte, dieselbe glücklich durchschwamm, dann aber, am jenseitigen Ufer angekommen und das Lied „Nun danket alle Gott!” blasend, von einem ihm nachjagenden Croaten erschossen wurde. Von der Spitze des Rothensteiners aus bietet sich eine anmuthige Ansicht auf Thal und Fluß, links hinab bis zu den kahlen Berggestalten von Jena, rechts hinauf bis zu den waldigen Höhen der Thüringer Vorberge, während mitten über dem schönen Bilde auf einem alle anderen Höhen überragenden Vorsprunge der alte Bergfried der stattlichen Leuchtenburg thront. Diese selbst, welche, einer Leuchte gleich, von nun an lange sichtbar bleibt, ist am schnellsten und bequemsten von der nächsten Station der Bahn, dem am Fuße des Dohlensteins malerisch gelegenen Städtchen Kahla, zu erreichen. Der Besuch der wohlerhaltenen Veste ist wegen ihrer entzückend schönen, umfassenden Rund- und Fernsicht auf das Saalthal und die Saalberge bis weithin auf die zahllos in einander überfließenden Waldgipfel Thüringens um so mehr zu empfehlen, als das Zucht- und Arbeitshaus des Herzogthums Sachsen-Altenburg sich nicht mehr hier befindet.
Von Kahla ab verändert sich nun der Charakter der Landschaft; ringsum wird’s grüner, thüringischer; in größeren Zwischenräumen erscheinen Dörfer, deren bescheidenes Aeußere sich den Walddörfern nähert, und statt der kahlen Jenaer Berge senken sich, fast bis zum Fuße mit dunklem Nadelholze bedeckt, die Ausläufer des Thüringer Waldgebirges in’s Thal hernieder. Nur einmal noch, bevor wir in Letzteres tiefer hineindringen, wird das Grün der bewaldeten Kuppen unterbrochen durch den schroff aufsteigenden Sandsteinfelsen, aus dessen langgestrecktem Rücken sich hoch über der Stelle, wo das Flüßchen Orla seine Fluthen der Saale vermählt, das an historischen Erinnerungen reiche Städtchen Orlamünda ausbreitet. „Das thüringische Bethlehem” nennt es das Volk, weil seine Lage der Geburtsstadt Christi so sehr gleichen soll, daß schon nach dem Berichte einer alten „Thüringischen Chronika” Einer von Bünau, „so eine Reise in’s gelobte Land mitgethan”, versichert hat, wer Orlamünda sehe, der sehe Bethlehem in Palästina.
Allein es weht auch ein Hauch bedeutender Vergangenheit durch das alte Städtchen, denn es ist der Stammort jenes mächtigen Grafengeschlechts von Orlamünda, welches am Anfange unseres Jahrtausends über einen großen Theil Thüringens und Frankens gebot, bis nach und nach durch den Uebermuth der stolzen Herren ein Besitzthum nach dem anderen verloren ging, Glanz und Ruhm erlosch und endlich das weitverzweigte Geschlecht gänzlich ausstarb. Dann wurde auch die umfangreiche Stammburg zerstört, und Nichts ist mehr von ihr übrig, als ein am östlichen Ende der Stadt gelegenes, unansehnliches Gebäude, die Kemnate der Burg, die sogenannte Kempte, die, jetzt mit hohem, bürgerlichem Dache versehen, als Speicher benutzt wird. Frau Sage aber hat zugleich Besitz ergriffen von dem zerfallenen Schlosse und die geborstenen Mauern nach ihrer phantastischen Art mit dem üppig rankenden Grün ihrer Märchen umkleidet. Sie läßt durch den einsamen Burghof in mondscheinerhellter Sommernacht eine weiße Frauengestalt wandeln, ein Weib aus dem stolzen Grafenhause, das einst, um ihre Heirath mit dem Burggrafen Albrecht dem Schönen von Nürnberg zu ermöglichen, ihre beiden Kinder aus erster Ehe ermordet haben soll und zur Sühne dieser Unthat nun ruhelos wandern muß durch die Trümmer der Burgen ihres erloschenen Geschlechts; ja, sie bringt diese weiße Gestalt in engste Verbindung mit jenen Burggrafen von Nürnberg, deren Sproß jetzt auf dem neuerstandenen Kaiserthrone Deutschlands sitzt, und läßt sie auch in den getäfelten Sälen des Berliner Schlosses erscheinen und „als weiße Frau nun ihre Schlüsselbündel kollern wenn ein Fleck sich soll verdunkeln an der Sonne Hohenzollern.”
Doch nicht blos die Sage, auch die Geschichte kennt eine Verbindung jener Nürnberger Burggrafen mit dem Orlamündaischen Grafenschlosse, und wieder ist es eine Heirath, eine für das Haus Hohenzollern bedeutsamste Heirath, bei welcher die alte Burg eine Rolle spielt: die im Jahre 1350 erfolgte Vermählung des Burggrafen Friedrich von Nürnberg mit Elisabeth, der Tochter Markgraf Friedrich’s des Ernsthaften von Meißen, der 1344 die Grafschaft Orlamünda käuflich erworben hatte. Die Mitgift der Letzteren aber wurde durch Verpfändung von Orlamünda gewährt, das bis 1358 im Besitze des Burggrafen Friedrich verblieb, während die Plassenburg, die Stammburg der fränkischen Linie der Orlamündaer Grafen, die schon vorher Eigenthum Friedrich’s war, von Letzterem seiner „zukünftigen ehelichen Wirthin zur Bewitthumung assigniret” wurde. Jene Elisabeth aber wurde die Mutter des ersten Kurfürsten von Brandenburg und damit die Stammmutter des kaiserlichen Hauses der Hohenzollern. Vielleicht veranlassen diese Erinnerungen, welche der trotzig in’s Thal schauenden Kempte ein historisches Interesse verleihen, manchen Saalbahnfahrer, dem an anmuthiger Umgebung und mancherlei Ueberresten aus alter Zeit reichen Städtchen, in welchem sich auch später ein kleines Stück Reformationsgeschichte, deren Held der Orlamündaische Pfarrer und Bilderstürmer Andreas Bodenstein war, abgespielt hat, einen Besuch zu widmen.
Nun verschwinden bald die Sandsteinfelsen Orlamündas, und der Zug braust durch eintönige, nur durch die helle Weißenburg, welche früher ebenfalls Eigenthum und Wohnort der Orlamündaischen Grafen war, belebte Gegend, bis sich hinter der nächsten Station, dem hart am Flusse gelegenen Dorfe Uhlstädt, das Thal weiter ausbreitet und das stattliche Schloß von Rudolstadt und kurz darauf auch die freundliche Stadt selbst sichtbar wird. Ihr namentlich und ihren zu wenig gewürdigten landschaftlichen Reizen wird der Schienenweg die gebührende Beachtung bringen. Denn wie herrlich ist schon die Lage der kleinen Residenz in dem von einem Kranze grüner Waldberge umrahmten Thale am Ufer der rauschenden Saale, überragt von dem auf einem Bergvorsprunge sich erhebenden Schlosse, der imposanten Heidecksburg! Wie schön liegt auf den Boden, den vor Kurzem noch die Wellen des Flusses bedeckten, der Bahnhof neben den schattigen Lindenalleen des Angers, des Brennpunktes des Lebens der Rudolstädter! Dazu rings auf den Höhen all die blühenden Berggärten mit schmucken Villen und Gartenhäuschen, ferner der Hain, ein Park auf dem westlich vom Schlosse sich ausdehnenden, mit Laub- und Nadelholz bewachsenen Bergrücken voll prächtiger Anlagen und Aussichtspunkte! Und weiter nah und fern Spaziergange der erfrischendsten Art und von allen Höhen herrliche Blicke auf Stadt und Fluß, auf Berg und Thal, so schön und lieblich, daß schon Kaiser Karl der Fünfte von Rudolstadt rühmte, er glaubte ein Bild des schönen Galliens vor sich zu haben. Und − merkwürdig − wie am Eingange des Saalthales Dornburg dem greisen Goethe ein erwünschtes Asyl bot, so hat am Ausgange desselben der in jugendlicher Manneskraft stehende Schiller hier in Rudolstadt und in dem nahen Volkstedt
[436][438] 1788 und 1789 freundliche Aufnahme gefunden. Und auch ihn entließ das Saalthal nicht unbeschenkt; fand er doch hier in dem befreundeten, durch Geist und Bildung ausgezeichneten Hause der Frau von Lengefeld seine Charlotte, mit der er dann weiter unten im Saalthale, in Wenigenjena, den Bund für’s Leben schloß.
Doch unsere Fahrt geht ihrem Ziele entgegen. Ein großer Theil der Reisenden wird wohl schon in Rudolstadt oder doch auf der nächsten Station, dem Dorfe Schwarza, der Mündung des herrlichen Schwarzathals, der Saale und der Saalbahn Lebewohl sagen, um nun dem südöstlichen Thüringen sich zuzuwenden. Manch Einer aber wird auch noch das freundliche, alterthümliche Saalfeld, die Endstation der Saalbahn, und von hier aus den an schönen Waldpartien reichen Saalwald besuchen. Wir aber, am Ende unserer Saalbahnfahrt, scheiden von den bunten Bildern des Thales, durch die uns schnell das Dampfroß dahingetragen hat. Und dieser Wunsch sei ihm ein Abschiedsgruß. Möge die neue Bahn dem lieben Saalthale regen Aufschwung des Verkehrs, seinen landschaftlichen Schönheiten zahlreiche Freunde zuführen!