„1870 bis 1871. Vier Bücher deutscher Geschichte“

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Titel: „1870 bis 1871. Vier Bücher deutscher Geschichte“
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aus: Die Gartenlaube, Heft 24, S. 407
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1879
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[407] „1870 bis 1871. Vier Bücher deutscher Geschichte“. So nennt sich Johannes Scherr’s jüngstes (bei Otto Wigand in Leipzig erschienenes) Werk, dessen zwei Bände den Freuden des akademisch approbirten Geschichtsstils manchen erneuerten Wehruf entlocken werden wegen des Mangels an würdesteifer Gemessenheit und sogenannter „objectiver“ Haltung. Allerdings spricht und blickt uns aus Art und Ton dieses Buches wiederum das unverkennbare Charaktergepräge, die stark markirte Geistesphysiognomie des Autors an, der es geschrieben hat. Im Uebrigen braucht man jedoch nur etwas schärfer hineinzusehen, um sich zu überzeugen, daß hinter aller publicistischen Stilfärbung, hinter aller Eigenart eines bald schneidig, bald herzwarm oder derbhumoristisch aufblitzenden Stimmungs- und Gesinnungsausdrucks auch in diesem neuen Werke Scherr’s alle jene Merkmale einer kernhaften „Objectivität“ und Sachlichkeit sich finden, welche seine bisherigen historischen Arbeiten meist so unangreifbar gemacht – vor Allem also der zielbewußte, fest durchgeführte, von unbestechlichem Wahrheitssinn geleitete Plan, dabei eine hohe Reife und Beweiskraft der Urtheile und Auffassungen, und endlich die sauberste und sorgfältigste Gründlichkeit in der kritischen Prüfung der Thatsachen, der Sichtung und Bemeisterung eines ungeheuren Materials.

Schon der Anlaß zu der umfassenden Schöpfung ist sichtlich nicht [408] durch äußerliche Beweggründe, sondern von den ernstesten Erwägungen sittlicher und politischer Art gegeben worden. Blicken wir auf die neun Jahre zurück, welche seit dem Abschlusse des siegreichen Feldzuges verflossen sind, so zeigt sich ein Gewirr von Fragenstürmen, die unbeschwichtigt und mit ruheloser Unablässigkeit unser inneres Leben durchtosten. Diese schweren Krisen haben zwar das hehre Bild dieser machtvollen Erhebung nicht aus dem Herzen unseres Volkes vertilgen können, aber bei dem Mangel an Sammlung, unter den ablenkenden Nöthen heftiger Tageskämpfe ist es doch einstweilen zurückgescheucht und überhaupt noch nicht zu seiner vollen Nachwirkung im besten Sinne des Wortes gekommen. Das ist aber ein herber Verlust, ein unermeßlicher Schaden. Viel jämmerliches Zerwürfniß, viel zorniger Kleinigkeitsgeist, viel schäbiger und bösartiger Interessestreit würde nicht so erheblich unsere gegenwärtige Uebergangsperiode herabdrücken und vergiften können, wenn die Erinnerung an den Thatenglanz vereinigter Nationalkraft, an die Gedanken und Vorsätze, das begeisterungsstarke Wollen und opfermuthige Vollbringen von 1870 auf 1871 uns noch allseitig ein Leitstern, eine aufrüttelnde und erfrischende Mahnung sein könnte in dem dunkelen Wirrsal dieser prüfungsreichen Tage.

Als eine solche Mahnung, wenn dies auch nicht gleich direct und ausdrücklich gesagt ist, rollt Scherr das welterschütternde Drama des großen Jahres vor dem Gewissen seines Volkes auf, und dadurch erlangt sein Buch die Bedeutung einer That. Die Geschichte des deutsch-französischen Krieges ist nur in Bezug auf manche Einzelheiten noch nicht endgültig aufgeklärt. Im Ganzen aber lag die Sache jedem Unbefangenen von vornherein schon klar, während zur Erhaltung des Details seitdem von allen Seiten her eine solche Fülle wichtigen Materials geliefert wurde, daß für die selbstständige deutsche Geschichtschreibung allerdings nicht blos die Möglichkeit, sondern auch die Pflicht und Aufgabe erwachsen ist, es in geschlossener Darstellung zu verarbeiten. Scherr ist der erste unter unsern wirklichen Historikern, der sich dieser Aufgabe unterzogen hat. Ohne alles Ceremoniell pathetischer Einleitungsbetrachtungen, wie wir sie die Jahre her zur Genüge vernommen, erfaßt er sofort die Kern- und Brennpunkte der Bewegung und charakterisirt uns in den drei Abschnitten seines ersten Buches (Der Mann – Das Werk – Der Feind) die wachsende Spannung und Zuspitzung der Gegensätze, die Vorspiele und ideellen wie materiellen Vorbedingungen des endlichen Zusammenstoßes. Unter je drei kurzen Abschnittsüberschriften (Wörth, Gravelotte, Sedan – Straßburg, Metz, Paris – Orleans, Belfort, Versailles) werden wir sodann von dem zweiten Buche des ersten und dem dritten und vierten Buche des zweiten Bandes zunächst in die denkwürdige Situation nach dem Ausbruche des Krieges und dann in die weiteren Verläufe des gewaltigen Ringens bis zum Sturze des Bonapartismus und von da bis zum Abschluß des Friedens und der Constituirung des deutschen Kaiserreichs versetzt. Keine von den mannigfaltigen Seiten der verwickelten Hergänge bleibt hier bei der naturgemäßen Gruppirung des Stoffes unerörtert, und ebenso naturgemäß schlingen sich die zwölf abgerundeten Einzelblätter zu einem einheitlichen Gemälde in einander, das in seinen Wirkungen auf das Gemüth kaum minder großartig und ergreifend, in seinen Lehren aber noch deutlicher und eindringlicher sich erweist, als der geschilderte Nationalkampf es selber gewesen ist.

Mehr brauchen wir hier zur Hinweisung auf dieses charaktervolle, von dem mannhaft freisinnigen Geiste eines unabhängigen Patriotismus durchhauchte Buch wohl nicht zu sagen. Daß es zahlreiche Leser finden wird, dafür bürgt uns schon der volksthümliche Name des Verfassers, die wuchtige und durchaus originelle Schilderung, der Reichthum an pikanten und bezeichnenden Einzelzügen sowie an erhebenden geistvollen und witzigen Bemerkungen. Jeder unbefangene Deutsche aber, der es mit der erforderlichen Empfänglichkeit gelesen, wird es mit dem Bewußtsein aus der Hand legen, daß er da einen aufrichtenden und läuternden Eindruck empfangen hat. Mit einer gewissen Zuversicht darf man also hoffen, es werde das so geartete Bild des unvergeßlichen Jahres die hohe sittliche und ideale Aufgabe erfüllen helfen, welche Scherr am Schlusse seines Werkes diesem größten aller bisherigen Momente unserer vaterländischen Geschichte mit den Worten zuerkennt: „So selten ist ja uns Deutschen gestattet, unsere Blicke mit Befriedigung und Erhebung auf einem der Blätter ruhen zu lassen, welche die Geschicke unseres Landes erzählen. Darum soll kein Gegenwartleid und keine Zukunftssorge einen Schatten auf das Blatt werfen, auf welchem die Geschehnisse des Jahres 1870 und 1871 verzeichnet stehen. In voller Glanzhelle durchstrahle es die kommenden Jahrhunderte triumphirend und tröstend, warnend und wegzeigend, ein Leuchtfeuer deutscher Nation!“