RE:Alexandrinische Litteratur

Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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griechisch, ab 300 v. Chr.
Band I,1 (1893) S. 1399 (IA)–1407 (IA)
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Alexandrinische Litteratur.

I. Umfang

Unter der alexandrinischen Periode der griechischen Litteratur begreift man die Zeit von der Entstehung und Befestigung der Diadochenmonarchieen – etwa 300 – bis zu ihrem schliesslichen Untergang im römischen Reiche, also etwa bis zum Beginn der Kaiserherrschaft (Th. Bergk Kl. phil. Schr. II 533). Diese Periode als alexandrinische zu bezeichnen, berechtigt der Umstand, dass Alexandreia, dank des Interesses und der Teilnahme des ptolemaeischen Königshauses an den geistigen Bestrebungen seiner Zeit, der tonangebende Vorort für Kunst und Wissenschaft wurde; die (neuerdings üblichere) umfassendere Bezeichnung ‚hellenistische Periode‘ verliert daneben nicht ihre Berechtigung.

II. Vorbedingungen

Nachdem die politische Freiheit und Selbständigkeit Griechenlands vernichtet war, verlor Athen seine Bedeutung als Mittelpunkt alles Wissens und aller Bildung; der Schauplatz der neuen Litteraturperiode ward die hellenisierte Neugründung Alexanders d. Gr., deren einsichtsvolle Herrscher den gewaltigen Plan des Makedonerkönigs, die Kultur des Occidents mit der des Orients in Einklang zu setzen, schrittweise ausführten. Mit der Ausbreitung hellenischer Sprache – die nicht ohne Entstellungen allmählich in die sogen. κοινή überging – und Bildung, der erweiterten und vertieften Kenntnis orientalischer Kultur schwand der früher schroffe Gegensatz zwischen Hellenen und ‚Barbaren‘ mehr und mehr; ja bei einzelnen bevorzugten Geistern stieg schon der Gedanke einer kosmopolitischen Einheit aller Völker und Menschen auf (Eratosth. b. Strab. I 66). Dem ersten Ptolemaios gab der vielseitige und einflussreiche Peripatetiker Demetrios von Phaleron (s. d.) den Anlass, die alexandrinische Bibliothek zu gründen, die dann Ptolemaios Philadelphos mitsamt dem Museion ins Leben rief; letzteres eine Nachahmung der platonischen Akademie und des aristotelischen Peripatos. Beide Institute erhoben Alexandreia sofort zum Mittelpunkt aller wissenschaftlichen Studien; der Thätigkeit der daselbst beschäftigten Gelehrten verdanken wir die überkommene griechische Litteratur der älteren Zeiten. Der älteste Bibliothekar, Zenodotos von Ephesos (s. d.), ordnete die Epiker und Lyriker, seine Gehülfen Alexandros von Pleuron (s. d.) die Tragiker, Lykophron (s. d.) die Komiker. Den grossen Realkatalog verfasste Kallimachos (s. d.); Nachträge lieferten Eratosthenes und Aristophanes von Byzanz, der letzte Bibliothekar war Aristarchos. Über die wissenschaftliche Arbeit im Museion wissen wir nur Einzelnes (Strab. XVII 794. Ath. XI 493e). Litterarische Interessen zeigen fast alle Ptolemaier: Ptolemaios I. schrieb eine Geschichte Alexanders und berief Philetas und Straton zu Erziehern seines Sohnes, Philadelphos und Euergetes förderten die exacten Wissenschaften (Naturkunde und Mathematik), Philopator, ein grosser Verehrer Homers, dem er einen Prachttempel baute, schrieb eine Tragödie, selbst Physkon, unter dessen Schreckensherrschaft die [1400] Gelehrten vertrieben wurden, dilettierte in grammatischen Studien, Länder- und Völkerkunde. Aber auch an den andern Höfen zeigen die Herrscher Interesse für Litteratur. Antigonos Gonatas (s. d.) schilderte ausführlich in einem eigenen Werke den Kreis der Dichter und Philosophen, die sich in Pella eingefunden hatten. Weniger Interesse hatten die Seleukiden, um so mehr die Attaliden. Attalos I. versammelte zahlreiche Gelehrte um sich und war selber schriftstellerisch thätig, Eumenes II. bemühte sich, die pergamenische Bibliothek auf gleiche Höhe mit der alexandrinischen zu heben, Attalos II. war Kunstliebhaber. Diese mehr oder minder selbständige Bethätigung der Herrscher wirkte auf die Litteratur zurück und gab ihr einen besonderen Charakter, vor allem in Alexandreia, wo die staatliche Form der absoluten Monarchie am schärfsten ausgeprägt erscheint. Als richtige Erben Alexanders d. Gr. knüpften die Ptolemaier an die alten Traditionen der Pharaonen an, erhoben ihre Vorfahren zu Göttern und liessen sich als solchen huldigen. Die officiellen Urkunden sowie die Werke der Künstler und Kunstdichter, bei denen die Herrscher in recht durchsichtiger Symbolik als Götter erscheinen, bezeugen diesen Kultus eines entgötterten Zeitalters. Parallel mit der Verehrung des Königs geht die der Königin: bei keinem Dichter von Belang fehlen die Hochzeitsgedichte zu Ehren der Herrscherin, und auch in den andern Werken sind nicht selten Huldigungen höfischer Galanterie zu finden. Die absolute Monarchie schliesst die selbständige Bethätigung des Einzelnen am Staatsleben aus, giebt aber der Entfaltung der Individualität auf geistigem Gebiete vollen Spielraum: so ist die Litteratur dieses Zeitalters durchaus individuell, und durch die von allen Seiten zusammenströmenden Elemente erhält sie ein internationales Aussehen. Auf dem neuen Boden erhebt sich die Opposition gegen die gesamte Kultur der vergangenen Periode, die Männer der neuen Richtung, getragen von dem Bewusstsein ihres künstlerischen Könnens, eröffnen gegen den Atticismus mit seiner strengen Stilisierung der Kunst und des Lebens den lebhaftesten Kampf (Wilamowitz Eurip. Herakl. I 134). Indem man auf die archaischen vorattischen Muster, die erst durch mühsames Studium dem Verständnis erschlossen wurden, zurückgriff, regte sich der Wunsch der Nachahmung, der Kritiker wurde zum Dichter; erst später trennen sich die Wege der grammatisch-philologischen und der poetischen Thätigkeit.

III. Charakteristik der alexandrinischen Dichtung

Im ganzen lassen sich etwa drei Perioden der alexandrinischen Poesie unterscheiden. Die erste reicht von den ältesten Dichtern bis auf Kallimachos, die zweite umfasst die Lebenszeit des Kallimachos, des eigentlichen Begründers der erzählenden Elegie und des Epylls, und seine Schule, die dritte die Epigonen, welche in den überlieferten Formen weiter schaffen und sie endlich den Römern übermitteln. Die alexandrinische Dichtung ist gelehrt und wendet sich an ein gelehrtes Publicum: die Urkundlichkeit des Sagenstoffes wird betont (Kallim. frg. 442. Origen. [1401] c. Cels. 3, 43), rätselhafte kurze Anspielungen auf andere Sagenformen sind beliebt, Polemik gegen litterarische Gegner wird nicht gespart (Kaibel DLZ 1882, 1750). Der sprachliche Ausdruck ist vielfach gesucht und glossematisch dunkel, nicht selten durch Missbildungen verunstaltet – Inschriften aus derselben Zeit geben die beste Parallele – und steigert sich bisweilen zu einem wahren Vexierspiel, wie in Lykophrons Alexandra (Geffcken Herm. XXVI 567); selbst ein ausgesprochener Realist, wie der Iambiker Herondas (s. d.), kann sich diesem Stile nicht ganz entziehen (Diels S.-Ber. Akad. Berl. 1892, 17). Die Technik der Verse zeigt fortschreitendes Raffinement. In der Wahl der Stoffe werden ‚verlegene‘ Mythen bevorzugt, Ortssagen, Locallegenden u. dergl. begierig aufgegriffen (s. u.). Die althergebrachten Mythen und Sagen erhalten bei den besseren Dichtern dadurch einen neuen Reiz, dass das Interesse auf Nebenpersonen gelenkt wird, oder sie erfahren eine vollständige Umwandlung in das Weichliche, Üppige, Spielende. Liebesabenteuer werden auf die Götter- und Heroenwelt übertragen, Verwandlungen und Versetzungen unter die Gestirne sind beliebt. Charakteristisch ist das Hervorheben der weiblichen Schönheit in Wort und Bild; auch hier geht die alexandrinische Kunst dieselben Wege wie die Poesie und schreckt wie diese auch vor der Darstellung der bedenklichsten erotischen Verirrungen nicht zurück (Michaelis Philologenvers. zu Zürich 1887, 34–44). In der Vereinigung des ‚aphrodisischen Schmachtens und des dionysischen Taumels‘ feiern sie den grössten Triumph. Der Frauenwelt wird gehuldigt, indem ganze Gedichtsammlungen den Namen der Geliebten erhalten (Bittis, Leontion; ähnlich sind, dem Gönner- und Freunde-Kultus entsprechend, die Gedichte unter dem Namen eines solchen aufzufassen, wo die Beziehung erst aus dem Inhalte klar wurde: Telephos des Philetas, Ptolemaios und Berenike des Theokritos, Krinagoras des Parthenios). Die Frauen greifen selber zur Feder, wie Erinna von Tenos, die Vorläuferin der alexandrinischen Kleinkunst (s. d.), Nossis von Lokroi, die männliche Anyte von Tegea, die Byzantierin Moiro. Durch das rasche Aufblühen der Naturwissenschaften ward der Blick für scharfe Beobachtung geschärft, so erklärt sich der Hang zum Realismus in der Poesie. Der neugefundene Herondas ist für uns sein bedeutendster Vertreter, aber auch in die bukolische Dichtung (s. u.), die gemeinhin aus der Sehnsucht des Stadtmenschen nach der freien Natur erklärt zu werden pflegt, spielt er stark hinein. Das Leben der kleinen und armen Leute tritt aus den Epigrammen des Tarentiners Leonidas anschaulich entgegen. Die nivellierende Bildung der Zeit liess die Gelehrten darauf bedacht sein, volkstümliche Gebräuche und Sitten zu sammeln, sie begegnen uns bei Kunstdichtern wieder und bieten mit den liebevoll ausgemalten Scenen des häuslich-gemütlichen Lebens wohl die erfreulichsten Züge der Poesie dieses Zeitalters. In der Wahl der dichterischen Muster zeigt sich in der ersten Periode eine grosse Vielseitigkeit: die aiolische Lyrik, Anakreon, die Iamben des Archilochos und Hipponax werden nachgeahmt, eigene Erfindungen sind die [1402] seltsamen (formal an Zauberbräuche anknüpfenden? [Crusius WfklPh. 1888, 1095]) Figurengedichte des Simias, Dosiades, Theokrit; noch Kallimachos, vielleicht der Schöpfer des raffinierten Galliambos, verfasste ein dunkles Rätselgedicht (Reitzenstein Herm. XXVI 312). Das Prooimion der hesiodischen Theogonie gab Veranlassung, Götter und Göttinnen statt des Dichters als Erzähler einzuführen und somit den Bericht bei dem Leser zu beglaubigen (Kallimachos Aitien). Ähnlichen Zwecken dienten wohl die litterarischen Fälschungen der ältesten Alexandrinerzeit, wie die auf die Namen einer uralten delphischen Prophetin Boio lautende Ornithogonie (s. d.). Viele Bewunderer und Nachahmer fanden die hesiodischen Kataloge und Ehoien mit ihrer kunstlosen bequemen Anreihung genealogischer Sagen, namentlich in der ersten Periode, wo das Interesse am Stoff überwog; als Muster solcher Dichtungen aber galt die Lyde des Antimachos (s. d.), die selbst von dem stilistisch weit überlegenen Asklepiades von Samos hoch gepriesen wurde.

Die einzelnen Gattungen der Poesie. Das Epos im homerischen Stile wird nur in der älteren Zeit gepflegt. Um 260, als Apollonios von Rhodos (s. d.) seine Argonautica veröffentlichte, begann Kallimachos gegen ihn, die Lyde und die überlebten Formen des kyklischen Epos den Kampf, der mit Apollonios Niederlage endete. Erst nach Kallimachos Tod scheint ein vorübergehender Umschwung der öffentlichen Meinung in Alexandreia eingetreten zu sein; Homer fand eine gerechte Würdigung durch Eratosthenes, das alte Epos eine Erneuerung im Geiste der Zeit durch Rhianos (s. d. Usener bei Susemihl Alex. Litter. II 671). Die umfangreichen Epen Euphorions boten nur antiquarisches Interesse; dasselbe gilt für Nikandros. In der richtigen Erkenntnis der eigenen dichterischen Begabung empfahl Kallimachos, der Stimmführer der neuen Richtung, neue und abgelegene Stoffe in dem engen Rahmen von Elegien und Epyllen mit sauberer Verstechnik zu behandeln. Als Vorläuferin dieser alexandrinischen Kleinkunst hatte er Erinna (Ἀλακάτα), die noch später neben ihm als Typus genannt zu werden pflegt. Er selbst bildete die Elegie, die bereits früher (bei Mimnermos) der poetischen Erzählung Raum geboten, künstlerisch aus: seine vier Bücher Aitien sind neben dem zierlichen Epyll Hekale lange Zeit ein vielbewundertes und nachgeahmtes Vorbild hellenischer und römischer Dichter gewesen. Durch die Darstellung mannigfacher Liebesabenteuer erhielt die Elegie eine romantische Farbe, fast den modernen Balladen vergleichbar. Gegenüber der kindlichen Unbeholfenheit eines Alexandros von Pleuron (s. d.) und Hermesianax (s. d.), die ihre Gestalten ohne jede Charakteristik aufführen und an den losen Faden einer dürftigen Aufzählung reihen, wird der ernstliche Versuch gemacht, die Seelenstimmung der Helden und Heldinnen zu analysieren, während die eigentliche Erzählung sprungweise fortschreitet oder sich mit Andeutungen begnügt. Das subjective Element der älteren Elegie findet seinen Ausdruck im Epigramm; speciell im erotischen Epigramm ist Kallimachos der Meister und das Vorbild für [1403] Properz und Ovid. Idyllisch-gemütliche Züge fehlen in den epischen und elegischen Kunstdichtungen nicht, aufs höchste ausgebildet und zu einer eigenen Dichtungsart erhoben wird die Bukolik durch den koischen Dichterbund, dessen begabtestes Mitglied Theokritos (s. d.) ist. Auch die bukolische Poesie, deren scheinbare Natürlichkeit vielfach getäuscht und zu falschen Urteilen geführt hat, ist absichtlich und berechnet (M. Haupt opusc. I 253), erwachsen aus einer Art Opposition gegen die weltmännisch verfeinerte Geselligkeit und in die Form einer Maskerade gekleidet, die viel weiter reichen mag, als wir mit unseren Mitteln erkennen können. Verwandte, nur vergröberte Züge weist die Kinaidenpoesie und der Mimiambos auf, dessen bedeutendster Vertreter Herondas neben hübschen, aus dem Volksleben gegriffenen Genrebildern ‚die Brutalität und Stupidität ländlichen Lebens‘ mit derben Strichen darstellt (Diels S.-Ber. Akad. Berl. 1892, 19). Die Lyrik ist in dieser Zeit bereits von der Musik gelöst und bewegt sich in der ersten Periode noch in recht künstlichen und verkünstelten Formen (s. o.), bald aber verschwinden diese und mit ihnen das Melos: nach Kallimachos ist kaum ein Vertreter desselben zu nennen, seine Erbschaft hat das Epigramm längst angetreten. In den erhaltenen Hymnen des Kallimachos (Nachahmungen des terpandrischen Nomos? s. Crusius Philologenvers. z. Zürich 1887, 262) darf man keinen religiösen Gehalt suchen, der Dichter spielt mit allem, die neue Götterwelt der Ptolemaier blickt in durchsichtiger Hülle an allen Enden hervor (über den Vortrag der Hymnen in den Agonen Usener Rh. Mus. XXIX 47). Die Tragödie erlebte eine ephemere Blüte in der sog. Pleias zur Zeit des Philadelphos, sie ist fast unkenntlich, da der Iambos Lykophrons nicht in diese Stilart gehört. Das Satyrspiel erfreut durch einige hübsche Erfindungen, verschwindet aber bald mit der Tragödie, auch die auf grossgriechischem Boden entstandene Hilarotragödie scheint nur von kurzer Blüte gewesen zu sein. Die neuere Komödie, eine Weiterbildung der mittleren, gehört in einen andern Zusammenhang. Eifrig gepflegt wird das didaktische Gedicht, freilich auf Kosten der wahren Poesie, die auch den vielbewunderten Phainomena Arats (s. d.) abgeht. Seine späteren Nachahmer, wie Hegesianax und Hermippos, behandeln nur Mythen, die auf ‚Katasterismen‘ hinauslaufen. Die Lehrgedichte des hervorragendsten Vertreters der ausgehenden hellenistischen Periode, Nikandros von Kolophon (s. d.), sind nach Inhalt und Form gleichermassen ungeniessbar. Die Gelegenheitspoesie war in Hochzeits-, Trauer-, Geleit- und Lobgedichten ungemein zahlreich vertreten, die leichtere Gattung ging unter dem Namen Κατὰ λεπτὸν (Arat, Vorbild für Vergil) oder Παίγνια, letzterer vielleicht von den Uebungsstücken der älteren Sophisten (Maass Herm. XXII 576) durch Dichterphilosophen (Krates und Monimos) übernommen und durch Philetas in die Litteratur eingebürgert (doch vgl. Athen. VII 321f.). Selbst eine scheinbar ganz originelle Dichtungsart, wie die Sillen des Timon von Phleius (s. d.), haben bereits ein Vorbild in Xenophanes gleichnamiger Satire. Die barocke, [1404] stilwidrige Vermischung von Vers und Prosa hat ein Semit, Menippos von Gadara, aufgebracht. Nebenher gehen Tendenzromane in Prosa (Hekataios von Abdera und Euemeros von Messana), deren phantastische Hülle den rationalistischen Kern schlecht verbirgt, sowie märchen- und lügenhafte Reiseberichte. Die frivolen Novellen des Aristeides von Milet (vgl. Rohde Rh. Mus. XLVIII 128) fanden noch in später Zeit eifrige Leser und Nachahmer. Der Versuch Thieles (Aus der Anomia, Berl. 1891, 124–133), die Anfänge des derbrealistischen Romans im Stile Petrons der alexandrinischen Periode zuzuweisen, ist verfehlt (Rohde Rh. Mus. XLVIII 136). Das Gesamturteil über den Wert der alexandrinischen Poesie ist um so schwieriger, als, abgesehen von den ansehnlichen Bruchteilen des Nachlasses einiger bedeutender Dichter, vielfach nur Trümmer und Splitter übrig geblieben sind, die keine sicheren Rückschlüsse erlauben. Die individuelle Schätzung mancher massgebenden Persönlichkeit (z. B. des Philetas) ist unmöglich; dass die künstlerische Technik in der Elegie und dem Epyll gleichförmig erscheint, liegt an dem erhaltenen dürftigen Material, worin die feineren Unterschiede gänzlich verwischt sind. Gewisse Dichtungsarten werden stets mehr oder minder unkenntlich bleiben. Kulturgeschichtlich bedeutsam ist der Einfluss der alexandrinischen Poesie auf die gleichzeitige Kunst (und umgekehrt), sowie vor allen auf die Folgezeit: die römische und spätgriechische Poesie (Nonnos und seine Schule), ferner die Romanschriftsteller sind von ihr durchaus abhängig (s. Dilthey de Callimachi Cydippa, Leipz. 1863, wo dieser Zusammenhang zum ersten Male nachgewiesen ist). Aus diesen Nachahmungen erkennen wir freilich meist nur in allgemeinen Umrissen die ursprünglichen Originale, selten gelingt es, den Gang der Erzählung wiederherzustellen (Dilthey a. a. O.). Beträchtlich ist ferner der Niederschlag hellenistischer Sagenversionen in der mythographischen Litteratur. Endlich liefert die von den alexandrinischen Tafelbildern abhängige campanische Wandmalerei wertvolle Bestätigung und Ergänzung (Helbig Untersuchungen über die campanische Wandmalerei, Leipz. 1873).

IV. Wissenschaftliche Arbeiten der Alexandriner

Die Geschichte der Grammatik ist, wie bemerkt, in der älteren Zeit eng verbunden mit der Geschichte der Poesie. Etwa bis auf Aristophanes von Byzanz geht die grammatische Thätigkeit mit der dichterischen Hand in Hand, dann verkümmert die Poesie in Alexandreia, die Grammatik erreicht die höchste Blüte. Kunstausdrücke wie φιλόλογος sind in dieser Zeitperiode geschaffen. Die glossographischen Studien der ältesten Grammatiker sind noch recht mangelhaft, selbst der kühne Homerkritiker Zenodotos behalf sich noch mit dem blossen Erraten schwieriger Worte. Erst Aristophanes von Byzanz erhob die Glossographie zur wissenschaftlichen Lexikographie, berücksichtigte die verschiedenen Dialekte und gab selbst zu einer Erforschung der damaligen κοινή einen Anstoss. Er gab die Texte der alten Lyriker und Dramatiker, sowie den Platon zum ersten Male kritisch heraus und förderte ihr Verständnis [1405] durch das von ihm endgültig festgestellte Prosodie- und Interpunctionssystem. Aristarchos von Samothrake, minder vielseitig, in historisch-geographischen, mythologischen und chronologischen Dingen sogar von erstaunlicher Unkenntnis, stellte mit gesunder, scharfer Beobachtung den homerischen Sprachgebrauch fest und lieferte in seinen Ausgaben des Dichters den für die Folgezeit gültigen Text. Ebenso brachte er in das grammatische Wissen Ordnung und stellte, von dem Gesetz der Analogie als leitendem Princip ausgehend, die Regeln der Formenlehre fest; die erste Elementargrammatik, auf die die noch heute übliche Terminologie zurückgeht, schrieb der Aristarcheer Dionysios Thrax. Die allegorische Auslegung fand in Krates einen Hauptvertreter, der, zurückgreifend auf eine ältere, auch in Alexandreia früher übliche Bezeichnung, sich κριτικός (statt γραμματικός) nannte und die höhere und aesthetische Kritik, die bei Aristarch und seiner Schule zurückstand, an die Spitze der wissenschaftlichen Philologie stellte. Gegenüber den starren κανόνες in der Declination und der Conjugation, die Aristarch aufgestellt, betonte er das Recht der Individualität der Schriftsteller und verlangte eine sorgsame Beobachtung des Sprachgebrauches des Einzelnen. Das Hervorkehren des stilistisch-rhetorischen Elementes ist für die Kritik nicht ohne Nutzen gewesen (Kaibel Herm. XXIV 42), und die Pflege der sog. Realien hat neben manchem Verkehrtem auch Brauchbares zu Tage gefördert. Auch die Leistungen der pergamenischen (oder kritischen) Schule auf dem Gebiete der Biographie und Kunstschriftstellerei (Antigonos von Karystos, s. d.) sind höchst achtungswert. Die Rivalität zwischen Pergamon und Alexandreia geht seit Eumenes II. in einen förmlichen ‚Bücherkrieg‘ über (Usener bei Susemihl a. a. O. II 667), und zunächst erringt die kritische Schule durch Krates selber den Sieg in Rom.

Die Philosophie fand in Alexandreia selbst keinen Boden (über schwache Spuren des Pythagoreismus s. Hecker comm. de Anth. Gr. 268. Rohde Griech. Rom. 67); im übrigen hat sie in dieser Zeit eine Macht auf die Gemüter der Gebildeten ausgeübt, wie nie wieder, und alle Fragen des praktischen Lebens in den Kreis ihrer Betrachtungen gezogen, dagegen an innerem Gehalt erheblich eingebüsst. Die Geschichtsschreibung steht unter den Einflüssen der Rhetorik und liebt das Rührende, Pikante und Anekdotenhafte. Doch sind neben einer Unzahl von Specialgeschichten z. B. die Werke des Timaios und Phylarchos als ganz achtbare Leistungen zu nennen, die nur durch die nicht unparteiische Kritik des Polybios, des letzten Historikers im grossen Stile, in einem ungünstigen Licht erscheinen. Die sehr zahlreichen Geschichtsschreiber der Thaten Alexanders d. Gr. haben eine ausgesprochene Neigung für das Lügen- und Märchenhafte. Die praktische Beredsamkeit fand an den Höfen der grossen Monarchien keinen Platz, wohl aber auf Rhodos und in den kleinasiatischen Städten, wo der asianische Barockstil ausgebildet wurde. Die Hauptbekämpfer des Asianismus waren die Pergamener, die auf die attische Prosa zurückgriffen und sie wissenschaftlich behandelten. Endlich errang [1406] der Atticismus den Sieg in Rom, nachdem aus dem asianischen Lager selbst eine vermittelnde Richtung in Rhodos entstanden war. Die aus antiquarisch-aesthetischen Studien und der sehr beliebten Paradoxographie erwachsene Periegese findet einen wissenschaftlichen Vertreter ersten Ranges in dem Pergamener (?) Polemon, der manche alexandrinische Grösse in heftigen Streitschriften angriff, die Geographie und Chronologie in dem vielseitigen Eratosthenes, der nach unrichtiger Überlieferung sich zuerst φιλόλογος (Freund geistiger Bildung) genannt haben soll (s. d.). Der älteren Alexandrinerzeit gehört Herakleides ὁ κριτικός, der Verfasser origineller Städtebilder, an, die neben den später geschriebenen Biographieen des Antigonos von Karystos zu den besten Erzeugnissen der hellenistischen Zeit gehören (Fabricius Bonner Studien für Kekulé 58). Die exacten Wissenschaften sind in Alexandreia ganz bedeutend gefördert worden: in der Mathematik glänzen die Namen Eukleides, Archimedes, Heron von Alexandreia, in der Astronomie Aristarchos von Samos, der zuerst das heliocentrische Weltsystem ahnte, Seleukos von Seleukeia, der Kopernikus des Altertums, Hipparchos von Nikaia, der scharfe Kritiker des Eratosthenes. Die Medicin ist durch die beiden grossen Gegner Herophilos von Alexandreia und Erasistratos von Samos würdig vertreten; die Arbeiten in dem anatomischen Institut zu Alexandreia erweiterten beträchtlich die Kenntnisse in der Anatomie und Physiologie. Die Heilmittellehre fand in der empirischen Schule tüchtige Bearbeiter. Die zoologischen Studien waren in dem grossen Sammelwerke des Aristophanes von Byzanz, einer Neubearbeitung des aristotelischen Werkes, niedergelegt, die botanischen riefen eine leider fast ganz verschollene landwirtschaftliche Litteratur hervor. Endlich ist die im ganzen wenig erfreuliche jüdisch-hellenistische Litteratur zu nennen, deren bedeutendstes Werk die griechische Bibelübersetzung ist.

Litteratur: Ein zusammenfassendes Werk fehlt noch. Als Ersatz dienen mehrere Skizzen von Wilamowitz, die im einzelnen der Berichtigung bedürfen: Eurip. Herakl. I 134ff. (Vorbedingungen der Litteratur); Homer. Unters. 382ff.; Antigonos von Karystos 130f. (Gegensätze zwischen Alexandreia und Pergamon) 178ff. (die Philosophenschulen und die Politik). Mahaffy Greek the life and thought from the age of Alexander to Roman empire, London 1887 (nicht ausreichend und voller Voreingenommenheit, C. XI u. XII aus Couat entlehnt). Susemihl Geschichte der griechischen Litteratur in der Alexandrinerzeit, 2 Bde., Lpz. 1891. 1892 (fleissiges Sammelwerk). Poesie: Couat la poésie Alexandrine sous les trois premiers Ptolémées, Paris 1882 (hübsch geschrieben, aber nicht ausreichend und nicht ganz gerecht; Chronologie verfehlt). Einzelnes: Dilthey de Callimachi Cydippa, Lpz. 1863. Naeke opuscula I. II., Bonn 1842/45 (bes. Bd. II Callimachi Hecale). Rohde Der griechische Roman und seine Vorläufer, Lpz. 1876, 11–166. M. Haupt opusc. I 252–62 (bukolische Poesie und Verwandtes). Bergk analecta Alexandrina (Kl. phil. Schr. II 202–235). Meineke analecta Alexandrina, Berl. 1843 (musterhafte Sammlung). [1407] Gercke Alex. Studien, Rh. Mus. XLII 262ff. XLIV 127ff. 240ff. (in der Methode verfehlt). Wilamowitz de Lycophronis Alexandra (Greifswalder Lekt. Verz. 1883). Reitzenstein inedita poetarum Graecorum fragmenta I. II. III (Rostocker Lekt. Verz. 1890/91. 1891/92. 1892/93). Maass Aratea (Philol. Unters. XIII), bes. C. 8. Chronologie: Susemihl analecta Alexandrina chronologica I. II (Greifsw. Lekt. Verz. 1885. 1888). Benützung durch Spätere: Maass analecta Eratosthenica (Phil. Unters. VI, Berlin 1883) 57; Herm. XXIV 520 (alex. Fragmente). Knaack analecta Alexandrino-Romana, Diss. Greifswald 1880; quaestiones Phaethonteae (Phil. Unters. VIII, Berl. 1886) 22ff. Plaehn de Nicandro aliisque poetis Graecis ab Ovidio in metamorphosibus conscribendis adhibitis, Diss. Halle 1882. Vahlen S.-Ber. Berl. Akad. 1888, 1361ff. (über ein alex. Gedicht Catulls). Rohde Roman und Ribbeck Geschichte der römischen Dichtung I. II (Stuttgart 1887. 1889) passim u. a. Metrik: Beneke Beiträge zur Metrik der Alexandriner. Berl. 1883 (Progr. v. Bochum); de arte metrica Callimachi, Diss. Strassburg 1880. Heep quaestiones Callim. metr., Diss. Bonn 1884 und bes. W. Meyer S.-Ber. Bayer. Akad. 1884, 979ff. Kaibel Comment. Momms. 326ff. Wentzel im Genethliacon Gottingense (Halle 1888) 22ff. Zum Sprachgebrauch einiges z. B. bei T. Mommsen Progr. v. Frankfurt a/M. 1879, 11–16. P. Lorentz observat. de pron. person. ap. poet. Alex. usu (Diss. Berlin 1892). Vieles in O. Schneiders Callimachea (I Lpz. 1870. II 1873). Beziehungen zwischen Poesie und bildender Kunst: O. Jahn Archäologische Beiträge, Berl. 1847. W. Helbig Untersuchungen über die campanische Wandmalerei, Lpz. 1873. Brunn S.-Ber. Bayer. Akad. 1879 II 1–22 (Bukoliker und die bildende Kunst, unrichtig). Michaelis Phil. Vers. z. Zürich 1887, 34ff. Schreiber Die Wiener Brunnenreliefs aus Palazzo Grimani, Lpz. 1888; hellenistische Reliefbilder (Lpz. 1889, im Erscheinen). Bibliotheken: Ritschl opusc. I 1–237 und Nachträge 828ff. (vielfach unrichtig). Studemund Philol. XLVI 1ff. Busch de bibliothecariis Alexandrinis qui feruntur primis, Diss. Rostock 1884 (vieles verfehlt, Knaack WfklPh. 1885, 997ff). Haeberlin Centralbl. f. Bibliothekswesen 1889, 481ff. 1890, 1ff. Dziatzko Rh. Mus. XLVI 349ff. Die Arbeiten über das Museion von Parthey, Berlin 1838. Klippel, Göttingen 1838. Göll, Schleiz 1868. Weniger, Berlin 1875 sind veraltet. Philosophie: Zeller Philosophie der Griechen III³ 1, 1ff. Zumpt Abh. Berl. Akad. 1842, 27ff. v. Wilamowitz Antig. v. Karystos 307ff. Pergamenische Kultur: Reifferscheid Bresl. Lekt. Verz. 1881/82. Jüdisch-hellenistische Litteratur: Freudenthal Hellenistische Studien I. II, Breslau 1874. 1875. Für den noch unerforschten Sprachgebrauch derselben stellt Buresch Untersuchungen in Aussicht; ebenso fehlt es an Vorarbeiten über die κοινή.

[Knaack. ]

Nachträge und Berichtigungen

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S. 1399ff. zum Art. Alexandrinische Litteratur:

Der Einfluss des Demetrios von Phaleron auf die Gründung der alexandrinischen Bibliothek (S. 1399, 40) ist mehr als zweifelhaft (s. d. Art. Demetrios Nr. 85 Bd. IV S. 2837). Das Urteil über Leonidas ist wesentlich einzuschränken (vgl. Geffcken Jahrb. f. Philol. Suppl. XXIII). Die Figurengedichte haben mit den orphischen Zauberformeln nichts zu thun, vgl. die Nachträge zum Artikel Bukolik in diesem Suppl. Das subjective Element der Elegie findet nicht allein im erotischen Epigramm seinen Ausdruck; es hat auch eigene erotische Elegien des Kallimachos gegeben, von denen wenigstens eine sichere Spur geblieben ist (s. Art. Kallimachos). Herondas’ an derbe Holzschnitte erinnernde Genrebilder sind gerechter gewürdigt von Crusius in der Einleitung zu seiner Übersetzung (Die Mimiamben des Herondas, Göttingen 1893). Über die Entwicklung des Epigramms und Verwandtes vgl. das sehr anregende, aber mit Vorsicht zu benutzende Buch Reitzensteins Epigramm und Skolion (Giessen 1893). Wie weit die Anspielungen auf die Ptolemaier in den Hymnen des Kallimachos sich erstrecken, ist noch nicht ausgemacht, vgl. Br. Ehrlich De Callim. hymnis quaestiones chronologicae (Breslauer philol. Abh. Bd. VII Heft 3, 1894) und J. Vahlen Über Anspielungen in Callimachus Hymnen I. II, S.-Ber. Akad. Berl. 1895, 869ff. 1896, 797ff., die beide entgegengesetzte, extreme Anschauungen vertreten. Über die Lyrik der Alexandriner sind v. Wilamowitzens Bemerkungen, Nachr. d. Götting. Gesellsch. d. Wiss. 1896, 227ff. zu vergleichen. Die Würdigung der künstlerischen Technik des Epylls ist durch den Fund der Bruchstücke aus der kallimacheischen Hekale (hrg. von Gomperz, Wien 1893 und 1897 in den Papyrus Erzherzog Rainer) wesentlich gefördert worden; die reiche Litteratur verzeichnet Gomperz in der zweiten Auflage. [54] Es ist zu hoffen, dass der in nicht-litterarischen Schriftstücken schier unerschöpfliche Boden Ägyptens uns noch mehr Bruchstücke alexandrinischer Dichtung schenkt; von den bisher gefundenen verdient eine Arie ‚Des Mädchens Klage‘ (hrsg. und erklärt von v. Wilamowitz Nachr. Götting. Gesellsch. d. Wiss. 1896, 209–232) besonders hervorgehoben zu werden. Die Forschung über die Einwirkung der alexandrinischen Poesie auf die römische und die späteren Griechen ist im vollen Fluss: zu nennen neben vielen Aufsätzen anderer in Zeitschriften F. Leo Plautinische Forschungen Cap. III (Berlin 1895); Die plautinischen Cantica und die hellenistische Lyrik (Abh. Götting. Gesellsch. d. Wiss. N. F. Bd. I 7 (Berlin 1897). In Abschn. IV (S. 1404ff.) muss auf die Specialartikel verwiesen werden. Für die Arbeitsweise der alexandrinischen Grammatiker kommt in Betracht v. Wilamowitz Die Textgeschichte der griechischen Lyriker (Abh. Gött. Gesellsch. d. Wiss. N. F. IV 3, Berlin 1900).

Zur Litteratur S. 1406f. ist hinzuzufügen: G. Lumbroso L’Egitto dei Greci e dei Romani², Rom 1895 (mit reichhaltiger Appendice bibliografica). Schreiber Alexandrinische Toreutik I (Abh. d. Sächs. Gesellsch. d. Wiss. XIV 1894). Über die Sprache der κοινή, die jetzt durch die vielen Papyri der Ptolemaierzeit ein ganz anderes Bild gewonnen hat, orientiert jetzt am besten A. Thumb Die griechische Sprache im Zeitalter des Hellenismus (Strassburg 1901).

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Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Band R (1980) S. 19
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