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Autor: W. Belka
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Titel: Die Meuterer der Frigga
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Erscheinungsdatum: 1919
Verlag: Verlag moderner Lektüre G.m.b.H.
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Erscheinungsort: Berlin
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Originalherkunft:
Quelle: Commons
Kurzbeschreibung: Ein utopischer Abenteuerromanzyklus, welcher die Bändchen 105–110 umfaßt.
Band 109 der Romanreihe Erlebnisse einsamer Menschen.
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[I]
Band 109 Erlebnisse einsamer Menschen Preis 20 Pf.
Band 110 Erlebnisse einsamer Menschen Preis 20 Pf.


Die Meuterer der Frigga.
Gleichzeitig riefen sie: „Ein Mensch, ein Mensch!“


[1]
Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26, (1919.)


Die Meuterer der Frigga.
W. Belka.


1. Kapitel.
Lockende Pläne.

Den Herrn Steuermann August Wend kannte in Heilmünde, der kleinen Hafenstadt an der Ostsee, jedes Kind. Wenn er in dem Vorgarten seines kleinen Häuschens draußen in der Vorstadt sich mit seinen Rosenstöcken beschäftigte, rief er den vorübergehenden Buben oder Mädchen stets einen freundlichen Gruß oder ein paar Scherzworte zu. Trotzdem liebte die Heilmünder Jugend den riesigen, breitschultrigen Mann nicht, in dessen gebräuntem Gesicht unter buschigen Augenbrauen ein Paar dunkle Augen mit unstätem, meist finsterem Blick tief in ihren Höhlen lagen und ein breiter Mund mit schmalen, grausamen Lippen ebenso sehr die harmlose Freundlichkeit des früheren Seemanns und jetzigen Rentners Lügen straften.

Die Kinder hatten ein sehr richtiges Gefühl für August Wends wahre Charaktereigenschaften. Er war nicht so, wie er gern scheinen mochte. Die ganze Stadt wußte nur zu gut, daß er seinen Neffen Heinrich, der nach dem Tode seiner Eltern notgedrungen bei ihm ein Unterkommen hatte suchen müssen, allzu streng und ohne jede Liebe erzog. Als daher der verschüchterte Junge, der erst vor kurzem zu einem Kaufmann in die Lehre gegeben worden war, eines Tages im Juni 1899 spurlos verschwand, hätten die Heilmünder dieses Ereignis sicherlich sehr lange nach allen Richtungen hin durchgesprochen und allerlei Mutmaßungen [2] darüber angestellt, wenn nicht zu derselben Zeit ein anderes Vorkommnis die Gemüter der Einwohner weit mehr in Aufregung versetzt haben würde. Eines Nachts waren nämlich auf einer kleinen, in dem ausgedehnten Hafen liegenden Insel die sämtlichen Baulichkeiten des dort ansässigen Chemikers Werner Seiffert, einer etwas geheimnisvollen Persönlichkeit, durch eine Explosion von Sprengstoffen, die, wie man annahm, der Chemiker zu Versuchszwecken hergestellt hatte, in die Luft geflogen. Von den Gebäuden, von dem Garten und der Bootsanlegestelle war nichts als ein wüster Trümmerhaufen übrig geblieben; ja sogar das Erdreich zeigte sich weithin derart aufgeworfen und aufgewühlt, daß der Platz kaum noch ahnen ließ, wo das Wohnhaus und die Stallungen gestanden hatten. Von Werner Seifferts Leiche war auch nicht eine Spur beim Durchsuchen der Trümmerhaufen gefunden worden. All das gab der Phantasie weiten Spielraum, und die Heilmünder erörterten dieses Geschehnis denn auch mit einem Eifer, der noch dadurch weiterhin angeregt wurde, daß dieser oder jener jetzt mit allerhand Beobachtungen herausrückte, die er über das Tun und Treiben des einsamen Mannes gemacht haben wollte.

Einige behaupteten auch, Heinrich Wend, der Neffe des Steuermanns, sei gleichzeitig mit dem Chemiker bei der Katastrophe umgekommen, indem sie darauf hinwiesen, daß der Junge als einziger aus Heilmünde die Ehre genossen habe, mit dem sonst menschenscheuen Chemiker befreundet gewesen zu sein.

Der Steuermann selbst hatte sich zu dieser Frage nur seiner Wirtschafterin gegenüber dahin geäußert, sein Neffe sei wahrscheinlich auf und davon gegangen, weil er bei dem Kaufmann Mulack allerlei kleinere Unredlichkeiten sich habe zuschulden kommen lassen, die nachher freilich ein anderer Lehrling auf seine Kappe genommen hätte, die aber doch wohl zum Teil auf Heinrichs Konto zu setzen wären. Die Wirtschafterin hatte dies dann jedem erzählt, der es hören wollte, und noch stets hinzugefügt, ihr guter Herr, der [3] doch die Rosen so liebe, sei bereits nach Hamburg abgereist, da er vermute, daß sein ungeratener Neffe dorthin sich gewandt habe, um vielleicht weiter nach Amerika „durchzubrennen“, – dieser ungeratene Junge, der stets nur Bescheidenheit und Unterwürfigkeit geheuchelt habe, in Wirklichkeit aber ein „ganz Schlimmer“ gewesen sei.

Niemand hatte Veranlassung, daran zu zweifeln, daß der Steuermann tatsächlich lediglich deshalb schon am zweiten Tage nach dem Verschwinden des Knaben die Stadt verlassen habe, um seinen Neffen zurückzuholen. Gewiß – August Wend war auch nach Hamburg gefahren, jedoch zu einem ganz anderen Zweck. Dieser Zweck hing mit Heinrich Wend und auch mit der Katastrophe auf der Hafeninsel insofern zusammen, als der Steuermann alle Ursache hatte anzunehmen, daß der Chemiker und sein Neffe, nachdem sie sich in sein Tagebuch Einblick verschafft hatten, gemeinsam in aller Heimlichkeit abgereist wären, um Karl Wend, Heinrichs älteren Bruder, und zwei Matrosen des angeblich verschollenen Dampfers Najade zu retten, die von ihm bereits vor vier Jahren auf der im südlichsten Teile des Indischen Ozeans gelegenen Heard-Insel ausgesetzt waren.

Es war also keineswegs die Sorge um seinen Neffen, die den Steuermann nach Hamburg getrieben hatte, sondern vielmehr die Furcht vor einer Aufdeckung eines der schändlichsten Seeverbrechen, die je begangen waren. Und dieses Verbrechen hatte der so harmlos tuende August Wend seiner Zeit lediglich geplant und ausgeführt, damit er die Goldbarren, die mit zur Ladung der Najade gehörten, in seinen Besitz brächte. (Wir verweisen unsere jungen Leser hier auf die vorhergehenden Bändchen dieser Sammlung, in denen der Kampf um das Gold der Najade, zugleich ein Kampf zwischen Gut und Böse, beginnend mit „Das Tagebuch des Steuermanns“ geschildert ist).

August Wend war kaum in Hamburg, das er sehr gut kannte, angelangt, als er auch schon die Suche nach einer kleinen, seetüchtigen Dampf- oder Motorjacht [4] begann, die er für einige Monate mieten wollte. Er fand auch das Gewünschte, hatte sogar das Glück, zu billigem Preise von einem reichen Kaufherrn, der ihm von früher her verpflichtet war, ein sehr schnelles Motorfahrzeug zu erhalten, dessen aus fünf Mann bestehende bisherige Besatzung er dann entließ, da er nur Leute auf dieser Fahrt mitnehmen konnte, die genau wie er keine Scheu hatten, für Gold jedes Gesetz jeder Zeit zu übertreten.

Die vier Mann, die er in einer Hafenspelunke anwarb – den Kapitän wollte er selbst spielen, waren mit einer einzigen Ausnahme Gesindel schlimmster Sorte wie es selbst ein elender Segler nicht an Bord genommen hätte.

Es war genau eine Woche nach der Katastrophe auf der Hafeninsel, als die Motorjacht Frigga die Elbmündung verließ und Kurs auf den Kanal hielt, den sie dann bei gutem Wetter passierte. Auch fernerhin meinte der Wettergott es nur zu gut mit dem flinken, schlanken Fahrzeug, das eigentlich jetzt nichts besseres als ein Piratenschiff war, da die Absichten, die es verfolgte, nur als Seeraub zu bezeichnen waren.

Der Steuermann und jetzige Kapitän der Frigga hatte den drei Matrosen und dem kaum sechzehnjährigen Kajütjungen gegenüber, die er in Hamburg angeheuert (für eine Fahrt verpflichtet) hatte, über Reisedauer und -ziel zunächst ganz allgemeine Angaben gemacht: Vergnügungsreise nach dem Indischen Ozean. Erst als die Straße von Bab el Mandeb, der Zugang vom Roten Meere zum Indischen Ozean, hinter der stets mit voller Kraft ihrer Motoren dahinschießenden Frigga lag, glaubte er den Augenblick für gekommen, wo er seinen durch allerlei Anspielungen bereits vorbereiten Gesinnungsgenossen die Wahrheit offenbaren konnte. – Daß der Kajütjunge Ernst Pötter nur durch eine Reihe von unglückseligen Umständen ein einziges Mal vom rechten Wege abgewichen, im Grunde seines Herzens aber ein braver, gutmütiger Mensch war, der seine Verfehlung bitter bereute, ahnte August Wend nicht, zumal der auf seine Art recht schlaue [5] Junge stets so getan hatte, als ob ihn das rohe Benehmen und die Habgier und Verachtung aller Moral verratenden Reden der drei Matrosen durchaus nicht abstießen. Ernst Pötter hatte eben sehr bald gemerkt, daß der Steuermann mit der Frigga etwas Besonderes vorhabe. Zu dieser Annahme hatte ihn hauptsächlich der Umstand gebracht, daß die Jacht nicht nur mit Handfeuerwaffen, sondern sogar mit einer Revolverkanone ausgerüstet war. Diese sollte allerdings nur zur Jagd auf Walfische verwendet werden, wie Wend betont hatte. Doch der Kajütjunge hatte sich dabei sein Teil gedacht. Nicht umsonst hatte ihn seine erste Fahrt auf einem in Bergen in Norwegen beheimateten Walfischfänger nach den Gewässern nördlich von Island geführt. Er wußte, daß man Wale nur mit einem Harpunengeschütz jagen kann. – Kurz: Ernst Pötter war in den Augen des Steuermanns um nichts besser als die drei rüden Matrosen. Deshalb weihte August Wend ihn auch gleichfalls in seine Pläne ein, die er den vier Leuten eines Morgens durch folgende Ansprache kundtat:

„Jungens, nachdem ich Euch nun genügend als brauchbare Kerle kennen gelernt habe, will ich Euch einen Vorschlag machen, der Euch, wenn Ihr ihn annehmt, für den Rest Eures Lebens aller Sorgen überhebt. Ich will Euch zu Gold verhelfen, Gold in schönen, dicken Barren! Ihr müßt aber auch mit mir durch dick und dünn gehen! – Wollt Ihr das? – Genug, genug, – Ihr braucht nicht so zu brüllen vor Freude, daß die beiden Haifische da hinten in unserem Kielwasser gleich scheu werden! – Hört mich also an. – Vor vier Jahren war ich Steuermann auf dem Dampfer[1] Najade, der neben wertvollen Fellen auch Goldbarren für mehrere Millionen Mark geladen hatte. Mein Neffe Karl Wend befand sich als Schiffsjunge gleichfalls auf der Najade und gehörte dann, als das Gelbfieber in den australischen Gewässern die Besatzung schnell hinwegraffte, zu den drei Leuten, die außer mir noch der Seuche entgingen. Stürme trieben den Dampfer, den wir vier Überlebenden nur [6] schlecht regieren konnten, bis in die Nähe der Kerguelen, bekanntlich eine Gruppe von zahlreichen Inseln im südlichsten indischen Ozean. Da kam ich auf den Gedanken, wir vier Letzten der Besatzung könnten uns doch ganz bequem das Gold der Najade aneignen. Dies geschah dann auch in der Weise, daß wir den Dampfer in einer riesigen Grotte vor Anker legten, wo niemand ihn finden kann, da die Grotte inmitten der Kerguelen auf einem felsigen Eiland liegt und diese unwirtliche Gruppe nur höchstselten von Schiffen besucht wird. Mein Neffe und die beiden Matrosen Jakob Jakobsen und Georg Schulk jedoch wollten dann, wie ich zum Glück noch rechtzeitig bemerkte, mich heimlich beseitigen, um nur zu dreien sich in die Beute teilen zu müssen. Ich vergalt unter diesen Umständen gleiches mit gleichem, überwältigte die drei im Schlaf und schaffte sie nach der den Kerguelen benachbarten Heard-Insel, die bereits den Südpolargebieten so nahe liegt, daß sie ständig von Eis und Schnee bedeckt ist. Hier setzte ich die Verräter aus, gab ihnen aber noch allerlei mit, damit sie dort notdürftig ihr Leben fristen könnten. Ich selbst kehrte später nach Europa zurück, nahm aber nur sechs Goldbarren vorläufig mit und wollte erst einige Jahre verstreichen lassen, ehe ich den Rest der Schätze der Najade abholte. Vor kurzem nun hat aber mein zweiter Neffe Heinrich Wend das Tagebuch, in dem ich all dieses aufgezeichnet hatte, mir entwendet und es seinem um viele Jahre älteren Freunde, einem Chemiker Werner Seiffert, zu lesen gegeben, der dann sofort mit Heinrich sich aufgemacht hat, um die Angaben des Tagebuches nachzuprüfen und nach Karl Wend zu suchen. Ich vermute, daß die beiden es ähnlich wie ich angefangen, das heißt, eine Jacht gemietet haben und jetzt unterwegs nach den Kerguelen sind. Ob sie vor uns einen Vorsprung haben und dort früher anlangen werden als wir, bezweifle ich. Unsere Frigga läuft zwanzig Knoten, und ein kleines Fahrzeug von dieser Schnelligkeit ist selten. Nun – auf jeden Fall werden wir, wenn mein Neffe und jener Seifert wirklich uns [7] voraus sein sollten, mit ihnen noch auf den Kerguelen oder der Heard-Insel zusammentreffen. Und an uns wird es dann liegen zu verhindern, daß das Gold der Najade in ihre Hände fällt. – Wollt Ihr mir also helfen, die Goldbarren in unseren Besitz zu bringen und die Mitwisser all dieser Geheimnisse für alle Zeit stumm zu machen? Ich denke nicht etwa daran, sie zu töten. Nein, nur so einrichten müssen wir es, daß sie niemals mehr in bewohnte Gegenden zurückkehren können. – Hier meine Hand! Schlagt ein! Laßt uns treu zusammenhalten, dann – sind wir gemachte Leute!“




2. Kapitel.
Schurken[2] gegen einen Schurken.

So wurde unter dem reinen, blauen Himmel des Indischen Ozeans ein finsteres Bündnis zum Verderben derer[3] geschlossen, die drei Unglückliche aus den Eis- und Schneemassen der Heard-Insel befreien wollten.

Inwieweit der Steuermann bei der Schilderung der Schicksale des Dampfers Najade und seinem Besatzung Wahres und Falsches klug gemischt hatte, wird denen unserer lieben jungen Leser sofort aufgefallen sein, die das Bändchen mit dem Titel „Das Gold der Najade“ gelesen haben. Die anderen werden aus dem weiteren Verlauf dieser Erzählung ersehen, welch furchtbares Verbrechen der Steuermann auf seine Seele geladen hatte, um die Besatzung des Goldschiffes bis auf wenige Mann zu beseitigen.

Sechs Tage nach diesem Morgen, an dem die vier Leute der Frigga dem Steuermann gelobt hatten, in allem mit ihm gemeinsame Sache zu machen, lief die Motorjacht nach sorgfältiger Erkundung, ob inzwischen nicht bereits ein Fahrzeug mit Seiffert und Heinrich Wend an Bord die Grotte besucht hätte, in diese ein. Man fand auf der hier vor Anker gelegten Najade alles unverändert, ebenso auch die Goldbarren in dem Versteck vor, wo der Steuermann sie damals verborgen hatte.

[8] Während die drei Matrosen der Frigga beim Anblick des Goldes wie berauscht waren und in allerlei lockenden Zukunftsplänen schwelgten, beteiligte sich der Kajütjunge Ernst Pötter nur gerade so viel an diesen Freudenausbrüchen und Äußerungen einer wilden Habgier, daß diese Zurückhaltung August Wend nicht auffiel. Die wahren Gedanken des aufgeweckten, kräftigen Burschen sahen ganz anders aus. Ernst argwöhnte, daß der Steuermann, wenn man nur erst den Chemiker und den Knaben, nötigenfalls auch die Besatzung ihres Fahrzeuges für immer bei Seite geschafft hätte, sich auch seiner jetzigen Vertrauten entledigen würde. Er nahm sich daher vor, die Augen jederzeit gut offen zu halten, wollte auch die jetzigen Schurkenpläne Wends nach Möglichkeit durchkreuzen.

Nur einen Tag blieb die Frigga in der Riesengrotte. Dann stach sie wieder in See, um die Heard-Insel aufzusuchen. Vermutete der Steuermann doch, daß der Chemiker höchstwahrscheinlich zuerst dorthin sich wenden würde, wo es galt, drei vielleicht noch am Leben befindliche Unglückliche zu befreien.

Die Heard-Insel mit ihren im Sonnenlicht gleißenden Gletschern und weißen Schneefeldern tauchte gegen Mittag des vierten Tages auf. Die Motorjacht lief in eine eisfreie Bucht ein, wurde gut vertäut und der Aufsicht Ernst Pötters während der nächsten zwei Tage überlassen, da der Steuermann und die drei Matrosen die Insel kreuz und quer durchstreiften, um festzustellen, ob die damals hier Ausgesetzten noch lebten oder ob etwa in einer anderen Bucht ein zweites Fahrzeug, das des Chemikers, ankere.

Der Kajütjunge hatte mithin reichlich Zeit sich alles, was er bisher an Bord der Frigga erfahren hatte und was noch weiter geschehen sollte, genau zu überlegen. Immer wieder entwarf er neue Pläne, wie er den Steuermann und die drei Matrosen daran hindern könne, sich des Goldes der Najade zu bemächtigen. Dann kam ihm ein Gedanke, der so einfach war, daß er sich selbst wunderte, nicht sofort an diesen Ausweg gedacht zu haben. Er beschloß mit der Motojacht, [9] deren Maschine zu bedienen er sich sehr wohl zutraute, die Bucht zu verlassen und so lange an der Küste der Heard-Insel zu kreuzen, bis der Chemiker mit seinem Fahrzeug erschien. Er würde diesem darauf alles Nötige mitteilen, und der Steuermann und seine Helfershelfer würden dann sicherlich dingfest gemacht werden.

Dieser Plan war gut. Doch – zur Ausführung kam er nicht. Als am zweiten Tage abends die vier Mann – August Wend und die Matrosen – müde und enttäuscht an Bord der Frigga zurückkehrten, berichtete zunächst einer der Matrosen, der den Tag über auf eigene Faust umhergestreift war, von einem tiefen Eisloch in einem der Gletscher, das ihm der trichterförmigen Gestalt wegen aufgefallen und in das er dann mit Hilfe eines oben am Rande befestigten Taues hinabgestiegen sei. So habe er sich davon überzeugt, daß der Eistrichter unten in einen Felsengang münde, der wieder in eine große Höhle führe. Diese zu betreten habe er jedoch nicht gewagt.

Nachher sah Ernst Pötter dann, daß die drei Matrosen auf dem Deck der Motorjacht heimlich viel miteinander flüsterten. Kurz bevor man die Kojen zur Nachtruhe aufsuchen wollte, geschah etwas für den Kajütjungen völlig Unerwartetes: Die drei Matrosen überfielen den Steuermann ganz plötzlich, banden ihn und warfen sich darauf auch auf den ahnungslosen Ernst Pötter, den sie gleichfalls fesselten.

Hohnlachend erklärte der Anführer der drei, eben jener, der den Gletschertrichter entdeckt hatte, dem vor ohnmächtiger Wut mit den Zähnen knirschenden Steuermann, daß er noch etwas anderes heute gefunden habe: ein kleines Unterseeboot in einer entlegenen Bucht, wo es gut verborgen verankert war; und in diesem Boote, das nach den dort in der Kajüte verwahrten Papieren Eigentum des Chemikers Seiffert sei, habe er eine große Menge Diamanten entdeckt, deren Wert kaum zu schätzen wäre und die er mit seinen beiden Kameraden zu teilen sich entschlossen habe.

„Sie aber, Steuermann Wend, und den Jungen [10] da werden wir in jene Höhle einsperren, die ich vorhin erwähnte.“ fuhr er kaltherzig fort. „Dort könnt Ihr beide bleiben, bis – bis Euch vielleicht jemand wieder herausholt!“

Der Steuermann verlegte sich jetzt aufs Bitten. Doch die drei Unmenschen blieben hart, schafften am nächsten Morgen die Gefesselten nach dem Gletscher und dann auch in die Höhle hinab, wo sie nachher noch eine große Menge Proviant, der in dem Unterseeboot vorhanden war, aufspeicherten, damit Wend und der Junge „noch ein paar gute Tage verleben könnten“, wie sie grinsend erklärten. Auch eine Laterne und ein Fäßchen Petroleum ließen sie den beiden da, kletterten dann wieder an die Oberwelt und – welch teuflischer Gedanke! – brachten mit Hilfe von Pulver den gut fünf Meter tiefen Trichter und auch den vorderen Teil des Felsenganges durch eine Sprengung zum Einsturz, so daß den in der Höhle Zurückgelassenen dieser Ausweg abgeschnitten war.

Wend und Ernst Pötter hörten den furchtbaren Knall der Explosion, der sich in der Riesengrotte noch unheimlich verstärkte, ohne sich erklären zu können, was er bedeutete. Erst als sie sich gegenseitig nach unendlicher Mühe von ihren Banden befreit hatten und nun mit der Laterne den Felsengang ableuchteten, gewahrten sie die Verwüstungen, die die Sprengung angerichtet hatte, und überzeugten sich auch bald, daß dieser Ausgang ihnen für alle Zeit verschlossen bleiben würde. Während der Steuermann verzweifelt vor sich hinbrütend auf einer der Proviantkisten hockte, durchstöberte Ernst Pötter mit der Laterne die tieferen Teile der Höhle und – fand so eine Holztafel mit einer Inschrift, deren Inhalt ihn veranlaßte, in hastigem Laufe zu Wend zurückzukehren.

Als der Steuermann diese Tafel nun auch selbst näher besichtigte, die ihm seine vor vier Jahren begangene Untat mit allen Einzelheiten wieder ins Gedächtnis zurückrief, da war es ihm, als ob in allen Winkeln plötzlich Stimmen lebendig wurden, die ihm drohend: „Mörder – Mörder!“ zuriefen. Und in [11] diesem Augenblick regte sich bei dem kaltblütigen, jeder weicheren Regung unfähigen Verbrecher das Gewissen. Mehr noch: In diesem Moment überkam ihn auch die dumpfe Ahnung, das Schicksal würde es nicht zulassen[4], daß er die Früchte seiner ungeheuren Frevel einst auch voll genießen könnte.

Lange stand er wortlos vor der einfachen Holztafel, die von dem rötlichen Licht der Petroleumlaterne beschienen wurde, und starrte auf die geschriebenen Zeilen hin, auf diese eindringliche Mahnung, daß die Vorsehung die Menschen gar wunderbar zu leiten vermag. Die, denen er selbst den Tod in den Eis- und Schneemassen der Heard-Insel bestimmt hatte, waren diesem Tode entgangen, hatten hier in Gesellschaft eines vierten Mannes namens Peter Strupp einen Zufluchtsort gefunden, wo er, August Wend, selbst nun unter ähnlichen Umständen von der Oberwelt abgesperrt war, und hatten nachher dann auf gut Glück die ungewisse Wanderung durch einen Felstunnel angetreten, der im Hintergrunde der Höhle begann.

Ernst Pötter beobachtete den Steuermann aufmerksam, glaubte zu wissen, was in dessen Herzen vorging und hielt daher die Gelegenheit für günstig, ihm einmal ins Gewissen zu reden.

„Steuermann,“ begann er mit einer Feierlichkeit, die seinen Worten noch mehr Nachdruck gab. „Sie scheinen mir jetzt jene Ereignisse sich wieder ins Gedächtnis zurückzurufen, deren spätere Folge diese merkwürdige Tafel hier geworden ist. Ob alles das, was Sie uns, den Matrosen und mir, von den Vorgängen auf der Najade und den späteren Geschehnissen erzählt haben, der Wahrheit entspricht, vermag ich nicht zu beurteilen. Aber – ehrlich gestanden: Ich fürchte, vieles davon wird sich doch wohl anders verhalten haben! Vielleicht haben Sie damals an Ihrem Neffen Karl Wend ein schweres Unrecht begangen. Sollte dem so sein, dann hätten Sie jetzt die beste Gelegenheit, dieses Unrecht wieder teilweise gutzumachen, indem Sie versuchen, jene drei Unglücklichen, mögen sie sich befinden, wo sie wollen, in bewohnte Gegenden [12] zurückzuführen. – Sehen Sie, Steuermann, ich bin ja nur erst ein halb erwachsener Mensch, der leider, leider einmal sich vergessen und die Hand nach fremdem Gut ausgestreckt hat, aber trotz meiner Jugend hat mich gerade diese eine Verfehlung innerlich über meine Jahre hinaus reif gemacht. Als ich Sie in jener Hafenspelunke in Hamburg kennen lernte, wo Sie für die Frigga sich eine Besatzung zu heuern suchten, nahm ich Ihr Anerbieten nur deshalb an, weil ich fürchtete, die Polizei sei hinter mir her. Ich wollte eben schnell fort aus Hamburg. Schon damals quälte mich die Reue, den Diebstahl auf dem Hafenkai begangen zu haben. Und wenn ich dann nachher an Bord der Frigga stets mich als ebenso anrüchigen Burschen, wie es unsere drei Matrosen waren, aufgespielt habe, so tat ich’s nur notgedrungen. – Steuermann, wie wär’s, wenn wir beide, die hier aufeinander angewiesen sind, unsere Seelen dadurch von einem Teil der Schuld, die wir auf uns geladen, zu reinigen trachteten, daß wir ohne Rücksicht auf unsere eigene Sicherheit und unsere Zukunft denselben Weg gingen, den schon Heinrich Wend und seine Gefährten vor uns gewagt haben. Finden wir die drei, dann werden sie Ihnen gewiß gern in Rücksicht auf diesen von uns unternommenen Versuch, sie befreien zu helfen, vergeben.“

August Wend, der noch ganz unter dem Einfluß der trüben Ahnungen stand, richtete sich jetzt auf, schaute den jüngeren Gefährten halb verlegen an und erwiderte gepreßt:

„Gut denn. Es sei! Folgen wir ihnen! Ich will Dir beweisen, daß ich doch besser bin, als es scheint.“

Da streckte Ernst Pötter ihm herzlich die Hand hin.

„Auf gute, ehrliche Kameradschaft, Steuermann!“

Und August Wend schlug kräftig ein.

„Auf gute Kameradschaft!“ sagte er fest.

Inwieweit diese innere Wandlung bei dem Steuermann von Bestand war, wird die Fortsetzung unserer Erzählung zeigen.




[13]
3. Kapitel.
Ernst Pötters Flucht.

Der Steuermann bewies jetzt wieder, nachdem er erst einmal den Entschluß zum Eindringen in den Tunnel gefaßt hatte, jene zielbewußte Energie, die leider auch bei seinen verbrecherischen Taten deutlich hervorgetreten war.

Die Vorbereitungen zu dem Marsche durch den Felsengang, der unschwer aufzufinden gewesen war, nahmen kaum zwei Tage in Anspruch. Handelte es sich doch nur darum, ein Mittel zu finden, den vorhandenen Proviant bequem mitfortschaffen zu können. Dies erreichte der Steuermann dadurch, daß er aus den Brettern der mit Konserven gefüllten Kisten eine Art Schleife baute, deren Gleitschienen er mit den Eisenbändern der Kisten benagelte, um sie haltbarer zu machen.

August Wend hatte vor dem Aufbruch die Lebensmittel genau abgeschätzt und ausgerechnet, daß sie bei größter Sparsamkeit etwa für vier Wochen genügen würden. Als dann jedoch drei Wochen verstrichen, und das Ende des Felsenganges noch immer nicht erreicht war, wurde er ängstlich und kürzte die Tagesration ganz bedeutend, um die Vorräte auf diese Weise zu strecken.

Alle Einzelheiten über diesen endlosen Marsch der beiden einsamen Wanderer wollen wir hier übergehen. Erwähnt sei nur, daß sie dann bald auf ein Grabkreuz stießen, nach dessen Aufschrift hier der eine Gefährte des Schiffsjungen der Najade, der Matrose Georg Schulk ruhte, der infolge der Anstrengungen an Entkräftung gestorben war. Später fanden sie dann noch ein zweites Grab, das des Matrosen Jakob Jakobsen. Als der Steuermann mit einer gewissen Spannung die Aufschrift dieses Kreuzes entziffert hatte, sagte er zu Ernst Pötter, und es gelang ihm dabei nicht ganz, seine Enttäuschung darüber zu verhehlen, daß es nur der Matrose, und nicht sein Neffe war, der hier den ewigen Schlaf schlief:

[14] „Wieder einer von den vier Leuten, die vor uns gegangen sind! Karl, mein Neffe, scheint für seine Jahre doch recht widerstandsfähig zu sein! Nun ist nur noch er und Peter Strupp übrig. Ob diese beiden wohl mit dem Leben davongekommen und wieder ans Tageslicht gelangt sind?! Es scheint doch, daß es mit ihrem Proviant recht schlecht bestellt war.“ –

Nachdem dann auch die vierte Marschwoche dahingegangen war, ohne daß irgend welche Anzeichen für das baldige Ende dieses eintönigen Weges sich bemerkbar machen wollten, wurde der Steuermann sehr schweigsam. Die Lebensmittel waren bis auf einen geringen Rest verzehrt, der, selbst wenn die beiden Gefährten nur das Notwendigste an Nahrung verbrauchten, kaum noch für eine weitere Woche ausreichte.

Ernst Pötter traute jetzt dem Steuermann nicht mehr recht, nachdem dieser durch seine Bemerkung am Grabe des Matrosen Jakobsen bewiesen hatte, wie es in Wahrheit in seiner Seele aussah. Das hartnäckige, grüblerische Schweigen dieses Mannes, dem doch ein Menschenleben offenbar sehr wenig bedeutete, machte den Kajütjungen mißtrauisch. Er fürchtete – und dieser Verdacht lag ja so nahe – daß der Steuermann vielleicht mit dem Plane umging, ihn zu beseitigen, um als einzelner Mensch länger mit dem Reste des Proviants auszukommen. Und dieser Argwohn, erst einmal aufgetaucht, setzte sich in dem Hirn Ernst Pötters bald so fest, daß er während der nächsten nächtlichen Rast kaum zu schlafen wagte. So merkte er denn, wie auch August Wend sich unruhig auf seiner Decke hin und herwarf und im Traum allerhand abgerissene Worte murmelte, auf die der Kajütjunge sehr genau achtgab. Plötzlich hörte er dann folgenden, leicht zu vervollständigenden, halblauten Ausruf:

„– will leben bleiben – Gold der Najade – genießen – Muß den Jungen – Unnötiger Fresser – Rettung – für mich –“

Kein Wunder, daß Ernst Pötter vor Entsetzen das Blut in den Adern gerann. Was konnte dies [15] denn anderes heißen, als daß Wend ihn tatsächlich ermorden wollte?!

Regungslos lag er da und überlegte. Er wußte jetzt, daß er keinen Augenblick mehr seines Lebens sicher war. Er mußte handeln, wenn er dem Verhängnis entgehen wollte, denn – was konnte er gegen diesen riesenstarken Mann ausrichten?! Eine Verteidigung war da unmöglich!

Ja – er mußte handeln! Und – hier gab’s nur ein Mittel, sich zu retten: Jetzt sofort allein den Weg fortsetzen, sich von dem Steuermann in aller Heimlichkeit trennen.

Ernst Pötter richtete sich auf seinem Lager auf und starrte in das Licht der kleinen Laterne, die neben Wend auf einem Felsblock brannte. Es war dies eine Leuchte, die der Steuermann sehr geschickt aus Konservenbüchsen hergestellt hatte, da die andere Laterne zu viel Petroleum verbrauchte.

Wend schlief fest, schnarchte jetzt sogar sehr laut. Da erhob sich der Kajütjunge sich vollends, schlich zu der Schleife hin, nachdem er die kleine Laterne in die Linke genommen hatte, und packte eilig die Hälfte der noch vorhandenen Lebensmittel in seine Decke, die er sich dann als Rucksack auf dem Rücken befestigte.

Endlich – endlich war diese Arbeit, bei der er jedes Geräusch vermeiden mußte, getan. Nun konnte er davoneilen, fort aus der Nähe dieses Menschen, der ihm zweifellos nach dem Leben trachtete. Die ersten hundert Meter bewegte er sich ganz behutsam vorwärts. Dann brauchte er nicht mehr zu fürchten, daß ein Geräusch bis zu dem Schlafenden dringen würde, und setzte den Weg in wilder Hast fort.

Der Tunnel hatte gerade hier einen ziemlich glatten Boden und gestattete streckenweise einen kurzen Trab. Gewiß – vorsehen mußte Ernst Pötter sich sehr, da in dem Felsengang zuweilen tiefe Spalten sich auftaten, die man häufig nur durch einen waghalsigen Sprung überwinden konnte.

Der Kajütjunge machte dann nicht eher Rast, bis seine Kräfte völlig verbraucht waren. In einer engen [16] Seitenschlucht des Tunnels breitete er seine Decke aus und schlief auch sehr bald ein. Vor Erschöpfung hatte er nicht einmal mehr etwas genossen. Die kleine Laterne war von ihm vorsichtshalber ausgelöscht worden. Als er dann erwachte, wußte er auch nicht im entferntesten, wie lange er geschlafen hatte. Seine Taschenuhr, billige Dutzendware aus Nickel, war ihm von dem Steuermann abgenommen worden, da die drei Matrosen der Frigga diesem die goldene Uhr ebenso wie alle anderen Wertsachen geraubt hatten. Nachdem er die Laterne angezündet hatte, aß er hastig ein paar Schiffszwiebacke und brach dann wieder auf.

Wir wollen diesen fluchtartigen Marsch des einsamen Jungen hier nicht näher schildern, sondern nur das Wesentliche unsern lieben Lesern berichten. – Wäre Ernst Pötter nicht so gut an körperliche Anstrengungen gewöhnt gewesen, so hätte er die Mühsale und Entbehrungen kaum überstanden, die er zu erdulden hatte, bis er nach anderthalb endlos langen Wochen, zum Skelett abgemagert, den Ausgang des Tunnels erreichte und zwar gerade am Tage, als die Sonne hoch am Himmel stand. Doch nicht lediglich seinem kräftigen Körper verdankte er seine Rettung. Vielleicht hätte er in Verzweiflung und Mutlosigkeit sich irgendwo niedersinken lassen, wenn nicht eine neue Tafel durch ihre Aufschrift ihm belebende Energie eingeflößt haben würde. Diese Tafel, gleichfalls von Karl Wend und Peter Strupp, dem Sträfling, errichtet, enthielt nämlich für Leute, die vielleicht einmal den Tunnel durchwandern würden, die Mitteilung, daß dieser nach vier Tagemärschen etwa in ein tiefen Tal münde, weiter dann noch Anweisungen, wie man die beiden Leute, die die Tafel hier aufgestellt hatten, in dem unbekannten, von ihnen Gigantea getauften Lande in ihrer Niederlassung auffinden könne, die sie dort, wo bisher außer ihnen noch kein Mensch vorgedrungen, gegründet hätten.

Ernst Pötter hatte sich, als er auf diese Tafel gestoßen war, sehr richtig gesagt, daß der Steuermann ihn nicht überholt haben könne, da dieser dann wohl [17] zweifellos die Tafel beseitigt haben würde, um ihm sowohl den Mut zur Fortsetzung des Weges zu nehmen als auch überhaupt zu verhindern, daß diese wichtigen Mitteilungen zu seiner, des Kajütjungen, Kenntnis gelangten. –

Ernst Pötter bemerkte also plötzlich vor sich einen hellen Tageslichtschimmer, glaubte erst noch, daß seine müden Augen ihm dieses tröstliche Bild vorgaukelten, stürmte aber trotzdem im Laufschritt vorwärts und – stand nun auf dem von hohem Grase bedeckten Boden eines tiefen, von Bergen eingeschlossenen Tales mitten im warmen Sonnenschein.




4. Kapitel.
Die Schicksale des Erfinders und seiner Gefährten.

Er stand da, völlig geblendet von dieser Fülle von Licht, mußte die Augen schließen, die ja nur noch an das Dunkel des Tunnels und den schwachen Schein der Laterne gewöhnt waren. Unwillkürlich faltete er die Hände, dankte der gütigen Vorsehung in heißem Gebet für seine Rettung.

Nachdem sich dann seine erste freudige Erregung gelegt hatte, verschlang er förmlich die beiden letzten Schiffszwiebacke, während er leichten Fußes dem Ausgang des länglichen Tales zuschritt, das zahlreiche Gruppen fremdartiger Bäume und Sträucher aufzuweisen hatte.

Eine warme milde Luft umfächelte die Stirn des wackeren Jungen, der in dieser harten Prüfung der letzten Wochen sein Herz vollende geläutert hatte und sich nun bewußt war, daß er nie wieder irgend einer Verführung erliegen und stets nur nach dem schönen Worte handeln würde: Tue recht und scheue niemand.

Dann bemerkte er an einer riesigen Pflanze gelbe, längliche Früchte, die ganz das Aussehen von Bananen hatten. Er brach eine der weichen Schoten, die fast ein Meter lang waren, ab und kostete das weiße [18] Fleisch der Frucht. Ja – es waren Bananen! Und – wie köstlich mundeten sie ihm.

Als er sich gesättigt hatte, überkam ihn plötzlich eine solche Müdigkeit, daß er sich kaum mehr auf den Füßen halten konnte. Er sah sich daher nach einem Schlupfwinkel um, wo er erst einmal sich gründlich ausschlafen wollte. In einem regellosen Haufen übereinander getürmter Felsblöcke an der rechten Talwand fand er nach einigem Suchen ein mit dickem Moos ausgepolstertes tiefes Loch, in das er hineinkroch und das er dann durch ein paar Steine von innen verschloß. Hier schlief er, – wahrscheinlich volle 24 Stunden, wie er daraus schloß, daß bei seinem Erwachen die Sonne abermals hoch am Himmel stand.

Da er stets mit der Möglichkeit rechnen mußte, dem Steuermann zu begegnen, verließ er sein Versteck mit aller Vorsicht, schlich dem Talausgang stets gedeckt durch Büsche, zu und hielt hier nun Ausschau nach dem Flusse, den die letzte Tafel als bequemsten Weg zu der Niederlassung der beiden Bewohner dieses unerforschten Landes angegeben hatte.

Wir wollen hier Ernst Pötter vorläufig allein lassen und uns ein wenig mit dem Chemiker Werner Seiffert und dessen jungen Freund Henrich Wend beschäftigen.

Zunächst soll erwähnt werden, daß das Unterseeboot, des Chemikers ureigenste Erfindung, mit dem sie den Weg nach der Heard-Insel sehr schnell zurückgelegt hatten, im roten Meere von einem einsamen, sandigen Eiland einen dorthin geflüchteten deutschen Ingenieur namens Richard Kräwel mitgenommen hatte, der dort freiwillig mehrere Jahre zubrachte, um eine überreiche Diamantenfundstelle in aller Heimlichkeit ausbeuten zu können. Daß diese drei Landsleute dann genau wie der Steuermann und Ernst Pötter in den Tunnel sich hineingewagt hatten, wissen wir bereits. Auch ihnen erging es dabei ähnlich wie August Wend und dem Kajütjungen: Nur mit knapper Not vermochten sie sich über den Mangel an Lebensmitteln hinwegzuhelfen.

[19] Als sie dann wieder an die Oberwelt gelangt waren und das Landschaftsbild, das sich ihren erstaunten Blicken darbot, so gar nicht der Vorstellung entsprach, die sie sich von den Gebieten gemacht hatten, wo der endlose, unter dem Südpolarmeer zumeist entlanglaufende Felsengang ihrer Berechnung nach enden mußte, rief Werner Seiffert begeistert aus:

„Gefährten, das, was uns zu erreichen beschieden und was vor uns nur Karl Wend und Peter Strupp geschaut haben, ist – der Südpol! Hierüber kann kein Zweifel bestehen! Bedenkt, daß der Tunnel dauernd in südlicher Richtung verlief, daß wir im Innern der Erde eine Strecke von einer Länge zurückgelegt haben, die uns unter den Eis- und Schneemassen der Südpolarregion hinweggeführt hat! Diese aber umgibt, wie wir jetzt mit eigenen Augen sehen, nur den eigentlichen Pol, also dieses unerforschte, bisher ganz unbekannte fruchtbare Land, wie ein eisiger Ring, zieht sich also nicht, wie man bis jetzt annahm, bis zum Südpol hin, sondern geht, wahrscheinlich ganz allmählich, in eine Region von fast tropischem Klima über. Das ist eine Entdeckung, wie ich sie nie für möglich gehalten hätte, da alle wissenschaftlichen Autoritäten die Ansicht vertreten, auch der Südpol müsse ebenso wie der Nordpol unter ewigen Eise begraben sein! – Gefährten, was allen Forschungsreisenden, die in die antarktische Region vorzudringen suchten, nicht geglückt ist, das haben wir erobert: den Südpol, – wenn auch nicht als die ersten, so doch immer als die – im eigentlichen Sinne des Wortes – Nachfolger unserer beiden Landsleute, die dieses Gebiet Gigantea getauft haben.“

Während der Chemiker mit Recht diese begeisterten Sätze aussprach, hatte der Ingenieur Kräwel plötzlich sein Fernglas dem Futteral entnommen und dann angestrengt das Tal entlang geschaut, Jetzt fiel er Seiffert erregt ins Wort, indem er den Arm vorwärtsstreckte:

„Dort – dort, gerade über jenen mächtigen Bäumen, – ein Riesenvogel, ein wahres Untier!“

[20] Wirklich – Kräwel hatte nicht zu viel gesagt, als er den pfeilschnell sich nähernden Vogel mit Untier bezeichnete. Die Größe dieses geflügelten Ungeheuers überstieg bei weitem die des Kondors, der doch unter den jetzt noch vorkommenden Arten die weiteste Flügelspannung besitzt.

Auch Seiffert hatte eiligst sein Fernglas zur Hand genommen, beobachtete nun das riesige Geschöpf mit atemloser Spannung und rief dann: „Wahrhaftig – es kann nur einer jener Raubvögel sein, dem die Wissenschaft den Namen Phororhakus gegeben und von dem man verschiedene Überreste in den nebligen Landstrichen Patagoniens gefunden hat. Ich schätze auf eine Flügelspannung von gut zehn Metern! – Ob das Untier uns etwa bemerkt hat und auf uns niederstoßen will?!“ Er setzte das Fernglas ab, da der Phororhakus sich bereits so weit genähert hatte, daß man das durch seine Flügelschläge hervorgerufene Rauschen wie ein stetig zunehmendes Brausen hören konnte.

Kräwel hatte bereits seine Büchse von der Schulter genommen, schrie jetzt fast heiser vor Aufregung und Jagdeifer: „Fort mit uns – zurück in den Tunnel! Ich glaube ebenfalls, daß das Ungeheuer es auf uns abgesehen hat. Vielleicht komme ich zum Schuß.“

Mit ein paar Sätzen erreichten die drei den schützenden Eingang des Felstunnels. Nur Kräwel blieb so weit draußen stehen, daß er den Flug des Phororhakus verfolgen konnte. Dann riß er plötzlich die Doppelbüchse an die Wange, gerade als das Untier mit seinem enormen Leibe die Sonne verdeckte und einen breiten Schatten auf die Erde warf. Zwei Schüsse knallten kurz hintereinander. – Und sofort nach dem zweiten tat auch der Ingenieur vorsichtshalber einen Sprung nach rückwärts.

Draußen im Tale hörte das Brausen der flügelgepeitschten[5] Luft plötzlich auf. Dieser Stille folgte nach wenigen Sekunden ein dumpfer Krach und ein ohrzerreißendes Geschrei.

Kräwel lugte um einen Felsvorsprung. Und – [21] dort gerade auf einem von mannshohem Grase bewachsenen Teile des schluchtähnlichen Tales lag der Riesenvogel im Todeskampf, suchte vergeblich wieder auf die Beine zu kommen, wühlte mit den furchtbaren Krallen und dem mächtigen Schnabel den Boden auf, schleuderte mit den Schwingen kleine Felsstücke weit fort und begleitete diese letzten Anstrengungen mit einem so lauten Krächzen, daß Heinrich Wend vor Schreck erblaßte und sich ängstlich zusammenduckte.

Kräwel winkte die Gefährten herbei. Aus sicherer Entfernung wurden sie so Zeugen einer Szene, wie selbst die ausschweifendste Phantasie sie nicht grauenvoller sich ausmalen kann. Dieser Todeskampf des Vertreters einer Vogelart, deren Aussehen bisher die Gelehrten sich nur mit Hilfe der in Patagonien gefundenen Überreste zurecht geklügelt hatten, war ein Schauspiel von ungeheurer Wildheit und nervenaufpeitschendem Reiz.

„Beide Schüsse haben gesessen,“ meinte der Ingenieur, indem er zwei neue Patronen in die Läufe schob. „Ich werde zusehen, ob ich dem Untier nicht eine Kugel durch den Kopf jagen kann –“

Gleich darauf lag der Phororhakus für ein paar Sekunden ermattet still. Kräwel feuerte. Beide Kugeln trafen wieder, wie man nachher feststellte. Aber – sie waren in der starken Schädelwand des Riesenvogels stecken geblieben, bewirkten nur, daß dieser zweimal deutlich zusammenzuckte und dann den fürchterlichen Todeskampf wieder begann, den der Ingenieur erst durch vier weitere Brustschüsse beendete.

Der Phororhakus war tot. Die drei Gefährten wagten sich ganz nahe heran, staunten Kräwels Beute eine Weile in geradezu andächtigem Schweigen an, bis der Chemiker kopfschüttelnd erklärte:

„Welch furchtbares Tier! Wenn man bedenkt, daß in früheren Entwicklungsperioden unserer Erde wahrscheinlich der größere Teil der damals lebenden Tiere solch gewaltige Körpermaße besaß, so erscheint uns unsere heutige Tierwelt wie ein Zwergengeschlecht.“

[22] Kräwel untersuchte jetzt den Kopf des Phororhakus, fand auch die blutigen Einschüsse, prüfte ihre Tiefe mit der Messerklinge und meinte: „Ich hätte mir’s denken können, daß die Kugeln in der Knochenmasse dieses Ungeheuers stecken bleiben würden!“ Dann nahm er ein Beil zur Hand und schlug dem Riesenvogel eine der Krallen der meterlangen Zehen ab. „Ein Erinnerungszeichen an die erste Beute im unbekannten Lande!“ sagte er und hob die Kralle auf, die die Größe einer starken Sichel hatte. „Als Uhranhänger etwas zu schwer und zu lang,“ scherzte er gutgelaunt. „Auch die Schwungfedern wären als Gänsekiele ein wenig unhandlich! – Unglaublich, was für Geschöpfe Mutter Natur früher mal hervorgebracht hat!“




5. Kapitel.
Peter Strupps Reittier.

Nun – wenn die Gefährten all das, was sie an merkwürdigen Bäumen, Pflanzen und Tieren auf ihrem Wege zu der Niederlassung Peter Strupps und Karl Wends noch wahrnahmen, ebenso lange und wortreich angestaunt hätten wie diesen Phororhakus, dann wären sie wohl nie an ihr Ziel gelangt. Zunächst gedachten sie jetzt den Fluß zu erreichen, den sie auf einem Floß hinabfahren sollten, wie dies als bequemster Weg zu der Niederlassung der beiden Gesuchten auf der Tafel in dem Tunnel angegeben gewesen war. Nachdem das Gebirge, zu dem das zuerst betretene Tal gehörte, hinter ihnen lag, erblickten sie auch in einer von Bauminseln bewachsenen Ebene das leuchtende Silberband eines breiten Stromes, dessen Ufer, umgeben von Sumpfstrecken, eine mannigfache Flora (Pflanzenwelt) von Gewächsen von ganz unwahrscheinlicher Größe aufwies. Besonders stark vertreten war hier jene merkwürdige Pflanzenart, die, in bescheideneren Exemplaren auch jetzt noch in allen Weltteilen anzutreffen, man geradezu „fleischfressende Pflanzen“ getauft hat, da ihre Blütenkelche oder Blätter [23] infolge der eigenartigen Bauart Insekten festzuhalten und im vollsten Sinne des Wortes zu verdauen imstande sind. Hier nun in diesem Lande, das, wie der Chemiker sich ausdrückte, in seiner Entwicklung vor ungeheuren Zeiträumen zum Stillstand gekommen und daher „ein wahrer botanischer und zoologischer Garten der Urzeiten der Erde“ geworden war, gab es unter anderem auch die als Insektenfresser berüchtigte Krugpflanze und die sogenannte Venusfliegenfalle in Spielarten von einer geradezu fabelhaften Größe. Besonders die Krugpflanzen, die an den Blattstielranken krugförmige Erweiterungen besitzen, deren ringförmiger Rand von einem beweglichen Deckel selbsttätig verschlossen wird, sobald ein Tier in diese Falle hineingeraten ist, hatten hier in dem Sumpfgebiet des Flusses eine Höhe von zehn Meter und mehr, während ihre Fangvorrichtungen, die Blattkrüge, bei etwa zwei Meter Durchmesser eine Tiefe von vier Meter zeigten, also schon recht ansehnliche Insekten festzuhalten und in dem am Grunde der Fallen befindlichen scharfen Säften aufzulösen und so zu verdauen[6] fähig waren. Und solche Insekten, zum Beispiel Käfer von den abenteuerlichsten Formen bis zu zwei Meter Länge, gab es genug! Manche davon hatten Beißzangen an den kräftigen Kiefern, die selbst einem Menschen sehr gefährlich werden konnten. Ebenso sei auch gleich erwähnt, daß unsere drei Abenteurer auf ihrem Marsche nach dem Strome verschiedentlich Fußspuren von vierfüßigen Tieren antrafen, die der vielerfahrene Chemiker als von Dinosauriern herrührend erklärte, jenen Reptilien der Vorzeit, deren gewaltigste Vertreter der 25 Meter lange Brontosaurus und der noch um 5 Meter größere Atlantosaurus waren. Daß diese Spuren der fünfzehigen Füße dieser unheimlichen Geschöpfe mehr festgestampften Flächen als den Eindrücken der Füße lebender Wesen glichen und daß Heinrich Wend zuerst gar nicht glauben wollte, derartige Tiere gebe es tatsächlich, erscheint nur zu natürlich gegenüber den Abmessungen und der Tiefe dieser Tierfährten.

[24] Kurz: Der Marsch nach dem Flusse gab den drei Freunden bereits eine Vorstellung von all dem Wunderbaren, was ihrer später[7] noch wartete. – Der Bau eines Floßes aus den jungen Schößlingen einer Bambusart nahm immerhin drei Tage in Anspruch. Dann begann die in vieler Beziehung ebenso abwechslungsreiche wie aufregende Fahrt stromabwärts. Am Morgen hatten die Gefährten ihr fünf Meter langes und vier Meter breites Fahrzeug, das mit einer Steuervorrichtung und zwei langen Rudern versehen war, flott gemacht. Mittags kam man in eine weite, seeartige Wasseransammlung, die durch eine natürliche, durch Felsgeröll gebildete Talsperre hervorgerufen war. Hier war es, wo die Freunde eine Begegnung mit einem der Riesenbewohner des Stromes hatten, die leicht hätte verhängnisvoll werden können.

Heinrich bemerkte nämlich, während das Floß auf dem großen See sacht dahinglitt, in kaum zehn Meter Entfernung ein Tier mit einem unförmig großen Kopfe schwimmen, das ihm jedoch nicht länger als höchstens vier Meter zu sein schien. Er machte den Chemiker und Kräwel auf diesen merkwürdigen Fisch aufmerksam, ergriff aber gleichzeitig eins der bereitstehenden Gewehre, legte an und feuerte, bevor der Ingenieur dies noch verhindern konnte. Auf den Schuß hin geschah etwas, das selbst den starknervigsten Mann außer Fassung gebracht hätte. Lautlos, deshalb aber umso schreckenerregender, erhob sich aus den Wassern der unförmige Kopf des von der Kugel nur leicht gestreiften Ungetüms, fuhr kerzengerade in die Höhe und zog einen glatten, glänzenden Schlangenleib bis zu acht bis neun Meter Länge über den Spiegel des Sees nach sich, bog sich dann in kurzer Krümmung zusammen und wandte das furchtbare, jetzt weit aufgerissene und mit langen Zähnen bewehrte Maul unheildrohend dem flachen, keinerlei Schutz gewährenden Fahrzeug zu.

Heinrich stieß einen gellenden Schrei des Entsetzens aus; die Büchse entfiel seiner Hand; und seine stieren Blicke erwarteten nichts anderes als einen sofortigen [25] Angriff dieser Wasserschlange, die offenbar nur erst ein drittel ihres Leibes aus den Fluten hochgereckt hatte.

Selbst der Chemiker und Kräwel waren einen Moment wie erstarrt. Der Ingenieur gewann zuerst seine kaltblütige Ruhe wieder. Ein anderes Gewehr hochreißen, zielen und abdrücken war eins. Dem kurzen Knall des Schusses folgte fast unmittelbar ein überlautes klatschendes Geräusch. Das Floß wurde von einer aufschäumenden Welle überflutet, schwankte, als wolle es umkippen, und kam erst nach einer geraumen Weile wieder zur Ruhe. Die drei Insassen hatten sich nur mit Mühe festklammern können, waren pudelnaß geworden und schüttelten jetzt das Wasser aus den Kleidern. Die Ursache der heftigen Erschütterung der Seeoberfläche war das Ungetüm von Wasserschlange gewesen, das mit dem Kopfe nach dem Bambusfloß gezielt, dies jedoch verfehlt hatte und kurz davor in die Tiefe gefahren war, wobei es mit seinem breiten Schädel jenes klatschende Geräusch hervorrief. Zum Glück tauchte es, durch die zweite Kugel doch wohl schwerer verletzt, nicht mehr auf. Die Gefährten beeilten sich denn auch nach Möglichkeit, diese gefährliche Stelle zu verlassen, mußten dann ihr Floß über die Stromschnellen, die infolge der Talsperre entstanden waren, halb hinwegtragen und fanden erst gegen Abend wieder von Felsblöcken freies Wasser, nachdem sie stundenlang unter den größten Anstrengungen durch ein Gewirr von Strudeln, kleinen Wasserfällen und angeschwemmten, riesigen Baumstämmen sich hindurchgekämpft hatten. Hier wurde der Fluß auch ganz unvermittelt fast doppelt so breit wie bisher und maß von Ufer zu Ufer gut seine 300 Meter.

Abermals erlebten die Gefährten nun das seltsame Schauspiel wie schon an den Tagen vorher seit ihrer Ankunft im Lande Gigantea: Die Sonne hatten sich zwar um die achte Stunde dem westlichen Horizont zugeneigt, ging jedoch nicht unter, sondern bewegte sich wieder in aufsteigender Kurve am Himmelsgewölbe [26] empor. – Mit einem Wort: Hier am Südpol verschwand das Tagesgestirn von September bis April überhaupt nicht; während dieser Monate herrschte also beständiger Tag, wie ja auch entsprechend am Nordpol von März bis September die Sonne nicht untergeht.

Das Nachtlager wurde also für die drei Freunde eine Ruhezeit bei strahlendem Sonnenschein. Man hatte das Floß am Ufer einer kleinen Insel mitten im Flusse befestigt und in einem Gehölz von Kokospalmen die Vorbereitungen zur Nachtruhe getroffen. Nichts störte den bleiernen Schlaf der Reisenden. Am Morgen wurden dann einige Kokosnüsse, die hier nur die gewöhnliche Größe hatten, geöffnet. Ihre süßliche Milch und das feste Mark sättigten die Freunde vollauf. Die Weiterfahrt brachte am Vormittag die Durchquerung eines Waldes von Riesenbuchen, unter deren Blätterdach der Fluß, hier wieder nur einige fünfzig Meter breit wie in einem grünen, schattigen Dome dahinfloß.

Dann traf man auf sumpfige Uferstrecken, wo das Wasser größtenteils verkrautet war. Ungeheure Schwärme seltsamer Vogelarten belebten diese Sümpfe, darunter besonders ein etwa drei Meter langer Vogel mit einem storchähnlichen Schnabel. Kräwel erlegte einen davon und machte Heinrich darauf aufmerksam, daß auch dieses Tier mit scharfen Zähnen ausgestattet war. In der Tat haben ja die Urahnen unserer heutigen Vogelwelt zahnbewehrte Schnäbel gehabt, wie man aus Überresten dieser ersten Vertreter der gefiederten Erdbewohner hat feststellen können.

Nach Überwindung der für die Fahrt sehr hinderlichen Sümpfe gelangte man in eine weite, fruchtbare Ebene, wo niedrige, bewaldete Hügelketten die Eintönigkeit des Landschaftsbildes angenehm unterbrachen und seeartige Erweiterungen des Stromes recht häufig waren.

Als das Floß gerade wieder einen dieser Seen durchfuhr, tauchte aus der Richtung eines Waldes [27] wahrhaft abenteuerlich hoher Nadelbäume ein geflügeltes Tier von etwa sechs Meter Länge auf, das der mit der Entwicklungsgeschichte der heutigen Tierformen gut vertraute Chemiker als eine Flugeidechse jener Art bezeichnete, die in den Märchen und Legenden später dann als Drachen wiederauflebten. Hier hatte man nun eines dieser Geschöpfe, die die Übergangsform vom Reptil zum Vogel darstellen, lebend und in voller Betätigung seiner Flugfertigkeit vor sich.

Die Eidechsengestalt war deutlich zu erkennen. Zwischen den Beinen und dem Körper spannten sich wie Segel die Flughäute aus. Der lange Schwanz wieder bildete sozusagen den Propeller dieser lebenden Flugmaschine, wie die stete Auf- und Abbewegung bewies. Am merkwürdigsten aber war, daß der Flugdrache, wie die Wissenschaft dieses Zwischenglied von Reptil und Vogel benannt hat, auf seinem Rücken dicht hinter dem Kopf einen hohen Höcker besaß, der in den Umrissen beinahe einem menschlichen Oberkörper ähnelte.

Die geflügelte Eidechse näherte sich sehr schnell, indem sie in recht steilem Gleitflug sich auf den Wasserspiegel des Stromes herabzusenken schien. Bisher hatte die Sonne die Freunde bei der Beobachtung dieses neuen Bewohners des unbekannten Landes stark geblendet. Jetzt aber hatte das Tier eine günstigere Richtung eingeschlagen, und in demselben Augenblick entrang sich auch schon den Lippen der drei Gefährten derselbe erstaunte Ausruf: „– Ein Mensch – ein Mensch!“

Und – wirklich! – Der Höcker auf dem Rücken des Flugdrachens war nichts anderes als ein bärtiger, mit einem hellen Anzug bekleideter Mann! Und dieser Reiter winkte nun den Floßfahrern mit der einen Hand eifrig zu, während er mit der anderen einen langen Bambusstock schwang, den er in recht kräftigen Schlägen auf den Kopf der fliegenden Eidechse niederfallen ließ, woraufhin diese ganz steil auf den See hinabschoß und kaum zwanzig Meter von dem Fahrzeug unserer Freunde entfernt niederging, um [28] dann mit trägen Schwimmbewegungen sich über Wasser zu halten.

Gleich darauf war das Floß dicht neben dem seltsamen Reittier des Mannes, der schon von weitem in deutscher Sprache den Gefährten ein: „Willkommen im Land Gigantea!“ offenbar hocherfreut zugerufen hatte.

Es war kein anderer als Peter Strupp, der wackere Kamerad Karl Wends, des Schiffsjungen der Najade!

Der Chemiker hatte dies sofort vermutet und den kühnen Reiter, als dieser auf das Floß hinübersprang, auch sofort mit den Worten: „Sie sind Peter Strupp – nicht wahr?“ empfangen.

Kein Wunder, daß Heinrich dann voll ängstlicher Spannung, nachdem kaum die ersten Fragen und Antworten ausgetauscht waren, über das Ergehen des Bruders Auskunft erbat. Diese lautete durchaus beruhigend.

„Karl ist wohl und munter,“ meinte lachend Peter Strupp, der sein geflügeltes Roß jetzt durch einen durch die vorderen Flughäute gezogenen starken Riemen am Wiederaufsteigen hinderte. „Ich habe ihn vor einer Stunde verlassen, um meinen Hans hier etwas – „zuzureiten“, wenn man so sagen darf. Ja, Landsleute, hier in Gigantea werden Sie noch weit merkwürdigere Dinge zu sehen bekommen als diesen halb gezähmten Flugdrachen, der leider noch nicht ganz zuverlässig ist. Ich habe ihn erst seit einem Monat in der Dressur, fürchte aber, daß er seine Tücken nie ganz ablegen wird, während wir doch, Karl und ich, schon weit bessere Reittiere dieser Art gehabt haben und noch haben.“ Er lachte abermals vergnügt auf, als er das ungläubige Kopfschütteln des Chemikers sah. „Sie werden sich sehr bald daran gewöhnen,“ fuhr er lebhaft fort, „in diesem Lande sich über nichts mehr zu wundern. Man lebt hier wie in einem Zauberreiche. Karl und ich waren ja gleichfalls in den ersten Monaten oft genug in Zweifel, ob wir wachten oder all das nur träumten, was sich unseren Blicken [29] darbot. – Doch – wozu liegen wie hier still?! Unsere Niederlassung können wir bis zum Abend bequem erreichen, wenn ich meinen Hans Ihr Floß ziehen lasse. Geben Sie acht, wie tadellos er das besorgt, wenn ich auf seinem Rücken sitze und meinen Stock sprechen lasse. Ohne Hiebe geht es nämlich nicht ab. Ein paar Schläge auf die rechte Maulseite, und er wendet sich nach links, um dem Knüppel zu entgehen, ein paar auf die linke, und er schwenkt nach rechts ab. So lenke ich ihn auch in der Luft. Soll er sich niederlassen oder tiefer fliegen, genügen Hiebe mitten auf den Schädel.“

Der Flugdrache entwickelte dann als „Schleppdampfer“ eine ganz beträchtliche Geschwindigkeit. Während das Floß nun rasch dahinschoß, fand Peter Strupp Zeit, die Landsleute nach allem genau auszufragen, was er gern wissen wollte.

„Wie gut,“ meinte er einmal, „daß Karl und ich jene Tafel im Tunnel aufgestellt haben! Ich habe ja stets in diesen zwei Jahren, die wir bereits im Lande Gigantea leben, mit der Möglichkeit gerechnet, hier neue Bewohner begrüßen zu können. – Wie wird Karl sich nun freuen, wenn er den Bruder in die Arme schließen kann! Er hat ja so und so oft betont, daß er mit zärtlicher Liebe an dem kleinen Heinrich hängt, der noch ein Kind war, als er seiner Zeit zur See ging.“

Peter Strupp hatte nicht zu viel gesagt: Karl Wend, jetzt ein stattlicher junger Mann von neunzehn Jahren, wurden die Augen feucht, als er am Abend dieses Tages den jüngeren Bruder in der Ansiedlung, die auf einer langgestreckten Insel im Flusse lag, willkommen heißen durfte.

Dann führten er und Peter Strupp die Gäste voll Stolz in der Niederlassung umher, die mit ihren sauberen, bequemen Bambushäusern, von denen das größte als Stallung für vier Flugdrachen diente, der beste[8] Beweis für den Fleiß und die vielseitige Begabung der beiden Bewohner war.

Erst recht spät setzte man sich dann auf der schattigen, [30] nach dem Flusse hinausgehenden Veranda zum Nachtmahl nieder, das eine besondere Würze durch Peter Strupps Schilderung von dem allmählichen Entstehen der Ansiedlung erhielt. Bei dieser Gelegenheit richtete dann der Chemiker an Peter Strupp die Frage, weshalb dieser und Karl denn bis jetzt nicht versucht hätten, durch den Tunnel nach der Heard-Insel und von da nach bewohnten Gegenden zurückzukehren.

„Sehr einfach, entgegnete[9] Strupp darauf. „Was sollten wir wohl auf der unwirtlichen Gletscherinsel?! Wußten wir, ob sich uns dort die Möglichkeit bieten würde, die Insel auch wirklich verlassen zu können?! Dazu hätte doch ein Schiff gehört, ein seetüchtiges Fahrzeug! Wo sollten wir dies hernehmen?! – Gewiß, wir haben wohl den Gedanken erwogen, hier ein großes Boot zu bauen, es dann wieder auseinanderzunehmen und die Teile durch den Tunnel zu transportieren. Schließlich gaben wir aber auch diesen Plan auf, dessen Ausführung infolge der Länge des Tunnels Jahre erfordert hätte.“

Der Chemiker, der dieser Einwendung beipflichten mußte, fragte dann weiter:

„Und – wie steht’s mit einem Marsche quer durch den Eisgürtel, der dieses Land am Südpol von der Außenwelt absperrt, – könnten Sie nicht vielleicht Mittel und Wege finden, diese Kälteregion zu durchwandern?“

Abermals verneinte Peter Strupp. „Sie werden Gigantea ja noch genugsam kennen lernen, Herr Seiffert. Ich schätze die Größe dieses unerforschten Gebietes auf einen Flächenraum, der dem des Deutschen Reiches etwa gleichkommen dürfte. Hier befinden wir uns so ziemlich im Mittelpunkt des Landes, dessen Klima weiter nach der kreisrunden Grenze hin allmählich rauher und rauher wird, bis dann jenseits einer gewaltigen Gebirgskette, deren Höhen bereits unter ewigem Eis und Schnee begraben sind, das eigentliche Südpolargebiet mit allen Merkmalen dieser Zone beginnt. Diese Gebirgskette nun ist nicht zu übersteigen, zumal nicht für Leute, die gezwungen sind, [31] Lebensmittel für Monate und auch andere Dinge mitzunehmen. – Nein, Herr Seiffert, – mit den uns bisher zur Verfügung stehenden Mitteln durften wir nicht daran denken, je wieder in zivilisierte Gegenden zurückzukehren.“

Der Chemiker nickte Peter Strupp jetzt nachdenklich zu. „Gewiß – bisher mag es für Sie und Karl von hier kein Entrinnen gegeben haben. Jetzt aber liegt doch in einer Bucht der Heard-Insel gut versteckt mein kleines Unterseeboot. Mit dessen Hilfe werden wir heimkehren nach Deutschland, wenn wir Neuankömmlinge dieses Wunderland Gigantea genügend uns ansehen haben.“

So sprach Werner Seiffert am ersten Abend nach dem Eintreffen auf der Ansiedlung. Aber sehr bald mußte er einsehen, daß es doch sehr zweifelhaft sei, ob man den Delphin dort noch vorfinden würde, wo man ihn verankert hatte, denn bereits fünf Tage nach ihnen stellte sich in der Niederlassung ein neuer Gast ein: Ernst Pötter, den wir bekanntlich verließen, wie er gerade den Marsch nach demselben Flusse begann, den der Chemiker, Kräwel und Heinrich hinabgefahren waren. Und er überbrachte den fünf Landsleuten sowohl die Kunde von dem vermutlich recht baldigen Auftauchen des Steuermanns August Wend hier in Gigantea, als auch die ebenso unangenehme Neuigkeit, daß die drei Matrosen der Frigga das Unterseeboot in seinem Versteck entdeckt hätten und daß sie daher den Delphin sehr wahrscheinlich entweder ver[senken, od]er[10] doch anders wohin bringen würden.

Somit war Seifferts Hoffnung, die er auf sein kleines U-Boot gesetzt hatte, durch diese Mitteilungen des Kajütjungen so ziemlich zerstört worden.

Trotzdem gelang es dem Ingenieur Kräwel ein Mittel zu ersinnen, all die Schwierigkeiten zu bewältigen, die Peter Strupp als unüberwindbare Hindernisse einer Rückkehr in die bewohnte Welt damals am ersten Abend aufgezählt hatte. Unsere Freunde sahen die Heimat wohlbehalten wieder, nachdem sie noch [32] Zeugen des entsetzlichen Todes des Steuermanns geworden waren.

So viel für heute von den letzten Erlebnissen unserer Helden. Den Schluß dieser Reihe von Erzählungen, die die Goldschätze der Najade zum Mittelpunkt haben und die mit Band Nr. 105, „Das Tagebuch des Steuermanns“, begannen, bringt das folgende Heft.




     Der nächste Band enthält:



Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin 26.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Damper
  2. Vorlage: Wort ergänzt
  3. Vorlage: deren
  4. Vorlage: zu lassen
  5. Vorlage: flügelgepeitschen
  6. Vorlage: verrdauen
  7. Vorlage: schäter
  8. Vorlage: den besten
  9. Vorlage: entgenete
  10. Vorlage: unleserlich, Text ergänzt