Zweihundert deutsche Männer in Bildnissen und Lebensbeschreibungen/Johann Joseph Gall

Textdaten
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Autor: Ludwig Bechstein
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Titel: Johann Joseph Gall
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aus: Zweihundert deutsche Männer in Bildnissen und Lebensbeschreibungen, S. 125–126
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Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1854
Verlag: Georg Wigand's Verlag
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Google und Commons
Kurzbeschreibung:
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Johann Joseph Gall.
Geb. d. 9. März 1758, gest. d. 22. Aug. 1828.


Ein philosophischer Arzt und Denker, welcher durch die Erfindung der Schädellehre oder Kranioscopie vorzüglich berühmt wurde; doch theilte er das Loos vieler seiner hochbegabten deutschen Landsleute, er mußte außerhalb Deutschland Ruf und Anerkennung suchen, denn wenn auch seine Nation ihm letztere zu zollen sich herbeiließ, so war doch der Enthusiasmus für seine Lehre in Deutschland nur von kurzer Dauer.

Gall wurde in dem Marktflecken Tiefenbrunn im badischen Oberamte Pforzheim geboren und befand sich als Knabe im Schooße glücklichen Familienlebens, wo schon in ihm selbst eine lebhafte Neigung sich entwickelte, andere zu beobachten, und namentlich ihre verschiedenen Begabungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten wahrzunehmen, und daß diese sich da, wo sie einmal wahrgenommen worden waren, in ihrer Besonderheit gleich blieben, so daß z. B. der mit dem Zahlentalent begabte dieses nicht verlor, der für die Sprachen begeisterte kein Rechner wurde u. dgl. Schon damals gewahrte Gall, daß namentlich die mit dem Talent leicht auswendig zu lernen begabten Knaben große, hervorstehende Augen hatten, achtete darauf und schloß daraus, daß wohl manche Begabung durch äußere Kennzeichen am Kopfe der Menschen sich kundgeben möge.

Gall studirte in Wien Arzneikunde und diese bot ihm nun in Fülle Gelegenheit, das, was er als werdender Jüngling geahnet, wissenschaftlich zu ergründen, und es wurde ihm zur Gewißheit, daß die verschiedenen Theile des Gehirns die verschiedenen Organe der menschlichen Fähigkeiten seien.

Nach vollendeten Studien ließ sich Gall in Wien 1785 als ausübender Arzt nieder und trat mit mehreren Schriften auf, welche in ihm einen scharfsinnigen Denker erkennen ließen und die Aufmerksamkeit des Publikums aus ihn lenkten. Zuerst erschienen seine »philosophisch-medicinischen Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustande des Menschen«, 2 Theile, und diesen folgten die »anatomisch-physiologischen Untersuchungen über das Gehirn und die Nerven.«

Mit beharrlichem Fleiße untersuchte Gall fort und fort die Schädelbildungen bei Menschen sowohl wie bei Thieren, stieß auf überraschende Resultate, besuchte [Ξ] Gefängnisse, Irrenhäuser, Schulen und verglich die Schädel mit den Wahrnehmungen zu Tage kommender Ideen, Neigungen, Leidenschaften und Talente.

Nachdem nun der unermüdliche Forscher die Grundkräfte des Geistes und einige 20 Organe der Gehirnschaale gefunden, durch welche nach seiner Ansicht diese ersteren äußerlich wahrnehmbar sein sollten, begann er 1796 Privatvorlesungen über seine Entdeckungen, die sich zahlreichen Besuches erfreuten, denn es war etwas neues, anziehendes, lehrreiches. Menschen aus allen gebildeten Ständen besuchten Gall’s Vorlesungen und seine Vorträge waren der Gegenstand der Gespräche und Unterhaltungen. Sie dauerten durch 8 Jahre, aber mit einemmale wurden sie auf höchsten Befehl untersagt und geschlossen; es schien ein schädlicher Stoff in der Lehre von den Köpfen enthalten, es wurde dabei zu viel denken entwickelt, und es hat Zeiten und Staaten gegeben, in denen das viele denken durchaus für polizeiwidrig erachtet wurde.

Gall gab seine glänzende Praxis in Wien auf; es drängte ihn, der Apostel seiner neuen Lehre in andern Ländern zu werden, wohin sie ihm bereits voraus gedrungen war. Ein gleichgesinnter Freund, Dr. Spurzheim, schloß sich Gall an, und 1808 wurde Wien von beiden verlassen. Sie durchreisten innerhalb dreier Jahre Deutschland und hielten in öffentlichen Hörsälen wie in Privatkreisen Vorlesungen, welche überall sehr besucht waren und der Schädellehre viele Anhänger und Gläubige gewannen, nur war gleich die Bezeichnung Schädellehre, welche Gall selbst nicht gut hieß, von vorn herein die unrichtigste Benennung für die Sache, denn es war die Lehre vom Gehirn bezüglich der in demselben und durch dasselbe sich entwickelnden Denkkraft und dem ganzen geistigen Sein des Menschen, welche nur durch äußere Organe an der beinernen Decke des Gehirns, dem Schädel, sich äußern und durch diese deren stärkeres oder schwächeres Entwickeltsein wahrnehmbar machen und erkennen lassen sollte. Dankbare Zuhörer Berlins ließen zu Ehren Gall’s 1805 eine silberne Medaille prägen, auf der ein Schädel mit Bezeichnung der Gall’schen Organe dargestellt ist.

Das wissenschaftliche Publikum knüpfte an die Lehre Gall’s sehr große und kühne Hoffnungen, deren Erfüllung nicht minder wissenschaftliche Gegner, an denen ebenfalls kein Mangel war, stark in Zweifel zogen, und es scheinen diese Gegner recht behalten zu haben, denn wie geistvoll immer Gall’s Lehre erscheint, einen praktischen Nutzen hat sie nicht gebracht, so viel sie auch Bewunderer fand, und namentlich in Frankreich, in Paris, wo Gall von 1808 an als ausübender Arzt weilte, ebenso in London, wohin Spurzheim schon 1814 reiste, dann mit Gall 1823, während in Deutschland die Sache fast verschollen und vergessen war. Gall gab mittlerweile ein großes Hauptwerk über seine Lehre in französischer Sprache heraus, nachdem er vorher mit Spurzheim gemeinschaftlich mehrere andere gründliche Schriften hatte erscheinen lassen. Dabei waren seine äußeren Verhältnisse sehr angenehm; er besaß nahebei Paris einen schönen Landsitz, die Villa Montrouge, und daselbst starb er im 70. Lebensjahre. Man hat behauptet, Gall’s eigener Schädel sei völlig anders gebaut und gebildet gewesen, als die Anhänger seiner Lehre nach Gall’s eigenen Fähigkeiten, Thätigkeiten und Geistesrichtungen hätten vermuthen lassen.

Auch in Schottland fand die Lehre Gall’s und Spurzheim’s Anklang, man gab ihr dort einen geeigneten Namen, nannte sie Geisteslehre: Phrenologie. Die Engländer glauben ungleich mehr an die Untrüglichkeit dieser Lehre, als die Deutschen; sie benutzen sie sogar als Richtschnur bei der Erziehung der Kinder. Seit einem Jahrzehent tauchte auch in Deutschland die Phrenologie wieder auf; ein Engländer, G. Combe, brachte sie über den Canal wieder herüber; in neuester Zeit ist Dr. Gustav Scheve ihr eifrigster und ein sehr begabter Jünger. Dennoch wird die Phrenologie nie ein Eigenthum der Menge werden; sie erheischt philosophische, physiologische und psychologische Vorbildung und Kenntniß; und so wird sie als Wissenschaft den Namen Gall’s der Nachwelt überliefern und als dessen fortlebendes Denkmal zu betrachten sein, aber praktischen Nutzen wird auch sie nicht gewähren.