Textdaten
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Autor: Alfred Brehm
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Titel: Zwei Weihnachtsabende
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aus: Die Gartenlaube, Heft 52, S. 749–751
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1858
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[749]
Zwei Weihnachtsabende.


„Aus der Jugendzeit, aus der Jugendzeit
 Klingt ein Lied mir immerdar;
Ach, wie liegt so weit, ach, wie liegt so weit,
 Was mein einst war!“


Der Klang tönt wieder in tausend Herzen in dieser Zeit; auch in dem meinen klingt er an und leise wieder! Es ist ein eigen Ding um alle Jugenddichtung: sie spinnt sich wie ein goldener Faden in’s ernste Mannesalter hinüber; und was dieses auch immer dem Menschen gebracht und wie es denselben verändert haben mag: selbst das Herz des Mannes hat eine Stelle, welche sie erschüttern kann mit ihrer hinreißenden Kraft und Lieblichkeit. Wir Alle empfangen jedes Jahr das Christkind in unserem Herzen, mögen sich unsere Anschauungen verändert haben, wie sie wollen; wir Alle werden wieder zu Kindern, – und wäre es nur für Minuten! – wenn der Kinder Christnachtsfreude auch in uns erglüht!

Das habe ich nirgends lebendiger gefühlt, als in der Fremde, wenn der Kalender mir sagte, daß heute daheim die Lichter flimmerten und leuchteten – hinein, tief hinein in tausend Kinderherzen! Ich verspürte dann immer eine Weiche im Gemüth, wie sie wohl Kinder haben; ich empfand eine Sehnsucht, ein wahres Heimweh nach dem Vaterhause, daß ich über mich fast hätte zürnen mögen, wenn ich es nur gekonnt hätte. In gar verschiedenen Städten, unter gar verschiedenen Menschen habe ich die liebe Christnacht gefeiert; zwei Mal aber hat sie mich ganz besonders ergriffen. Der eine Weihnachtsabend gellt mir noch heute wüst und hohl in meine Erinnerung herein, der andere klingt mir voll und gewaltig in der Seele wieder. Ich will beide zu schildern versuchen.

[750] Wir waren in Madrid, alleinstehend und unbekannt in der großen Stadt, durchkältet an Leib und Seele von der hier wegen jeglichen Mangels an Schutz doppelt fühlbaren Rauhheit der Jahreszeit und den gemüthsleeren Großstädtern; wir suchten und fanden nur in der Erinnerung an’s liebe Deutschland Ruhe und Glückseligkeit. Wir konnten uns keinen Christbaum anzünden, so gern wir es auch gewollt hätten; aber in unserem Innern brannten dessen Lichter hell und freundlich schon lange vor dem Feste, welches wir in der Kirche zu begehen beschlossen hatten. Der von so vielen kleinen und großen Kindern herbeigesehnte Abend brach endlich herein. In den Straßen der Hauptstadt des christlichen Spaniens wogte von Sonnenuntergang an die Menge auf und nieder, „um das Christkind zu empfangen,“ Sie suchte sich gegenseitig zu ergötzen und zu überbieten in ihrer Freude. Männer und Frauen durcheilten in Schaaren die Straßen und schrieen und jubelten – aber nicht wie gesittete Menschen, sondern wie Barbaren. Beide Geschlechter hatten sich mit Trommeln, Tambourins, alten Kochtöpfen, blechernen Pfannen und Pfeifen ausgerüstet und handhabten diese Lärmwerkzeuge genau in derselben Weise, wie bei uns zu Lande die Dorfjugend ähnliche in der Walpurgisnacht, wenn sie im kindischen Uebermuthe die alten Hexensagen nicht verschallen lassen und die zur Teufelshochzeit Fahrenden vertreiben will mit Geschrei und Trommeln und Schießen und Feuerschein. Dabei waren alle Weinkneipen und Branntweinladen weit geöffnet, und die Hefe der Hauptstadt gährte in deren Thüren. Immer größer, wüster und abscheulicher wurde der Lärm; betrunkene Weiber suchten es den berauschten Männern gleichzuthun im Trommeln, Rasseln, Pfeifen und Schreien; die Kinder folgten dem Beispiele ihrer Eltern; wer ohne jene Tonwerkzeuge war, schrie und brüllte wenigstens – und eins der Lichter des Christbaumes in unserem Herzen verlosch nach dem andern.

Gegen Mitternacht versammelte sich die Menge in dichten Gruppen vor den Kirchthüren, welche geschlossen und mit Soldaten besetzt waren, und lachte oder schrie, trommelte und rasselte noch ärger, als zuvor, oder riß wohl auch gemeine Späße mit den anwesenden Frauen. Dazu wurden die Glocken in der hier gewöhnlichen Weise geläutet: mit einzelnen schnellen Schlägen, wie bei uns zu Lande bei Gefahr und Noth, und nicht vereint, sondern jede einzelne für sich in wirrer, mißhelliger Folge mit anderen. Das Glockengeläuts in Spanien hat mich stets empört; denn es ist eigentlich nur ein schändliches Mißbrauchen der herrlichen, so eigentlich christlichen Klangwerkzeuge; heute aber verletzte es mich mehr, als je. Der Kindheit Dichtung, der Heimath Sehnen und der Heimath Bild, welches Glockentöne in der Fremde in mir zu erwecken pflegen, mußte vor diesen grausigen Tönen dahinschwinden. Ich wunderte mich nicht mehr darüber, daß nur im deutschen Herzen Glockentöne zum erhabenen Liede erblühen konnten; ich sah ein, daß nur ein in Deutschland Geborener Schiller’s Worte verstehen konnte, niemals ein Spanier: denn ich selbst verstand in Spanien die Glocken nicht mehr.

Mit dem Schlage Zwölf wurden die Kirchthüren geöffnet und das außen versammelte Volk stürzte sich nun in das Innere des Gotteshauses. Wir folgten ihnen ernst und stumm; denn es war uns gar eigen zu Muthe geworden. Doch sollte es noch anders kommen. Wir wunderten uns nicht wenig, als wir im Innern des Gotteshauses Polizeimänner stehen, Bayonette blitzen sahen. An jedem Pfeiler standen zwei Soldaten mit Gewehren; durch die Mitte des Schiffes aber zog sich eine dichte Reihe derselben, dazu bestimmt, um die zum Beten hierhergekommenen Männer von den Frauen abzuhalten!

Ich wurde durch die Anwesenheit der Soldaten schreiend verletzt im innersten Herzen; aber ich wußte ja nicht, daß man in diesem Jahre dem Volke zum ersten Male verboten hatte, den barbarischen Lärm von den Straßen in der Kirche fortzusetzen, wie es sonst zu thun pflegte. Und in der That waren Soldaten nöthig, den Trommelschlag und anderen Tonmißbrauch auf die Kirchthüren zu beschränken, durch die er noch immer hereinklang in’s Heiligthum; es waren Soldaten nöthig, Störungen der Messe zu unterbrechen: denn verhindern konnten sie diese nicht. Man lachte, witzelte und lärmte auch in der Kirche fort, und alle Wachen waren nicht im Stande, die Ruhe herzustellen. Ja, als dann die jubelnden Worte des „gloria in excelsis deo“ kamen, und von rauschender Musik begleitet wurden, da zogen einige der Männer trotz der Soldaten Tambourins unter den Mänteln hervor, und schlugen diese und klapperten mit ihnen, als hätten sie einer Tänzerin den Takt anzugeben. Die große Menge belohnte diese Unberufenen mit einem schallenden Gelächter und murrte gewaltig, als man Jene festnahm und entfernte; denn sie verstand ja weder das pfäffische Geplärr am Altare, noch die Worte der Sänger im Chore, welche die Trommelschläger begeistert hatten. Mehrere Male noch wiederholte sich ähnlicher Unfug; ich war froh, als die Messe endlich zu Ende ging. Eilig kehrten wir nach unserem Stübchen zurück, und verschlossen sorgfältig dessen Thüren und Laden, um nur den Lärm nicht mehr zu hören, welcher uns unsere Weihnachtsstimmung so arg verbittert hatte und immer fort währte. Und erst dann, als wir allein im Stübchen waren, wurde es uns wieder wohl im Innern; ich aber gedachte einer andern Weihnachtsnacht, die ich vor Jahren gefeiert – und begann zu vergleichen. Ueber Meer und Länder hinweg, durch vergangene Jahre hindurch trug mich die Erinnerung; ich befand mich wiederum im inneren Afrika, und durchlebte noch einmal die dort gefeierte Weihnacht. – – –

Auf einem der Hauptströme des Nil, mitten im Walde, lag unser kleines Boot. Wir hatten den ganzen Tag über gejagt, gearbeitet, beobachtet, Neues entdeckt, Wunder erschaut und darüber Alles, selbst die Heimath vergessen. Aber als die Sonne sich neigte, als sie das Gold des Abends unter das hundertfach verschiedene Blattgrün der Baumkronen webte, als das Kreischen der Papageien verstummt war, und die Affenschaaren tanzend von Baum zu Baum gaukelten, um sich, von dem Gegurgel des Aeltesten und Stärksten der Bande geleitet, eine sichere, hochgewipfelte Mimose zur Nachtruhe auszuwählen; als der prächtige Seeadler drüben am andern Ufer des Stromes, welcher mir immer wie eine wunderschöne Blüthe seines grünen Ruhesitzes erschienen war, seinen blendend weißen Hals zusammenzog; als die zwei Riesenkrokodile auf der uns gegenüberliegenden Sandbank ihren von der Sonne durchglühten Panzer wieder im lauwarmen Strome zu kühlen gedachten; als die Nacht sich herabsenkte, friedlich, mild, heiter und herrlich, wie immer: da flogen unsere Gedanken über Land und Meer, durch Steppen und Wüsten unaufhaltsam der theuren Heimath zu; und wie auch die Nacht schmeichelte und uns liebkoste, es wollte ihr nicht gelingen, des Herzens Sehnen zu beschwichtigen. Wir hatten uns Punsch bereitet und die Pfeifen mit dem köstlichsten Tabak der Erde, dem unvergleichlichen Djebeli, gefüllt, aber „die Wolken des Rauchs wollten die Wolken der Schwermuth“ uns nicht vom Herzen nehmen: die Gläser blieben ungeleert und unsere Herzen ungefüllt. Unser Türke sang seine prächtigen Minnelieder in tonreichen Weisen, aber auch sie wollten uns nicht erheitern. Der Urwald selbst mußte sprechen, um uns ihm und uns selbst wiederzugeben, und er that es auch; er ließ uns unsere trüben Gedanken, unser Sehnen und unser Heimweh nicht länger.

Plötzlich schmetterten helle, kräftige Trompetentöne durch die bisher so stille Nacht. Sie kamen vom andern Ufer herüber; das Geschwätz der Diener und Matrosen verstummte augenblicklich und alle lauschten, wie wir. Von Neuem schmetterte es zu uns herüber. „El Fiuhl, el Fiuhl! – Elephanten, Elephanten!“ – jubelten die mit den Tönen Vertrauten. Ja, wahrhaftig, es waren Elephanten, welche drüben zum Flusse gingen; nur von ihnen konnten solche Klänge herrühren – und heute vernahmen wir sie zum ersten Male: die Christnacht wollte auch uns nicht unbeschenkt lassen. Aber nicht allein sie, die Waldriesen, ließen sich vernehmen, ihr Geschmetter sollte vielmehr gleichsam nur das Zeichen sein zum Beginn des nun laut werdenden, beinahe schauerlichen, aber doch unendlich großartigen Nachtconcertes. Der König des Waldes donnerte durch sein Reich, seine Königin antwortete, tiefes Schweigen folgte, jedoch nur für kurze Zeit. Ganz in der Nähe unseres Schiffes hob ein Nilpferd seinen Kopf aus dem Wasser und brummte, als wolle es versuchen, mit der Löwenstimme zu ringen, ein Panther grunzte, erschreckt gurgelten die Affen auf, die Hyänen und Schakale übernahmen wie gewöhnlich den Chorgesang, die Eulen schrieen dazwischen, auf der Sandbank klagte der Wogenpflüger der Nacht, der Scheerenschnabel, und Silberglöckchen gleich erklang das Gezirp der Cicaden dazwischen, dumpfer der tiefe Ton der Waldfrösche. Es war ein wunderbares Tonstück, welches wir hörten, und wunderliche Künstler führten es auf, aber es gab uns ganz dem Orte wieder und söhnte uns aus mit der Fremde. Wir lebten auf mit diesen Tönen der Nacht, die trüb gewordenen Augen glänzten wieder, und die Herzen schlugen hoch auf vor Freuden! –

[751] Ich weiß es, welcher von beiden Christabenden würdiger gefeiert worden ist. Den einen in Madrid kann nicht einmal die Erinnerung zu einem erträglichen Bilde umgestalten; den andern im Urwalde malt sie von Jahr zu Jahr mit immer lebendigeren Farben aus. Wenn ich jetzt seiner gedenke, kommt mir die alte liebe Weise immer wieder in den Sinn, und ich möchte fast seufzend ausrufen:

„Ach, wie liegt so weit, ach, wie liegt so weit,
 Was mein einst war!“

Brehm.