Zwei Stunden in einem Londoner Arbeitshause
Zwei Stunden in einem Londoner Arbeitshause.
Einige englische Schriftsteller und öffentliche Volksredner haben wohl von Zeit zu Zeit den Versuch gemacht die Arbeitshäuser der Unions – diesen Zufluchtsstätten der hülfsbedürftigen Armen der Nation – mit dem schreckerregenden Namen „Bastille“ zu brandmarken. Die Bastille war, wie sich unsere geehrten Leser sehr wohl erinnern, das alte Staatsgefängniß von Paris, und der Schauplatz manches höchst tragischen Dramas. Es bestand aus acht verschiedenen Thürmen, welche vermittelst eines ungeheuren Mauerwerkes miteinander vereinigt waren, und das Ganze war dann zunächst mit einem 120 Fuß breiten und 25 Fuß tiefen Graben umgeben, und endlich folgte eine 36 Fuß hohe, dicke, steinerne Mauer. Die Thürme waren in verschiedene Etagen getheilt, welche wiederum kleine achteckige Zimmerchen enthielten, die vermittelst einer engen, offenen Schießscharte durch eine sechsfüßige Mauer höchst matt erleuchtet wurden. Da war kein Ofen oder sonstiger Heizapparat, kein Hausgeräth, mit Ausnahme eines eisernen Gitters, welches ungefähr 6 Zoll von dem Fußboden entfernt in waagerechter Stellung befestigt war und auf dem sich die Matratze des Gefangenen befand, auf der er des Tages in tiefster Einsamkeit saß und des Nachts – wenn er dazu Neigung fühlte – schlummerte, um von der verlornen Freiheit angenehm zu träumen.
Nun diese englischen Arbeitshäuser sind zweifelsohne etwas verschiedener Natur; sie sind keine Gefängnisse mit Wällen und Gräben umgeben, in deren finsteren Zellen Verbrecher in Banden und Fesseln ihre Vergehen gegen das Gesetz und die verletzte Gesellschaft abbüßen, sondern es sind vielmehr – wie wir bereits angedeutet haben – Zufluchtsstätte für bedürftige Arme, welche – vielleicht durch äußere Noth gezwungen – jedoch freiwillig eintreten und sie jeden Augenblick ganz nach Belieben verlassen können. Der Holzschnitt nebenanstehend giebt eine [223] genaue Darstellung des Arbeitshauses, welches für die Windsor-Union im Jahre 1840 errichtet worden, und es befindet sich an der Grenze des großen Windsor-Parkes, unmittelbar an der Landstraße, welche nach Bishopgate und Englefield führt, gerade in der Mitte der allerschönsten Landschaftsscenen, an denen die Umgebung des majestätischen Windsor so überreich ist, und es war namentlich dieser äußerst malerische Theil, welcher den Inhalt zu Denhams berühmtem Gedichte „Cooper’s Hill“ geliefert hat. Die äußere Erscheinung der Anstalt steht in schönem Einklange mit den heiteren Aussichten über das liebliche fruchtbare Thal der „gelbgelockten, göttlichen“ Themse und den ehrwürdigen riesenhaften Bäumen, welche den Reiz und die feierliche Stille dieser Waldlandschaften so unermeßlich erhöhen. Es ist im Style des sechszehnten Jahrhunderts erbaut, als Bequemlichkeit und Eleganz, die Erzeugnisse des Wohlstandes und einer größeren Sicherheit, die rohen Festungsburgen der feudalen Großherren zu verdrängen begannen. Der Raum, welcher es umgibt, ist von der öffentlichen Landstraße durch nichts als ein Stacketgitter getrennt und vor dem Centralgebäude blühen in der Mitte des grünen Rasens die mannigfaltigsten Blumen in schönster Pracht, und der Fleiß der Einwohner hat an den beiden Flügeln des Gebäudes zwei ansehnliche Strecken in üppige Küchengärten verwandelt.
Doch lasset uns selbst eintreten.
An dem Portale des Centralgebäudes begegnen wir einem Thüröffner, welcher uns auf das allerartigste in ein Zimmer zeigt und unseren Wunsch, das Arbeitshaus in Augenschein zu nehmen, dem Director mittheilt. Die Erlaubniß ist sofort gewährt und wir beginnen nun unsere Wanderung. Die Insassen haben so eben gespeist; wir kosten die verschiedenen Gerichte, aus denen die Mahlzeit bestanden hat und müssen eingestehen, daß der Pudding, das Brod und Käse von der allerbesten Qualität waren, welche wir jemals genossen haben. Aber dann, wie verhält es sich mit der Quantität? Wie viele arme Kinder verlassen die Tafel mit hungrigem Magen? und wie viele bejahrte Personen bedürfen noch einiger anderer Erfrischungen und Erquickungen außer der gewöhnlichen Suppe und Grütze und Pudding und gekochtes Rindfleisch. Diese Gedanken drängen sich dem Besucher unwillkürlich auf, welcher die Redner und Schriftsteller, die diesen Anstalten feindlich sind, von der unerträglichen Diät und dem Hungersysteme in diesen Arbeitshäusern so laut hat reden hören. Die imponirende äußere Erscheinung des Gebäudes hat bereits manche unserer Vorurtheile völlig vernichtet; aber da mag dessen ungeachtet ein ungeheures Elend hausen, obwohl die Zimmer einladend, hell, luftig und äußerst sauber erscheinen. Lasset uns in unserer Wanderung fortschreiten.
Die verschiedenen Speisezimmer für die Männer, welche sich auf der linken Seite von dem Centralgebäude befinden, sind sämmtlich von diesen verlassen und wir eilen deshalb vorwärts und besuchen sie in ihren Wohnzimmern, welche sowohl in der Front als nach hinten hinaus mit verschiedenen Höfen in Verbindung stehen. Die ganze Menge der männlichen Insassen sind zunächst in zwei Klassen getheilt: die Arbeitsfähigen und die Bejahrten und Schwachen oder Arbeitsunfähigen; und jede dieser Klassen haben ihre bestimmten Zimmer und Aufenthaltsplätze. Die Alten [224] und Schwachen sitzen ruhig in dem warmen Sonnenscheine oder in ihrem betreffenden Zimmer, um desto besser die genossene Mahlzeit in Gemüthlichkeit zu verdauen; einige wenige sind mit Lesen beschäftigt. Die Arbeitsfähigen – in dieser Jahreszeit nur eine geringe Anzahl – haben sich bereits an ihre verschiedenen Beschäftigungen begeben; einige arbeiten in den Gärten, andere zupfen Werg aus alten ausgedienten Tauen und Stricken, andere hinwiederum hacken Holz oder arbeiten, im Falle sie eine bestimmte Profession als das Schuhmacher- oder Schneiderhandwerk erlernt haben, für das allgemeine Beste der Anstalt. Die Knaben sind in der Schule unter der geistigen Leitung eines Lehrers. Wir sehen hier eine Anzahl gesunder, wohlgekleideter und durchaus reinlicher Knaben mit lachenden, lebensfrohen Gesichtern, welche unter der Führung eines einsichtsvollen, jungen Mannes, dem die Ausübung seiner Pflichten ein Vergnügen zu sein scheint, lesen, schreiben, buchstabiren und auch wohl ein wenig rechnen lernen.
Von hier begaben wir uns eine Treppe hinauf, um die Schlafzimmer in Augenschein zu nehmen. Der ganze obere Theil des Gebäudes, welches ungefähr 360 Fuß lang ist, besteht aus einer ungeheuren Anzahl von einzelnen Zimmern, welche vermittelst verschiedener breiter Treppen zugänglich sind, jedoch vermittelst eines Ganges in ihrer ganzen Ausdehnung mit den Zimmern der verschiedenen Aufseher und Aufseherinnen in dem Centrum des Gebäudes in unmittelbarer Verbindung stehen. – Diese Schlafzimmer sind hinwiederum in verschiedene Abtheilungen für die Alten, die Schwachen, Arbeitsfähigen, und Knaben abgetrennt; die Schlafzimmer für die weiblichen Insassen befinden sich in dem Flügel, welcher von dem Centralgebäude rechts belegen ist, und sind ganz nach derselben Art wie die der Männer eingetheilt. Jeder einzelne Insasse hat sein eigenes Bett, und da wir, dazu speciell aufgefordert, mehrere dieser Betten genau untersucht haben, so fühlen wir uns zu dem Urtheile berechtigt, daß wie überall, so auch ganz besonders hier in dieser Abtheilung der Anstalt die allergrößte Reinlichkeit und Ordnung herrscht, und die Lüftung (Ventilation), welche für das Gedeihen der menschlichen Constitution von der allergrößten Bedeutung ist, ist durchaus musterhaft.
Wenn wir hinwiederum die breite Treppe hinuntersteigen, welche sich auf der rechten Seite des Centralgebäudes befindet, so gelangen wir in die verschiedenen Zimmer der Frauen, welche nach demselben Plane gebaut und eingetheilt sind, als die der Männer. Die alten Frauen, welche nicht zu schwach sind, haben ihren Stuhl nahe an das geputzte Fenster gerückt und sind mit jugendlichem Eifer mit einem Nähzeuge oder wohl gar mit dem Strickzeuge beschäftigt, welches seit der Erfindung der Strumpfwebedampfmaschienen in England eine außerordentliche Erscheinung ist; andere lesen in tiefster Andacht in dem Buche des Lebens, aus dem sie im vollsten Maaße den Trost schöpfen, welchen sie in den wogenden Verhältnissen des Lebensgebrauses vergeblich gesucht haben, dafür zeugt die Inbrunst, mit welcher sie den Text Wort für Wort in sich aufnehmen, und die tiefgefurchte Stirn und jenes melancholische Auge spricht auf das Unverkennbarste von harten Kämpfen und großen Leiden, ehe sie in diesen Hafen des Friedens ruhig eingelaufen waren. Ja auch diese hochbetagten, hinfälligen Gestalten vor unseren Augen haben einst in Schönheit und übermüthiger Jugendfülle gestrotzt, auch ihr Busen hat einst manche kühnen Träume geborgen, auch ihr Herz war einst voller Wärme und Leidenschaften; das Alles ist nun vorüber und Nichts geblieben, als die Hoffnung auf die seligen Freuden einer besseren Welt. – Andere hinwiederum gehen auf dem Hofe in dem hellen Sonnenscheine spazieren, um ihren Appetit ein wenig mehr für die Tasse Thee zu schärfen, welche mit den schönsten Vorgenüssen erwartet wird. Die Mädchen befinden sich unter der Direction einer Lehrerin und lernen nähen, stricken, lesen und schreiben. Auch besitzt die Anstalt eine kleine Bibliothek nützlicher und erbaulicher Schriften, welche jedem Insassen, alt und jung, zu Gebote steht.
Bis jetzt haben wir eigentlich noch gar kein wirkliches Elend gefunden; in der That haben wir kaum ein Gesicht gesehen, welches eine tiefe Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Lage verrathen hätte, und die Nahrung, obwohl nicht luxuriös und übermäßig, muß durchaus ausreichend sein, denn überall um uns herum sehen wir Nichts, als blühende Gesundheit. Wir wissen, daß eine gute Gesundheit namentlich von Reinlichkeit, einer gehörigen Lüftung und hinreichender, gesunder Nahrung abhängig ist. Hier herrscht zweifelsohne die größte Reinlichkeit, und die Ventilation ist musterhaft, und wir dürfen aus guten Gründen wohl annehmen, daß auch die verabreichten Nahrungsmittel zuträglich sein müssen, denn sonst würden wir nothwendigerweise elende, verhungerte Wesen antreffen. Wir haben noch das mit der Anstalt verbundene Krankenhaus zu besuchen. Hier in der That befindet sich ein nicht geringes Maaß von Elend, aber es ist ein Leiden der Art, welches wir in dem Inneren eines wohlgeleiteten Hospitals antreffen. Der Leidende sucht hier die Hülfe, welche er in der eigenen Wohnung nicht haben kann. Hier ist der Schlagflüssige, dessen Aufenthalt in der Gesellschaft so viel als möglich unlästig gemacht werden muß; hier ist der Krüppel, welcher für jede Arbeit oder Anstrengung unfähig ist, und dessen Schmerzen unter der Aufsicht chirurgischer Kunst gelindert werden müssen; hier ist auch einer, welcher bei der ungewöhnlich scharfen Kälte des vergangenen Winters den Gebrauch seiner Gliedmaßen einbüßte und er wird in kurzer Zeit völlig hergestellt und arbeitsfähig sein. Die verschiedenen Patienten versichern uns, daß jede Bequemlichkeit, welche sie nur wünschen, sofort gewährt und daß ihnen auf Anweisung des Doctors jedes erforderliche Nahrungsmittel, ja selbst außerordentliche Begünstigungen, welche über die gewöhnliche Diät der Anstalt hinausreichten, mit der größten Bereitwilligkeit verabfolgt wurden. Die umfangreiche Küche mit ihren ungeheuren kupfernen Kesseln und riesigen Pfannen und in der Alles mit Dampf gekocht und gebraten wird; die Waschanstalt, in der sämmtliche Wäsche des Hauses gewaschen, gerollt und geplattet wird; dann die niedliche Kapelle, in der die üblichen Morgen- und Abendgebete gehalten, und des Sonntags der Gottesdienst stattfindet, machen den Beschluß unserer Rundschau.
Welches ist nun der Zweck eines solchen Unions-Arbeitshauses, welches den hülfsbedürftigen Armen unstreitig größere Bequemlichkeiten bietet, als sie möglicherweise in ihren eigenen Wohnungen haben können; ist es ein Ort, in welchem der Arme sein ganzes Leben zu verbringen wünscht? Nein durchaus nicht. Denn wenn dies der Fall [225] wäre, dann würde es in unserer Meinung ein größerer Fluch für die Gesellschaft sein, als der Schmuz, die Unwissenheit, das Laster und das Elend der alten Arbeitshäuser der einzelnen Bezirke, deren einziger Gegenstand war, die Armen zu füttern; denn wir fürchten für das Gedeihen und Wohlsein eines Staates Nichts so sehr als wohlgenährte Bettler an Stelle einer gesunden und kräftigen Arbeiterklasse. Für den Arbeitsfähigen muß selbst das bequemste Unions-Arbeitshaus ein höchst unwillkommener Aufenthalt sein. Die geordneten Eintheilungen, die zugemessene Quantität der Nahrungsmittel, die unveränderliche Einförmigkeit der strengsten Disciplin, der Zwang zu arbeiten und der gänzliche Ausschluß von der Außenwelt, jedes einzeln und Alles zusammen bietet Unbequemlichkeiten dar, deren sich nicht leicht jemand unterzieht, der die Mittel besitzt, seinen Lebensunterhalt anderswo zu verdienen. Der schmuzige Vagabond, welcher gelegentlich einspricht und um Obdach und Nahrung nachsucht – welches beides jedem ohne Unterschied gewährt wird, – findet natürlich keinen Gefallen an der herrschenden Reinlichkeit und Ordnung, welche ein Aufenthalt in der Anstalt erheischt; und er hält es deshalb nicht lange darin aus. Für den ordentlichen Arbeiter hingegen, welcher eine Zeit lang wider eigenes Verschulden ohne Existenzmittel ist; für den Bejahrten und Schwachen, der nicht im Stande gewesen ist, sich eine sorgenfreie Lage im drückenden Alter zu erarbeiten; für die Wittwen und Waisen, welche durch einen unzeitigen Tod des Ernährers und der väterlichen Stütze beraubt sind, für diese Personen sind die Unions-Arbeitshäuser unstreitig von der höchsten Bedeutung und dem wohlthätigsten Einflusse, und wir wissen, daß manche arme Kinder in diesen Anstalten eine Erziehung genossen haben, welche sie sonst niemals hätten erhalten können, und so lange es noch Arme in England gibt, welche in eine der angegebenen Klassen fallen, für welche diese Arbeitshäuser gegründet sind, so lange halten wir sie für durchaus praktisch und dem Zeitgeiste angemessen.