Zur Krise der Literatur

Textdaten
Autor: Maria Lazar
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Zur Krise der Literatur
Untertitel:
aus: Der Wiener Tag, 22. Januar 1933, Seite 15
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1933
Verlag: Tag Verlag AG
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort:
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: ÖNB-ANNO
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: [1]
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
[[index:|Indexseite]]

Da man nun einmal gewohnt ist, überall, wo es schief geht, von Krise zu sprechen, spricht man natürlich auch von einer Krise der Literatur, des Theaters, der Dichtung. Und sicher nicht mit Unrecht. Fraglich ist nur, ob diese Krise in ihren Erscheinungsformen wirklich bloß ein Abklatsch der übrigen Krisen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens ist. Ob wirklich Bücher und Theaterbilletts nur deshalb nicht gekauft werden, weil die Leute so wenig Geld haben. Ob es nicht im Rahmen der Literatur selbst auch andere, innere Ursachen gibt, die ihre eigene Krise zumindest mitverschulden.

„In einer Zeit, in der alles chaotisch ist, kann es eben auch keine einheitliche und geschlossene Dichtung geben. Auch die Literatur muß selbstverständlich formlos, unfähig, chaotisch werden. In solch einer Zeit gibt es leider auch keine Begabungen. In unserer Gegenwart usw. usw.“ Wir hören das immer wieder. Es klingt plausibel. Ob es aber auch wahr ist?

Im allgemeinen pflegten doch alle wirklich bedeutenden Gehirne ihrer Zeit weit voraus zu sein. In Inhalt und Form ihrer Produktion. Dies ist eine so triviale Wahrheit, daß man beinahe verlegen wird, wenn man sie niederschreibt. Aber wenn man beobachtet, mit welch kindischem Eifer heutzutage jeder bestrebt ist, den sogenannten Zeitgeist mit Löffeln zu fressen, so kann man nicht anders, man muß daran erinnern.

Denn die Gegenwart ist wie ein Baby, das sich den Spiegel an die Nase quetscht, um sich nur recht genau zu betrachten. Daß sie zu keiner Perspektive kommen kann, ist verzeihlich. Weniger verzeihlich ist, daß sie sich dieser Tatsache so gar nicht bewußt wird. Erklärlich wird dies nur dadurch, daß ihr Tempo ein anderes ist, als das anderer Zeiten. Sie ist etwas besoffen von diesem Tempo.

Wer hin und wieder, aber nur ein klein wenig, in die Vergangenheit zurückschielt, wird bald merken, wie falsch das Spiegelbild unserer Gegenwart ist. Denn in der Vergangenheit waren die eifrigsten, die loyalsten Zeitgenossen immer auch die für uns mehr oder weniger anonymen Zeitgenießer. Bahnbrechend, schöpferisch, hellseherisch und revolutionär im höchsten Sinn waren jene unbequemen Individuen, deren Namen uns erhalten blieben. Um nur ganz wenige Beispiele anzuführen: die Literatur der französischen Revolution entstand keineswegs erst mit dem Sturm auf die Bastille, sie reicht zurück in den dunkelsten Feudalismus. In der selbstgefälligen und wohlbehüteten bürgerlichen Epoche um die Wende des zwanzigsten Jahrhunderts entstand der alle Formen und Werte zersetzende Expressionismus. Und eine Erscheinung, wie Georg Büchner bliebe völlig unerklärlich wenn wir den Dichter wirklich als den Ausdruck seiner eigenen Zeit betrachten wollten.

Die Gegenwart zu erfassen ist Aufgabe des geschickten Journalisten, des begabten Kritikers. Der Dichter – ja, hat denn der Dichter (einmal nannte man ihn vates) überhaupt eine Aufgabe?

Dies wird mindestens ebenso oft behauptet, wie daß er „seiner Zeit“ anzugehören hat. Wer stellt ihm seine Aufgabe? Die Theorie. Die Theorie kann jedoch immer nur die Gegenwart erfassen und nicht jene Zukunft, in die der Dichter, als der erste Exponent lebendiger Massen, hinüberblicken soll. Daher verweist die Theorie den Dichter auf die Gegenwart. Sie stellt sich vor sein Werk, sie ist früher da als dieses. Der Dichter von heute schreibt sich als Vorwort gerne den eigenen Nekrolog. Das ist ungesund und so unorganisch, wie wenn kleine Kinder durch Turnunterricht gehen lernen wollten. Solche Kinder würde, normal geboren, leicht zu Krüppeln werden. Es gibt, wenn man sich gut umsieht, in der Literatur von heute auffallend viele hinkende Begabte.

Und außerdem gibt es eine ganz erstaunliche Menge von Unbegabten. Woraus, mit dem Spiegel an der Nase, geschlossen wird, daß es keine oder nur sehr wenige Begabte gibt. Diesem Schluß fehlt jede Logik. Aber erstaunlich bleibt jedenfalls die Fülle von unbegabter Produktion. Auffallend ist, wer sich jetzt alles zu schreiben getraut.

Nun, auch dafür gibt es eine Erklärung: Selten noch war literarischer Erfolg so einfach zu erringen wie jetzt. Man kleidet sich in Gesinnung wie in eine Uniform. Die Gesinnung ist so unendlich wichtig geworden, daß die Begabung neben ihr ganz nebensächlich erscheint. Man fügt sich einer Richtung, man schreibt jetzt so oder so oder so, die Theorie ist vorhanden, mit ihr der Glaube an den unbedingten Wert des sogenannten Zeitgeistes, und, was das Gefährlichste ist, die Theorie ist bis zu einem gewissen Grad erlernbar. Vor allem für die Unbegabten.

Begabung ist jedoch nicht erlernbar. Auch dies ist eine Wahrheit, die man nicht gern niederschreibt. Klingt ein bißchen trivial. Durch Ableugnen wird sie ebensowenig aus der Welt geschafft, wie andere unangenehme Wahrheiten. Mag der Beweggrund, der sie ableugnen läßt, so nobel sein, wie die menschliche Gerechtigkeit selbst.

Der Kampf gegen Ungerechtigkeit ist wohl ein Grundelement aller menschlichen Entwicklung. Wir können aber Ungerechtigkeit nur bekämpfen, wo sie soziologisch gegeben ist. Die Ungerechtigkeit der Natur zu bekämpfen, ist Unsinn. Mit ihr muß man sich auseinandersetzen. Man wird nicht zusehen, wie ein Herzkranker zum Schnelläufer wird oder ein Farbenblinder zum Maler. Man wird nicht dulden, daß ein unbegabter Techniker einen komplizierten Motor baut. Daß aber ein Mensch ohne Geist, ohne Phantasie, ohne Sprachgefühl, ohne Formbegabung einen Roman schreibt, hält man für weniger gefährlich. Was kann schon passieren, wenn er nur ein guter Gesinnungsgenosse ist. Oh, es kann sehr viel passieren. So und nicht nur im Zusammenhang mit der Überproduktion an Kaffee und Weizen kommt es zu einer Überproduktion an geistigem Mist.

Nebenbei bemerkt: nach den Gesetzen der Logik bedeutet die Behauptung, daß eine Gesinnung ohne Begabung nicht produktionsfähig sei, noch lange nicht, daß eine Begabung ohne Gesinnung es sein könnte. Beides ist notwendig, Begabung und Gesinnung, allerdings nur jene Gesinnung, an die die Begabung auch selber glaubt. Dazu jedoch gehört noch ein drittes: Charakter.

Auch eine etwas triviale Wahrheit. Aber man fühlt sich gedrängt, sie auszusprechen, wenn man zusieht, wie sich entweder begabungslose Gesinnung von keineswegs immer waschechter Farbe breit macht oder gesinnungslose Begabung lauschend der Stimme des Blutes in die dunkelste Metaphysik der Seele flüchtet vor einer Gegenwart, die, darüber sind beide Teile sich einig, an allem schuld hat, was nicht klappt. Denn wir leben eben, Gott sei’s geklagt, im Zeit- alter der Krisen.

Was gewiß nicht geleugnet werden soll. Nur darf man die allgemeine Wirtschaftskrise nicht immer auch als allgemeine Ausrede gebrauchen. Das ist zu billig. Vorurteile, Mißverständnisse, Aberglaube, Gesinnungsschwindel und Talentlosigkeit tragen zumindest auch Schuld, wenn die geistigen Waren keinen Kredit mehr finden. Die Literatur hat eben, abgesehen von allen übrigen Krisen, in die sie verstrickt sein mag, auch ihre eigene Krise. Die man, nebenbei bemerkt, heute bestimmt noch gar nicht überblicken kann.