Zurück aus den Großstädten aufs Land

Textdaten
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Autor: Karl Böhmert
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Titel: Zurück aus den Großstädten aufs Land!
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aus: Die Gartenlaube, Heft 34, S. 554–555
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Beitrag zur Wohnungsfrage
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Zurück aus den Großstädten aufs Land!

Ein Beitrag zur Wohnungsfrage.
Von Dr. jur. Karl Böhmert.

„– Selig muß ich ihn preisen,
Der in der Stille der ländlichen Flur,
Fern von des Lebens verworrenen Kreisen,
Kindlich liegt an der Brust der Natur.“

 („Braut von Messina“.)

„Stadtluft macht frei!“ So galt’s im Reich zu Zeiten des Mittelalters, und manches geplagte Bäuerlein entlief seinem gestrengen Herrn, um innerhalb der schützenden Stadtmauern vielleicht ein ehrbarer, behäbiger Bürger zu werden. Heut zu Tage sitzt der Bauersmann auf seiner Scholle; Leibeigenschaft und Frondienst haben aufgehört, und in der Kleinstadt wie auf dem platten Lande ist der Druck der Vögte und Gutsherren verschwunden. Wenn früher das platte Land die Stätte der Rohheit und Unwissenheit war und ein strebendes, wissensdurstiges Gemüth nur in der Stadt Anregung, Belehrung und Fortkommen finden konnte, so genießt heute das Bauernkind dieselbe Schulbildung wie der Sohn des gewöhnliche Städters; mit Hilfe der vervollkommneten Verkehrsmittel gelangen neue Menschen, neue Sitten, gelangt Anregung und Abwechslung auch in die abgelegensten Dörfer, und im kleinsten Neste werden die neuesten Zeitungen gelesen. Aber der Zug nach der Stadt hat nur einen noch größeren, ungeahnten Umfang angenommen. Jetzt heißt es „Stadtluft bringt Glück und Reichthum, bringt Vergnügen und Genuß,“ und die Söhne und Töchter des platten Landes verlassen ihre alte Heimath, um sie mit den Städten zu vertauschen. Da wächst denn ein Stockwerk über das andere; Straße legt sich an Straße; die Städte dehnen sich in die Breite und Länge, und in diesen Häusermassen birgt sich gar bald auch all die Noth und das Elend, das Laster und die Schande der Großstadt. Und auf das erste Hunderttausend der Stadtbewohner folgt bald das zweite, das dritte. Berlin ist seit 1816 bis 1885 von 197 000 auf eine Seelenzahl von 1 315 287 angewachsen, Paris in der Zeit von 1850 bis 1886 von einer Million auf 2 344 500, London im Laufe dieses Jahrhunderts bis zur Zählung von 1881von einer Million auf 3 816 483 und mit dem Außenring auf 4 788 774 Einwohner angeschwollen und zählt augenblicklich mehr als 5 Millionen Einwohner. In Amerika ist das Wachsthum der Städte noch weit außerordentlicher. So zählt Chicago jetzt eine halbe Million Einwohner und hatte deren vor einem halben Jahrhundert 70.

Die Statistik hat diesen Zug unserer Zeit, der sich in allen Kulturländern wiederfindet, mit Aufmerksamkeit verfolgt.

Von besonderem Interesse dürften die Zahlen sein, welche die Vertheilung des Bevölkerungszuwachses auf Großstädte, auf die übrigen Städte und auf das platte Land veranschaulichen. Für die in Betreff der Volkszunahme besonders denkwürdige Periode von 1871 bis 1875, in welcher die Bevölkerung Deutschlands am meisten gewachsen ist, ergab sich, daß im deutschen Reich die Bevölkerung in den Gemeinden über 100 000 Einwohner um 14,80% gestiegen war, in denen von 20 000 bis 100 000 um 12,11%, in denen von 5000 bis 20 000 um 10,74%, von 2000 bis 5000 um und 5,59% und in denen unter 2000 nur um 0,79%, das heißt: bei dem Anwachsen unserer Bevölkerung sind hauptsächlich die Gemeinden über 2000 Einwohner betheiligt, während auf dem platten Lande die Zunahme eine verschwindende ist; ja noch mehr: in manchen Gegenden unseres Vaterlandes war die Landbevölkerung um 1849 zahlreicher als augenblicklich, in Frankreich hat etwa ⅓ der ländlichen Departements die Bevölkerungsziffer, wie sie vor 30 Jahren war, noch nicht wieder erreicht.

Dieser Stillstand, ja theilweise Rückgang der ländlichen Bevölkerung erklärt sich nun freilich zur Hauptsache daraus, daß die Landwirthschaft selber nur einer beschränkte Zahl von Menschen Beschäftigung, Unterhalt und Fortkommen gewähren kann, daß also, da die Nachkommenschaft der Landbewohner fortwährend diese beschränkte Zahl übersteigt, ein Theil immer zum Verlassen der Heimath sich gezwungen sieht. Diese Leute wandern nun einestheils ganz aus, anderntheils aber strömen sie nach den Städten als den Mittelpunkten des Handels und Gewerbefleißes und bilden so den Hauptfaktor ihres Anschwellens. Es ist dies ein mit Nothwendigkeit sich vollziehender, in unsern wirthschaftlichen und Bevölkerungsverhältnissen begründeter Vorgang, der aller Wahrscheinlichkeit nach nicht verschwinden, so nur noch allgemeiner werden wird, falls die Maschine auch auf landwirthschaftlichem Gebiete die Menschenhände entbehrlicher macht, oder, was Gott verhüten möge, der Großgrundbesitz , etwa nach englischem Muster, zunehmen würde.

Wir müssen mit dem Anschwellen der Städte als etwas Gegebenem, Naturgemäßem rechnen und, wenn uns beim Anblick der enormen Einwohnerzahlen unserer Großstädte etwa ein ängstliches Gefühl ihrer Ueberfüllung beschleichen will, daran denken, daß unsere Enkel vielleicht verdoppelten Zahlen sich gegenüber sehen werden. Man wird in absehbarer Zeit auf einen Stillstand unserer Städte-Entwickelung, etwa gar auf ein massenhaftes Zurückströmen der Menschen in die Kleinstädte und auf das platte Land nicht rechnen können es wird vielmehr das Ziel jeder einsichtigen Stadtverwaltung sein, die günstigsten Bedingungen für die Aufnahme noch größerer Menschenmassen zu schaffen. Dazu gehört vor Allem das Anspornen der Bauthätigkeit, wenn nöthig selbst die Anlage von Stadtkapitalien in dieser gewiß nicht verlustbringenden Richtung. Der schwerste Vorwurf gegen die Großstädte würde schwinden, wenn sich die Wohnungsnot in ihnen allenthalben beseitigen ließe, wenn der Mangel an Wohnungen nicht die Menschen zwänge, so dicht neben und über einander zu wohnen, sich gegenseitig Luft und Licht wegzunehmen. Dann gilt es weiter, die Straßen und Plätze zu verbreitern und zu vermehren, alte, düstere und winklige Quartiere niederzureißen, die Städte gleichsam zu lichten und sie mehr in die Breite wachsen zu lassen. Endlich sollten schon im Voraus die Straßen bestimmt werden, von wo künftige Stadtbahnen den Verkehr der Großstädter unter einander erleichtern und sie schneller ins Freie führen können.

Verfasser dieser Zeilen ist nun aber keineswegs der Ansicht, daß der ständige Aufenthalt selbst in der wohlgebautesten Großstadt dem Landleben vorzuziehen sei, daß gar der Menschenzuzug vom Lande angefeuert und unterstützt werden müsse; auch er ist ein warmer Freund des Rufes „Zurück aufs Land!“, den man in der Jetztzeit so oft erschallen hört. Er will im Folgenden versuchen, die Grenzen zu bezeichnen, in denen die Mahnung ausführbar ist, und die Mittel anzugeben ihr nachzukommen. Das Lob des Landlebens, wie es sich seit den Zeiten eines Horaz durch die Dichtung hindurchzieht, das Lob der Landstadt, deren Verehrer schon spärlicher zu finden sein dürften, soll an dieser Stelle nicht in gewohnter Weise angestimmt werden. Einige von der Erfahrung bestätigte Thatsachen mögen reden.

Der Mensch lebt auf dem Lande länger, natürlicher, ruhiger und zufriedener als in der Stadt. Aber besonders eins läßt dem Großstädter den Landaufenthalt so begehrenswerth erscheinen, scheucht den Philister aus der dumpfigen Bierstube auf und macht den Bewohner der hohen Miethwohnung sehnsüchtig in die Ferne blicken: die Sorge um die Gesundheit, und sei sie es auch nur in ihrer leichteste Form, dem Bedürfniß nach ruhiger Erholung, fernab von des Lebens verworrenen Kreisen. Der Reiche findet diese Erholung auf seinen Landsitzen, der Bemittelte nennt die Großstadt im Sommer ausgestorben, da er nicht seines Gleichen sieht, und flieht ins Bad, selbst in weniger vermögende Kreise unserer Großstädte ist allmählich die Gewohnheit eines jährlichen Landaufenthaltes eingedrungen, und sie finden in billigen, anspruchslosen Dörfern und abgelegenen Landstädten bescheidene Unterkunft, auch mehren sich die Fälle, wo Arbeitgeber die Forderung „Ferien den Arbeitern!“ für ihre Industrie als berechtigt anerkennen und eine wirkliche Erholung dadurch ermöglichen, daß sie ihren Arbeitern auch während der arbeitsfreien Tage den vollen Lohn auszahlen. Mancher Arbeiter stammt ja vom Lande, wird von den Verwandten und Bekannten des Heimathsdorfes gern aufgenommen und lernt erst jetzt die Liebe für das Landleben, [555] das er unter dem Geräusch der Maschinen vergessen hatte. In dieser Weise verwirklicht ein großer Theil der Großstädter wenigstens für einige Wochen die Forderung „Zurück aufs Land!“. Das Land empfängt von dem Kapital der Großstadt, und diese sieht dafür erfrischte und gekräftige Leute in ihre Mauern einziehen. Das Land wird diese sich immer mehr verallgemeinernde Gewohnheit des Großstädters fördern, wenn es nicht zu theure Preise berechnet, und der Staat sie unterstützen, wenn seine Posten und Eisenbahnen den Verkehr erleichtern und billiger machen.

Doch der natürliche Zug nach ruhigem Landleben wird von einer großen Zahl solcher Menschen, die durch Amtspflichten und künstlerische oder gewerbliche Interessen an die Großstadt gebunden sind, in noch viel radikalerer Weise befriedigt. Amphibienartig sind sie theils Stadtbewohner, indem sie in der Stadt ihren täglichen Berufsgeschäften nachgehen, theils Landbewohner, indem sie ihr Heim in der ländlichen Umgebung der Großstadt sich erbaut haben. So legen sich im weiten Kranze Wohnplätze der Städter mit durchaus ländlichem Charakter um die Großstädte. An den schöneren Punkten haben sich Begüterte angesiedelt, und es entstehen dort reizende Villenstädtchen; Gewerbtreibende, Subalternbeamte, kleine Rentiers bilden Baugenossenschaften, wählen sich mit Bedacht ein Plätzchen in gesunder Lage, vielleicht nahe am Walde und nehmen bei der Einrichtung ihrer Wohnhäuser vielleicht noch auf etwaige Sommergäste Rücksicht. Der genossenschaftliche Zusammenhalt sichert ihnen leicht das nöthige Geld zu billigem Zinsfuße. Gute Bahnverbindung mit der Stadt, schon um der schulpflichtigen Kinder willen, ist mit Hauptbedingung bei derartigen Gründungen.

Auch die großstädtischen Industrie-Arbeiter siedeln sich immer mehr, theils freiwillig, theils gezwungen in umliegenden Dörfern und Landstädten an. In der Morgenfrühe sieht man sie scharenweise in der Großstadt anlangen. Einen großen Theil befördert die Eisenbahn, andere das Dampfschiff, andere die Pferdebahn, mancher kommt auf selbst erbautem oder billig erstandenem Dreirad oder Zweirad vor seiner Fabrik an; viele endlich müssen den stundenlangen Weg zu Fuß zurücklegen. Möchten doch noch öfters die Eisenbahnverwaltungen durch billige Arbeiterzüge diese wohlthätige Entwickelung begünstigen! Möchte man auch beim Bau von Arbeiterwohnungen von der Großstadt etwas seitab gelegene Dörfer mit guter Bahnverbindung mehr in Betracht ziehen, besonders falls dem Arbeiter ein eigenes kleines Haus geschaffen werden soll. Die unmittelbare Nähe der Großstadt mit ihren hohen Bodenpreisen, theuerem Lebensunterhalt und mit der Gelegenheit zu unnöthigen Geldausgaben erschwert dem Arbeiter die Erhaltung des eigenen Hauses und macht insbesondere die Mitarbeit der Hausfrau unentbehrlich.

Mit Nachdrücklichkeit ist weiter oben schon betont worden, daß der Menschenzuzug in die Großstädte theilweise nothwendig ist. Derselbe hat aber in der Neuzeit einen oft krankhaften Charakter angenommen. Viele vertauschen ihre ländliche Heimath nicht aus Mangel an Gelegenheit zu ausreichendem Auskommen mit der Stadt, sondern in der trügerischen Hoffnung, dort müheloser zu Besitz und Genuß gelangen zu können. Die Stadt hat allmählich in der Phantasie der Landbewohner einen glänzenderen Schein angenommen, als sie verdient. So wächst in den Städten das Angebot von Arbeitskräften zu stark; eine oft ungesunde Konkurrenz macht sich geltend, für bescheidene Posten melden sich dort Hunderte von Bewerbern. Auf dem Lande sehen wir ganz das Gegentheil: wir lesen häufig in den Zeitungen, daß diese Landstadt einen tüchtigen Arzt, jene einen braven Klempner- oder Schornsteinfegermeister dringend in ihre Mauern wünscht; wir hören aus größeren Landsitzen die Klagen über Mangel an Hauslehrern und Wirthschafterinnen; es fehlt an ländlichen Dienstboten, und fremde, oft ausländische Arbeitskräfte müssen zur Bestellung der Felder herbeigezogen werden. Dazu bereitet gerade augenblicklich gemeinnützige Thätigkeit dem Landmann in unserem Vaterlande wieder günstige Aussichten für den Erwerb eines eigenen Herdes. Im Nordwesten werden durch die Moorkultur Tausenden Räume eröffnet, thätig frei zu wohnen; im Nordosten wird der Großgrundbesitz zerschlagen, um eine gesunde deutsche Bauernschaft herzustellen. Warum nicht lieber dorthin, als in die Großstadt oder gar übers Meer. Freilich wird es langer Zeit und ernster Arbeit bedürfen, und viele Faktoren müssen zusammenwirken, um die Vertheilung des Bevölkerungszuwachses auf Stadt und Land befriedigend zu regeln. Es muß die Vorliebe für das Landleben in vielen Kreisen unseres Volkes wieder geweckt werden; es gilt, sie in den Schulen zu pflegen; in der Presse, auch der ländlichen, muß sie immer eifrigere Fürsprecher finden; die Hygiene muß den Sinn für reine, frische, gute Luft in unserem Volke immer mehr wachrufen; die städtische Stellenvermittelung muß sich mit ihrer ländlichen Schwester in innigere, planvollere Verbindung setzen; die Erziehung unserer wandernden Gesellen zur Landarbeit, die wichtige Aufgabe unserer Arbeiterkolonien, muß einen noch größern Umfang annehmen, und es wird dann endlich die Zeit immer mehr die Täuschung des Landbewohners über so viele vermeintliche Vorzüge unserer Großstädte beseitigen.

Zum Schluß mag auf die große Einbuße an Lebensfreude und Lebensfrische hingewiesen werden, welche das Großstadtleben für unsere Kinder und unsere heranwachsende Jugend bedeutet. Der Trieb, in der freien Natur herumzuschweifen, über Berg und Thal zu streichen, sich auszulaufen und in Wiese und Wald auszutoben, ist so recht eine Mitgabe unserer jüngeren Jahre. Und da steckt nun so ein kleiner lebendiger Knirps zwischen den hohen Häusern; auf den Straßen darf er nicht herumtollen; die Stadtanlagen stehen unter dem Schutze des Publikums und dies hat sich gegen die kleinen Störenfriede verbündet; die Promenaden vor der Stadt haben die Erwachsenen für sich in Beschlag genommen und allzuweit darf der Junge sich nicht entfernen. So bleibt ihm oft nur der enge Hof für seine kindlichen Spiele, sein Jagen und Springen. Man erzählt sich von Großstadtkindern, die noch nie ein Kornfeld gesehen haben. Das Gewissen unserer Großstädte ist indessen in dieser Beziehung schon erwacht. Grade jetzt ist die Zeit, wo edle Gemeinnützigkeit Tausende von schwächlichen Stadtkindern in ländliche Ferienkolonien sendet. Städter und befreundete Landbewohner pflegen jetzt häufiger ihre Kinder für längere Zeit gegenseitig auszutauschen; die Stadtverwaltung bringt ihre unglücklichsten Pfleglinge, die verwaisten und verwahrlosten Kinder mit Vorliebe bei wackeren Bauernfamilien unter, statt sie in städtische Waisenanstalten zu stecken. Dem Verfasser dieser Zeiten ist einmal die Stiftung einer Dorfschule zu Gesicht gekommen, nach deren Satzungen die Dorfkinder einmal jährlich in die nahe Großstadt geführt werden sollen; wahrlich, unsern armen Stadtschülern thut es mehr noth, daß ihnen regelmäßige Ausflüge aufs Land durch Stiftungen ermöglicht werden!