Zum Verständniß der Ereignisse in Aegypten

Textdaten
<<< >>>
Autor: Adolf Ebeling
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Zum Verständniß der Ereignisse in Aegypten
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 31-33, S. 516-519, 534-536, 540-543
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[516]

Zum Verständniß der Ereignisse in Aegypten.

Von Adolf Ebeling.

Die eisernen Würfel sind gefallen, und die Macht der Mächtigen hat sich wieder einmal schreckliche Geltung verschafft: Alexandria liegt zum großen Theil in Schutt und Trümmern, und über den verschont gebliebenen Theil, soweit derselbe der Plünderung und Zerstörung entgangen ist, lagern die düstern Wolken einer bangen Zukunft. Ganz Aegypten ist mehr oder weniger der Anarchie anheimgefallen; denn die Militärherrschaft Arabi’s, die überdies auf äußerst schwachen Füßen steht, verdient kaum einen anderen Namen, und Niemand weiß, wer zur Zeit der eigentliche Herr im Lande ist, ob der Khedive oder der Sultan oder gar jetzt der Engländer, der verhaßte „Inglesi“, der gar nicht gesonnen zu sein scheint, die über Nacht errungenen Vortheile so leichten Kaufs wieder aus der Hand zu geben.

Man fragt sich wohl, wie es überhaupt möglich gewesen, daß es dahin gekommen ist, und steht in mehr als einer Beziehung einem Räthsel gegenüber, welches die Zeitungen sehr unvollkommen lösen – trotz ihrer Unzahl von Artikeln, die sich fast durchweg nur mit den Ereignissen der Gegenwart, nicht aber mit der Entwickelung dessen beschäftigen, was heute im Nillande geschieht. Etwas zur Lösung dieses Räthsels beizutragen, ist der Zweck dieser Artikel.

I.

Die ganze ägyptische Frage ist im Grunde nur eine Geldfrage; aber in höchster Potenz; denn es handelt sich um viele tausend Millionen Franken, und der eigentliche Schuldige (richtiger wäre wohl der Schuldner) sitzt auf seinem Lustschlosse Favorita bei Neapel mit seinen glücklich auf die Seite gebrachten Millionen, seinen Diamanten und seinem Harem, wobei ihm, wie man behauptet, der letztere die meisten Sorgen machen soll – nämlich der Ex-Khedive Ismaïl Pascha. Dieser trägt völlig und ganz die Verantwortlichkeit für die augenblickliche verzweifelte Lage Aegyptens, und an seinem armen gutwilligen, aber schwachherzigen Sohne Tewfik, dem jetzigen Khedive (wenn er es überhaupt noch ist), erfüllt sich wieder einmal das ernste Wort von den Sünden der Väter, die heimgesucht werden an den Kindern.

Die ägyptische Finanzmisere, die später so kolossale Dimensionen annahm, datirt schon vom Jahre 1869, dem „großen Jahr“ der Regierung Ismaïl’s, wie die bezahlten Federn damals in alle Welt hinausschrieben; es war das Jahr der Eröffnung des Suezcanals. Ein solches Schauspiel hatte die Menschheit noch nicht gesehen, und der Vicekönig genoß den Triumph, der generöseste und geldmächtigste Fürst der Welt genannt zu werden. Die moderne Kleopatra, die Kaiserin Eugenie, spielte dabei die Hauptfigur; man hatte eine große eiserne Brücke schlagen lassen, und gegen 20,000 Fellachen hatten in dreimonatlichem Frohndienst einen mehrere Kilometer langen Erdwall aufwerfen müssen, blos damit die hohe Dame directen Weges nach den Pyramiden fahren konnte. Dieser Triumph, der überdies nur eine kurze Woche dauerte, kostete dem Khedive Alles in Allem hundert Millionen Franken, und auch das war schon fremdes, gegen Wucherzinsen geliehenes Geld, wobei die vermittelnden jüdischen Banquiers von Kairo und Alexandria etwa 20 Procent und mehr in die Tasche steckten. In jene Summe ist freilich eine halbe oder gar eine ganze Million Pfund Sterling mit einbegriffen, die der stets geldbedürftige Sultan erhielt, um über das prätentiöse und allzu eigenmächtige Gebahren seines „Vasallen“, der völlig als Souverain auftrat, ein Auge zuzudrücken.

Von da an ging es lawinenartig immer mehr bergab, dem Abgrunde zu. Der damalige Finanzminister, der berüchtigte Muffetisch, das andere Ich des Khedive und der eigentliche Machthaber im Lande, sann Tag und Nacht auf neue Hülfsquellen, [517] um die leeren Cassen wieder zu füllen, und verfiel dabei auf alle nur erdenklichen Mittel. Die Steuerschraube wurde noch fester eingesetzt, obwohl das arme Volk schon bis auf’s Blut ausgesogen war, was wörtlich zu nehmen ist; denn die Abgaben gingen nur noch mit Beihülfe der Bastonnade ein, die im ganzen Lande in ununterbrochenem Flor stand und nur zum Schein in den beiden Hauptstädten aus Furcht vor den Generalconsuln unterdrückt war.

Auch die Vorauszahlung der Steuern auf ein halbes, dann auf ein ganzes Jahr war beliebt worden; sie sollte aber erst nach fünf Jahren rechtsgültig werden, sodaß durch dieses Manöver eigentlich doppelte Steuern gezahlt wurden. Auch eine sogenannte freiwillige Anleihe für alle Besitzenden wurde im Lande ausgeschrieben, und wer zögerte, nicht gutwillig gab und sich dadurch als ungefügiger Unterthan erwies, für den hatte man nach orientalischer Manier allerlei Mittel und Wege, ihm das Leben so sauer wie möglich zu machen. Die Anleihe sollte unkündbar sein, aber mit acht Procent verzinst werden; man hätte leicht das Doppelte versprechen können, da man doch nicht die Absicht hatte, die Zinsen zu zahlen, was sich auch bald genug herausstellte. Dabei wurden an den Börsen von Paris und London verschiedene neue ägyptische Anleihen angelegt, aber die dortige hohe Finanzwelt war schwierig geworden, witterte Unheil und ließ sich ihre Bereitwilligkeit horrend bezahlen.

Im Hintergrunde dieser abenteuerlichen Jagd nach dem Mammon stand inzwischen nach wie vor der nimmersatte Großherr in Stambul, der den gesetzlichen Jahrestribut von 160,000 Beuteln (gegen 20 Millionen Franken) schon wie gewöhnlich vorweg erhalten hatte und unter allerlei Vorwänden immer neue Summen verlangte; je mehr er bekam, desto mehr verlangte er. Die hohen Zinsen für die Staatsschuld, die schon damals über 2 Milliarden Franken betrug, absorbirten den größten Theil der gesammten Staatseinnahmen, und die Bekämpfung der furchtbaren Nilschwelle vom Jahre 1874, welche Mißwachs, Viehsterben und Pferdeseuche im Gefolge hatte, verschlang neue Summen.

Und trotzdem wäre es bei der außerordentlichen Ertragsfähigkeit des Landes und unter Hinzunahme des unermeßlichen Privatvermögens des Khedive, das, gering angeschlagen, 8 bis 10 Millionen Pfund Sterling betragen soll, doch vielleicht noch möglich gewesen, das Schlimmste abzuwenden und eine einigermaßen befriedigende Bilanz des Budgets herzustellen, wenn nur der Khedive seinen verschwenderischen Hofhalt und seine unsinnigen Anlagen und Bauten beschränkt und vor Allem das Brandschatzungssystem in den einzelnen Provinzen von Seiten der Gouverneure unterdrückt hätte. Aber das Erstere erlaubte ihm seine Eitelkeit und Prachtliebe nicht, und zu dem Letzteren fehlte ihm die persönliche Energie und die Unterstützung uneigennütziger Vaterlandsfreunde.

Die Vicekönigin-Mutter (um nur einige „Kleinigkeiten“ im Vorübergehen zu erwähnen) bezog nach wie vor monatlich ihre 100,000 Franken; die an Mansur-Pascha verheirathete Lieblingsschwester des Gewaltigen erhielt eine gleiche Summe, und der Unterhalt seiner eigenen Harems verschlang monatlich mehr als das Zehnfache jener Summe; denn er hatte vier legitime Gemahlinnen, was bekanntlich der Koran gestattet, und mithin vier besondere Hofhaltungen, da jede Gemahlin einen besonderen Palast bewohnte und zwar jede mit einer hohen und niederen Dienerschaft von wenigstens zweihundert Personen an Frauen, Sclaven, Sclavinnen, Eunuchen etc. Und dabei kamen noch immer in Alexandria zur Ausstattung der neuen, wenn auch erst halbfertigen Paläste, ganze Schiffsladungen von Pariser Luxusmöbeln, von Lyoner Sammet- und Seidenstoffen an, Porcellan- und Krystallservice, goldene und silberne Tafelgeräthe u. dergl. m., und Alles zu dreifach höheren Preisen. Eine einzige solcher „Commissionen“ hat damals manchen Agenten zu einem vermögenden Manne gemacht.

Aber auch am Nil geht der Krug nur so lange zum Wasser, bis er bricht, und der erste Krach geschah am 9. April 1876, wo ein vicekönigliches Decret die Zinsen der Staatsschuld eigenmächtig auf fünf Procent herabsetzte und außerdem die Zahlung der fälligen Coupons um sechs Monate hinausschob. Das war, wie Talleyrand vom russischen Feldzuge prophezeite, le commencement de la fin, der Anfang des Endes. Jetzt gingen auch dem Einfältigsten die Augen auf, und die Optimisten, die bis dahin die schreienden Mißbräuche der Finanzverwaltung, zumeist wohl nur, um dabei im Trüben zu fischen, bemäntelt hatten, verschwanden von der Bildfläche. Jenes Decret sprach auch von einer speciellen Commission zur Reorganisation der Staatsfinanzen, zu welcher auch europäische Finanzcapacitäten hinzugezogen werden sollten, und zwar speciell englische und französische. Was damals dem großen Publicum als ein freier Entschluß des Landesherrn zu einer endlichen Reform erschien, war es schon nicht mehr; die Engländer und Franzosen, als Hauptgläubiger Aegyptens, hatten sie dem Khedive einfach octroyirt: willst Du nicht gutwillig, um den Schein Deines Hoheitsrechtes zu wahren, so kommen wir, ohne Dich weiter zu fragen.

Hier ist es nöthig, auf die von jeher in Aegypten herrschende Rivalität zwischen den Franzosen und Engländern hinzuweisen, die von Jahr zu Jahr, wo die Frucht reifer und reifer wurde, immer mehr hervortrat; denn Jeder hätte sie gar zu gern für sich allein gepflückt. Beim Khedive selbst war übrigens längst eine Sinnesänderung zu Gunsten der Engländer eingetreten, und natürlich [518] zeigte sich an seinem Hofe eine ähnliche Strömung. Früher waren die Franzosen die tonangebenden Factoren gewesen, und die Vorliebe des Khedives für Paris und Frankreich und überhaupt für französisches Wesen zeigte sich überall. Zunächst erklärte sich dieselbe wohl aus einer alten Familientradition; denn Mohammed Ali, der Gründer der jetzigen Dynastie und der eigentliche Schöpfer des heutigen Aegyptens, hatte stets einen treuen Bundesgenossen an Frankreich gehabt, das nur in den dreißiger Jahren unter Ludwig Philipp nicht stark genug war, um ihn gegen England und die Türkei zu schützen. Auch Saïd Pascha, der Vorgänger Ismaïl’s, hatte viele Franzosen an seinen Hof gezogen und viele Beamtenstellen mit Franzosen besetzt; Ismaïl selbst hatte sich seine europäische Bildung aus Paris geholt, wo er als junger Prinz mehrere Jahre zubrachte. Diese „Bildung“ bestand freilich nur in einem äußerlichen Firniß, aber er hatte sich doch die Kenntniß der französischen Umgangssprache und seine gefällige Formen und Manieren angeeignet.

Nach seiner Thronbesteigung im Jahre 1863 – ein Ausdruck, der, nebenbei bemerkt, in Stambul für den Regierungsantritt des Vicekönigs von Aegypten sehr stark verpönt ist – wurde Alles an seinem Hofe auf französischen Fuß eingerichtet, und, wo es irgend thunlich war, in genauer Copie des Tuilerienhofes, was in Europa und speciell in Paris oft große Heiterkeit erregte. Sogar ein Oberceremonienmeister wurde ernannt, der anfangs etwas unbeholfen war und eine auffallend dunkle Gesichtsfarbe hatte. In allen Ministerien wurde neben der türkischen, als amtlichen Sprache, auch die französische eingeführt, und am Hofe gab es, vom Cabinetssecretär bis zu den Kammerdienern und Mundköchen hinab, fast nur Franzosen.

Napoleon der Dritte war das Ideal des neuen Vicekönigs, und der Kaiser, der damals noch ein mächtiger und gefürchteter Herr war, bewies ihm stets große Freundschaft und schlichtete auch die Differenzen, die England in der Suezcanalfrage mehrfach anregte, stets zu seinen Gunsten. Das ägyptische Volk (natürlich nur die höheren Classen, denn die Fellachen „zählen“ nicht) war nicht sonderlich erbaut von der französischen Wirthschaft, und als der Khedive gar ein pompöses Opernhaus nach Pariser Stil erbauen ließ und einen Hoftheaterintendanten ernannte, der sofort ein Balletcorps und die Schneider als „schöne Helena“ verschrieb, da regte sich bei den glaubenstreuen Ulemas der Groll gegen dieses abscheuliche christliche Gebahren und mehr als einmal soll in der Nacht Feuer an das gottlose Gebäude gelegt worden sein. Man schickte aber trotzdem einen eleganten viceköniglichen Dampfer nach Marseille, um das Balletcorps zu holen und die Schneider dazu; die hübschen Damen (man hatte nur hübsche ausgesucht) verlebten in Kairo gute Tage.

Einige Operntexte, darunter auch derjenige der „Schönen Helena“, wurden sogar in das Arabische übersetzt und in der Staatsdruckerei von Bulacq gedruckt, um den Paschas und den übrigen vorurtheilsfreien Mohammedanern das Verständniß der schönen abendländischen Dichtungen zu erleichtern. Monsieur Offenbach war der Mozart von Kairo geworden, und die jungen Efendis trillerten in den öffentlichen Gärten seine leichten, losen Melodien und machten auch Fensterpromenade vor den Häusern der Sängerinnen. So zog immer mehr „abendländische Cultur“ in Aegypten ein – ob die richtige und heilsame, ist freilich eine andere Frage.

Es ließen sich noch eine Menge Beispiele citiren, als Beleg dafür, wie Ismaïl Pascha seine culturhistorische Mission auffaßte, darunter viel lustige und bunte und auch oft skandalöse Geschichten, doch das würde uns zu weit führen, zumal wir ja nur einen flüchtigen Blick auf die Vergangenheit werfen wollen, um daraus die Gegenwart zu erklären.

Eines schönen Tages war es plötzlich mit dem herrschenden französischen Einflusse vorbei, nämlich im Kriegsjahre 1870, wo den Franzosen von den Deutschen so bös heimgeleuchtet wurde: Schlacht auf Schlacht und Niederlage auf Niederlage für die Franzosen, der Kaiser geächtet und gefangen, der stolze Tuilerienthron umgestürzt, die Kaiserin, die schöne Kleopatra vom vorigen Jahre, in niederer Verkleidung aus Paris geflüchtet und in Paris selbst die Republik proclamirt – unglaublich, aber wahr!

Jetzt kam Deutschland zu hohen Ehren am viceköniglichen Hofe, und der deutsche Generalconsul, der unvergeßliche Herr von Jasmund, war dort auf einmal die bedeutendste diplomatische Figur geworden, Bismarck der erste Staatsmann und Moltke der erste Feldherr seiner Zeit. Die französische Colonie in Aegypten verlor augenscheinlich viel von ihrem bisherigen hochfahrenden Wesen, und die Deutschen, die schon wegen ihrer geringen Anzahl niemals eine hervorragende Rolle am Nil gespielt hatten, gingen ruhig wie sonst ihren Geschäften nach, wenn auch nicht ohne eine gewisse innere Befriedigung über die vermehrte Achtung und Bewunderung, die ihnen von allen Seiten entgegen getragen wurde.

Zu gleicher Zeit traten die Engländer mit sehr viel Aufsehen in den Vordergrund. Ihre Colonie, obwohl bei weitem nicht so zahlreich wie die französische, war schon seit Jahren in Aegypten sicher und gut etablirt, und ihre Banken, Handelshäuser und Agenturen, die letzteren für den Export der Baumwolle nach England und für den Import aller möglichen Waaren aus Indien, hatten mehr als andere den Ruf großer Solidität. Außerdem waren an allen Instituten und Etablissements, die zum Maschinenwesen gehörten, Engländer angestellt, sowohl auf den Eisenbahnen und Dampfschiffen wie auch bei den Wasser- und Schleusenwerken, und ganz speciell in den viceköniglichen Zuckerfabriken, deren Leitung sich ganz in ihren Händen befand. Seit Eröffnung des Suezcanals war der Zuzug der Engländer noch bedeutender geworden, wie sie auch von jeher das namhafteste Contingent an Nilreisenden geliefert hatten. Abenteurer, Stellensucher, Projectenmacher und sonstige Schwindler, von denen es im Pharaonenlande stets wimmelte, gab es unter den Engländern so gut wie gar nicht, wenigstens nicht unter den eigentlichen Engländern; denn die Malteser und etwa noch die Griechen von den ionischen Inseln gehören zu den schlimmsten Subjecten der buntgemischten Bevölkerung der großen ägyptischen Städte, einer Musterkarte aller Nationalitäten der Erde.

So hatten die Engländer also schon im Stillen gut vorgearbeitet und als praktische Leute, die sie ja von jeher gewesen sind, das Terrain nicht allein genau recognoscirt, sondern schon zum Theil im Stillen besetzt, als nach dem oben erwähnten viceköniglichen Decret der Ruf an sie erging, in den engeren Rath des Khedive zur Theilnahme an der Finanzreform einzutreten. Von da an datirt ihr officielles Mitregieren, und sie betrachteten sich schon als die Herren des Nillandes wie zu Anfang dieses Jahrhunderts in Indien. Die Franzosen wurden möglichst bei Seite geschoben, was sie sich wider ihren Willen gefallen lassen mußten. Ganz ignoriren durfte man sie nicht, um sie sich nicht vor der Zeit zu Feinden zu machen und auch um den Khedive nicht vor den Kopf zu stoßen, aber sie nahmen immer nur die zweite Stelle ein, und in streitigen Fällen gaben die Engländer stets den Ausschlag.

Es kamen nun allerlei englische und französische Finanzcommissäre in’s Land, der französische indeß stets im Schlepptau des englischen, und die Enquête begann. Derselben präsidirte der Generalzahlmeister der englischen Armee, jedenfalls ein bewährter Finanzmann, der aber trotzdem von dem schlauen Muffetisch, den der Khedive nicht entlassen wollte, dergestalt hinter’s Licht geführt wurde, daß der Rapport ganz illusorisch ausfiel. Der darauf folgende Commissar Göschen setzte wenigstens die Entfernung des allgemein verhaßten Finanzministers durch, dessen sich der Khedive denn auch endlich und zwar in echt orientalischer Weise entledigte. Auf der Spazierfahrt, wie er sie täglich mit seinem Freund und Günstling machte, besichtigten sie ein restaurirtes Dampfschiff und beim Fortgehen – die Befehle waren schon vorher gegeben worden – wurde der Muffetisch einfach am Bord zurückgehalten. Alles Weitere beschränkt sich auf Gerüchte. Nach den Einen soll der Minister sofort erdrosselt worden, nach Anderen unterwegs (denn er war nach Dongola in Nubien exilirt worden) plötzlich an einem heftigen Cholera-Anfalle gestorben sein. Gleichviel, der Khedive hatte ihn, ein zweiter Ollivier, „leichten Herzens“ beseitigt. Dergleichen geschieht heutzutage noch oft im Orient, und es kräht kein Hahn darnach. Wie viele solcher Gräuel mögen die hohen Haremsmauern in Kairo, Stambul oder sonstwo bergen! Und wurde nicht bald darauf der Sultan Abdul-Asiz mit der ominösen Scheere „geselbstmordet“?

Am nächsten Morgen enthielt die amtliche Zeitung, „le Moniteur égyptien“, die Nachricht von einer entdeckten Verschwörung, an deren Spitze der Muffetisch gestanden habe und die keinen geringeren Zweck hatte, als den Khedive zu stürzen und Halim Pascha auf den Thron zu setzen. Obwohl der Minister [519] als Hochverräther den Tod verdient, so habe der Khedive doch Gnade für Recht ergehen lassen und ihn nur nach Dongola in’s Exil geschickt. So der „Moniteur“, dem natürlich kein vernünftiger Mensch glaubte, aber alle Welt athmete doch auf, weil der Quälgeist des Landes beseitigt war. Das Wie war dabei ja gleichgültig.

Das Vermögen und die Güter des Muffetisch wurden sofort confiscirt – das war die Hauptsache. Man sprach von unermeßlichen Summen, unter Anderem von mehr als hunderttausend Goldstücken, die man in eisernen Kisten vorgefunden habe, was recht gut möglich sein konnte. Das Gold- und Silbergeschirr seines Hausraths und die in seinem Harem vorgefundenen Juwelen wurden auf viele Millionen Franken geschätzt – Alles erklärte der Khedive für gute Prise. Von den vierhundert Sclavinnen wurden die sechs schönsten Circassierinnen dem Sultan nach Constantinopel geschickt; dann traf der Khedive seine Auswahl, und die übrigen wurden nach rechts und links hin verkauft. Und dabei war der Sclavenhandel, dank den humanen Gesinnungen des Khedive, in ganz Aegypten längst unterdrückt, wie man beständig nach Europa hin meldete.

Mittlerweile hatten die Engländer, ganz im Geheimen und hinter dem Rücken der Franzosen, einen geschickten, und wichtigen Coup gemacht: sie hatten nämlich dem Khedive seine sämmtlichen Suezcanalactien für vier Millionen Pfund Sterling abgekauft. In England befanden sich dadurch mehr als zwei Drittel sämmtlicher Actien, also das bedeutendste Anrecht auf den Besitz des Canals. Als darauf die Finanzcommissäre ihre fast nutzlose Enquête beendigt hatten, war es den Engländern bei ihrem stets Wachsenden Einfluß leicht, in alle großen Administrationszweige englische Directoren einzusetzen: bei den Eisenbahnen, bei der Douane, bei der Verwaltung der directen und indirecten Steuern, beim Post- und Telegraphendienst, und vor Allem bei der Staatsschuldentilgungscommission, sodaß in erster Reihe das Finanzministerium so gut wie ganz lahm gelegt wurde.

Das war die Zeit der sogenannten Generalcontrolleure, eine schöne Zeit wenigstens für die Controlleure selbst, deren jeder 4000 Pfund Sterling Jahresgehalt bezog, den sie sich, weil sie die Hände auf allen Cassen hatten, auch immer vorweg auszahlten. Diese Controlleure zogen ein ganzes Heer von Unterbeamten in’s Land, die alle reichlich besoldet waren, pro forma immer im Einverständniß und unter Mitwirkung der Franzosen, aber unter vier Beamten gab es stets drei englische und nur einen französischen. Factisch waren also die Engländer schon jetzt, das heißt zu Anfang des Jahres 1877 die Herren von Aegypten; es sollte freilich noch ein Rückschlag eintreten, aber vor der Hand verhielt sich der Khedive passiv und übte nominell eine Art Scheinregierung aus, die seiner Eitelkeit und seinen Souverainetätsgelüsten schwer genug ankommen mußte. Schon damals sprach man von seiner Abdankung zu Gunsten seines ältesten Sohnes; ob er selbst diesen Gedanken je gehegt und erwogen, sticht sehr dahin; denn im Orient steigt man noch seltener freiwillig vom Regentenstuhl herab, als im Occident, obwohl auch dafür die gewaltsamen Entthronungen dort weit häufiger sind. Das sollte der Khedive Ismaïl nur zu bald an sich selbst erfahren.

[534]
II.

Das Institut der Generalcontroleure gab, wie wir gesehen haben, der Autorität des Khedives Ismaïl einen gewaltigen Stoß, aber von einem durchgreifenden Nutzen für das Land ist es nicht gewesen und konnte es, schon der Persönlichkeiten wegen, aus denen es zusammengesetzt war, nicht sein. Dieser letztere Punkt ist schon deshalb wichtig, weil er nicht allein den Haß der Aegypter gegen die Engländer und gegen alles englische Wesen erklärt, sondern auch denjenigen Recht giebt, die bezweifeln, daß gerade die Engländer jetzt berufen sein sollten, das Land zu organisiren und einer glücklichen und ruhigen Zukunft entgegenzuführen. Auf ihre Weise wohl, wie wir das in Indien gesehen und noch täglich sehen können, und zwar etwa folgendermaßen: Dem völlig von ihnen abhängigen Khedive wird eine Civilliste und ein kleiner Hof gewährt, im Uebrigen das Land von englischen Beamten verwaltet und regiert, dabei jede nationale Regung und vollends jedes Streben nach Selbstständigkeit mißachtet und unterdrückt, aber die Productionskraft des Landes, durch geschickte Benutzung aller Hülfsquellen, auf’s Höchste angespannt, um so viel Geld wie nur irgend möglich daraus zu machen – das war mit zwei Worten ungefähr das Programm, welches der englischen Controle zu Grunde lag, oder wie es doch vom ägyptischen Volke aufgefaßt wurde. Von da bis zur völligen Umwandlung Aegyptens in eine englische Provinz war nur ein Schritt, mit dem es vor der Hand noch nicht drängte.

Frankreich kam, wie wir wissen, immer erst in zweiter Reihe; England hätte es gern ganz abgeschüttelt, aber die finanziellen Interessen Frankreichs in Aegypten erlaubten dies nicht und die Politik noch weniger. Doch wer weiß, ob nicht schon damals ein leiser Wink vom Londoner Cabinet nach Paris gefallen ist, der den Franzosen ungestörte Freiheit in Tunis verhieß, um sie von Aegypten abzulenken. Brachte doch die „Times“ in jener Zeit einen sehr charakteristischen Artikel über die Nothwendigkeit einer vollständigen Christianisirung des ganzen nördlichen Afrikas, wobei Marokko Spanien, Tripolis Italien und Tunis Frankreich zugesprochen wurden. Der Löwenantheil, Aegypten, blieb unberührt, aber ein Kind konnte zwischen den Zeilen lesen, daß derselbe England zufallen müsse. Und das hauptsächlich wegen des Suezcanals, der großen Fahrstraße mach Indien, auf die England so gern die alleinige Hand legen möchte, wobei freilich in Betracht kommt, daß von zehn den Canal passirenden Schiffen neun englische sind. So lange der Suezcanal im Entstehen war, wurde das Werk von England bekämpft, einestheils, weil der kurzsichtige Palmerston die Ausführung für unmöglich hielt, und anderntheils, weil er daraus Verwickelungen mit der Türkei befürchtete – jetzt, wo der Canal vollendet ist und sich längst bewährt hat, erheben die Engländer den Hauptanspruch darauf: das ist englische Politik. Doch kehren wir zur Lage Aegyptens im letzten Regierungsjahre Ismaïl Pascha’s zurück!

England und Frankreich, als die bedeutendsten finanziellen Interessenten, hatten ihm, schon im August 1878, außer den Generalcontroleuren und dem damit verbundenen Beamtenheere, auch noch ein Ministerium ihrer Façon aufoctroyirt, das er sich, wie alle übrigen Maßregeln, gefallen lassen mußte.

In diesem Ministerium figurirte, um den Schein zu wahren, Nubar Pascha als Präsident, aber die Finanzen hatte der Engländer Rivers Wilson und das Innere der Franzose Blignières übernommen. Wilson war mithin die eigentliche Seele des Cabinets; denn er hatte die Hand auf dem Staatssäckel und sorgte für die richtige Zahlung der Coupons, die allein für die consolidirte Schuld 800,000 Pfund Sterling pro Semester betrugen, aber auch für nichts weiter. Man erstaunt, wie es bei der allgemeinen finanziellen Zerrüttung Aegyptens überall noch möglich war, so ungeheuere Summen aufzubringen; es geschah indeß auch nur durch Aufwendung der gesammten Steuerkraft des unglücklichen Landes. Alle sonstigen Zahlungsansprüche blieben gänzlich unberücksichtigt, auch die berechtigtsten, und dazu gehörten doch in erster Reihe die Beamtengehälter für Civil und Militär; nur die fremden Beamten bezogen nach wie vor pränumerando ihre immensen Besoldungen.

Daß nicht schon damals eine Revolution ausbrach, hat einfach seinen Grund in dem sanften und schüchternen ägyptischen Volkscharakter, vielleicht auch darin, daß sich kein energischer Führer vorfand, um sich an die Spitze der Unzufriedenen zu stellen. Dieser Führer (Arabi) existierte aber schon; nur wagte er noch nicht hervorzutreten; denn die Zeit seiner „erlösenden Mission“ war noch nicht gekommen.

Daß der Khedive ingrimmig war über seine Lage und die ihm aufgedrängte Vormundschaft abzuschütteln suchte, liegt auf der Hand, er war aber doch schon zu sehr abendländisch civilisirt, das heißt zu klug, um es mit einer Tasse Kaffee zu versuchen, dem gewöhnlichen Mittel im Orient, sich unliebsamer Leute, denen man sonst nicht beikommen kann, zu entledigen; er entschied sich daher für einen anderen Weg, nämlich für einen Staatsstreich, und die Gelegenheit dazu war wirklich nicht ungünstig. Das Ministerium hatte, um Ersparnisse zu machen, den Effectivbestand der Armee um 10,000 Mann vermindert und in Folge dessen gegen 1200 Officiere aller Grade entlassen; an sich keine üble Maßregel, vorzüglich wenn man sie einige Jahre früher ausgeführt hätte, in jenem Moment aber ein kopfloser, schlimmer Gewaltstreich und zwar um so mehr, als man gar nicht daran dachte, den guten Leuten ihren rückständigen fünfzehn- und zwanzigmonatlichen Sold auszuzahlen.

In wie weit der Khedive dabei die Hand im Spiele gehabt, ist niemals aufgeklärt worden; sehr wahrscheinlich ist es indeß, daß er die revoltirenden Officiere im Geheimen hatte ermuthigen lassen; genug, eines schönen Morgens, im Frühjahr 1879, wachte die Stadt Kairo mit einer kleinen Revolution auf. Tausende von Soldaten und mehrere hundert Officiere zogen lärmend durch die Stadt nach dem Abdin-Palast, um beim Khedive Schutz gegen das Ministerium zu verlangen und zugleich ihr Geld, auf das man sie seit Jahr und Tag vertröstet hatte. Als die Tumultuanten am Finanzministerium vorbeikamen, wollte es ein unglücklicher Zufall, daß die Minister sich gleichfalls zu einer Sitzung dorthin begaben, und nun wurde die Sache ernst. Nubar wurde zuerst aus dem Wagen gerissen und dergestalt gemißhandelt, daß fast sein Leben in Gefahr kam, und den Herren Wilson und [535] Blignières erging es wenig besser, bis sich einige besonnenere Officiere in’s Mittel legten und die geängsteten Excellenzen in das Gebäude hineinschafften, wo sie streng bewacht wurden. Dann schickte man eine Deputation ab, um den Khedive zu holen. Ismaïl, der von dem Muthe seines Großvaters wenig geerbt hatte, zögerte anfangs; denn sein Gewissen war nicht rein, aber er ließ sich doch durch einige schnell herbeigeeilte Generalconsuln, unter denen sich auch der deutsche befand, bestimmen, hinzufahren.

Er wurde von der Soldateska mit dem lauten Zurufe empfangen: „Allah schenke Dir tausend Jahre!“

Geld, viel Geld wäre ihm jedenfalls ein willkommeneres Geschenk gewesen – und gleich darauf erklärte er vom Balcon des Palastes, daß alle gerechten Ansprüche berücksichtigt werden sollten etc. Pro forma wurden einige der Haupträdelsführer verhaftet, aber schon nach einigen Tagen wieder freigegeben; das Ministerium reichte seine Entlassung ein, und der Khedive hatte jetzt freie Hand, oder glaubte wenigstens, sie zu haben. Er erließ verschiedene Proclamationen, in welchen er an den Patriotismus der Aegypter appellirte, ein volksthümliches Ministerium verhieß und nur in der Volkspartei seine Stütze finden wollte. Das ägyptische Volk staunte mit Recht über diese Sprache, für die es gar kein richtiges Verständniß hatte; die Fellachen, die bis dahin immer nur Prügel erhalten hatten und zahlen mußten, waren auf einmal die guten Freunde des „Efendina“ geworden und sollten sogar neue Vertreter nach Kairo schicken; denn auch von einer Wiedereinberufung der sogenannten Notabeln, der lächerlichsten aller Komödien der Ismaïl’schen Regierung, war in jenen Proclamationen die Rede. Nur das Eine leuchtete auch dem letzten Fellachen ein: die Nützlichkeit der Beseitigung der fremden Minister und ihres Anhangs, vornehmlich der verhaßten „Ingilis“ – denn bis in das kleinste Dorf hatte sich bereits ihr Einfluß geltend gemacht, und wenn der Mudir (der Gouverneur) dem Kaimakam (dem Untergouverneur) und dieser dem Schech el Beled (dem Dorfschulzen) das strenge Eintreiben immer neuer Steuern gebot, wobei natürlich jeder von ihnen sein Schäfchen im Stillen schor, so sagte der Letztere stets zu den Fellachen: „Der Ingilis hat es so befohlen, und Efendina muß gehorchen.“

Ein Efendina, der gehorchen muß, das war den braunen Nilbewohnern im blauen Baumwollenhemde etwas Unerhörtes.

Aber Efendina mußte gar bald von ganz anderer Seite Befehle vernehmen und gehorchen. Der Staatsstreich, oder richtiger die in Folge desselben verheißene volksthümliche Regierung erwies sich als eitel Windbeutelei, ja die Gesammtlage des Landes war schon dergestalt zerrüttet und der Karren schon so tief festgefahren, daß es dem Khedive, selbst bei dem besten Willen, an dem man aber gründlich zu zweifeln berechtigt war, unmöglich gewesen wäre, jetzt noch ernstlich und durchgreifend zu reformiren. Dabei fehlte es ihm in dieser letzten entscheidenden Stunde, wie während seiner ganzen Regentschaft, an befähigten, energischen und vor Allem an uneigennützigen Männern. Sein Hauptminister und Intimus war ja von jeher der Muffetisch gewesen, und was der geleistet und wie ihm gelohnt wurde, haben wir bereits im vorigen Artikel gesehen. Höchstens wäre noch Nubar zu nennen, sein langjähriger Minister der auswärtigen Angelegenheiten, dessen diplomatischer Schlauheit er alle nach und nach in Constantinopel erlangten Zugeständnisse und Begünstigungen, darunter als die wichtigste die directe Erbfolge für seinen ältesten Sohn, zu verdanken hatte, freilich unter Aufwendung ungeheuerer Geldsummen zu Geschenken und zu Bestechungen im Betrage von vielen Millionen Pfund Sterling. Nubar Pascha war auch der Einzige, der seinem Herrn die Wahrheit sagen durfte, was im Orient noch weit mehr bedeuten will, als im Occident; als er dies aber auch in Bezug auf die unsinnige abessinische Expedition im Jahre 1875 gethan hatte, fiel er in Ungnade und wurde entlassen. Er zog sich in’s Privatleben und zwar nach Paris zurück, wie man sagte, mit einem Vermögen von über eine Million Pfund Sterling. Er war vor zwanzig Jahren als armer armenischer Schreiber nach Aegypten gekommen – das Prädicat „uneigennützig“ dürfte also schwerlich auf ihn passen. Nur durch England und Frankreich gezwungen, hatte ihn der Khedive nochmals als Minister angenommen.

Wir können uns hier auf eine Charakteristik der übrigen Minister nicht einlassen; denn das Gewitter, welches in seinem Schooße den Donnerschlag der Absetzung birgt, zieht schon herauf. Die Vertreter Englands und Frankreichs waren nämlich nicht müßig gewesen; sie hatten nach London und Paris den Verlauf der Dinge gemeldet, mit dem Bedeuten, daß sie unter den obwaltenden Umständen die Interessen der Gläubiger nicht mehr genügend vertreten könnten, worauf die beiden Cabinete eine identische Note an den Sultan schickten, mit dem Ersuchen, der tollen Wirthschaft am Nil durch einen souverainen Machtspruch ein schnelles Ende zu machen.

Die Pression von der Themse und Seine muß am Goldenen Horn sehr stark gewesen sein; denn wider Erwarten ging die Pforte diesmal von ihrem gewöhnlichen Verzögerungs- und Lavirsystem ab, und der Sultan, der noch vor kaum einem Monat große Summen aus Kairo erhalten hatte, um, wie gewöhnlich, ein Auge zuzudrücken, decretirte die Absetzung des unbotmäßigen Vasallen. Ob, wie damals allgemein das Gerücht ging, aus Varzin gleichfalls eine ernste Mahnung gekommen war, die sogar den Ausschlag gegeben haben soll, lassen wir auf sich beruhen; möglich ist es ja immerhin – und schon der Umstand spricht dafür, daß der deutsche Generalconsul der Erste war, welcher einen officiellen Protest bei dem neuen Ministerium einreichte.

Die Pforte war übrigens noch sehr gnädig gewesen, indem sie den Khedive unbehelligt abziehen ließ und ihn nicht zur Rechenschaft zog; aber sie mochte wohl ihre guten Gründe dazu haben; denn wenn der abgesetzte Vasall die volle Wahrheit gesagt hätte, so würde die Welt erfahren haben, daß der Hauptblutsauger Aegyptens von jeher der Sultan selbst gewesen, der Jahr für Jahr den an sich schon ungeheuren Tribut immer doppelt und dreifach empfangen, das heißt erpreßt hatte.

Kläglicher ist aber wohl selten ein entthronter Fürst abgezogen als Ismaïl Pascha; keine Hand erhob sich für ihn, nicht einmal zu einem Abschiedsgruß; keine Stimme der Theilnahme für ihn wurde laut, und die ihm am meisten verpflichtet waren, verließen ihn zuerst. Wie es im „Wallenstein“ heißt:

„Vom Staube hat er Manchen aufgelesen,
Zu hoher Ehr’ und Würden ihn erhöht,
Und sich nicht einen Freund damit erkauft,
Nicht Einen, der in Noth ihm Farbe hielt.“

Um ihm keine Demüthigung zu ersparen, mußten seine beiden Söhne, Hussein und Hassan, ihn in’s Exil begleiten; an dem Ersteren war nicht viel verloren, aber der Zweite hätte wohl ein besseres Loos verdient.

Er hatte als anerkannt tüchtiger Officier einige Jahre in Berlin bei den Garde-Dragonern gedient, seine militärischen Kenntnisse erweitert und auch sonst deutschen Ernst und deutsches Wesen kennen gelernt; er hätte mithin unter Leitung würdiger Männer, die nur leider in Aegypten so rar sind, seinem Vaterlande sehr nützlich werden können, aber der Herr Papa machte ihn sofort nach seiner Rückkehr zum Kriegsminister und zum Generalissimus der Armee, und diese Doppelwürde, über die man in Berlin gewiß gelächelt hat, berauschte ihn dergestalt, daß er von da an nur mehr noch den großen Herrn spielte und es wie die anderen seines Gleichen machte.

Ismaïl’s Nachfolger war sein ältester Sohn Tewfik (sprich: Taufik); denn der Sultan hatte doch nicht gewagt, den Firman vom 27. Mai 1866, der dem Khedive die directe Erbfolge zusicherte, umzustoßen, und das um so weniger, als gegen den jungen sechsundzwanzigjährigen Prinzen nichts Ungünstiges und nichts Mißtrauen Erweckendes vorlag.

Tewfik trat die schwere und verantwortliche Erbschaft muthig an und hatte jedenfalls den besten Wille, die Mißgriffe, Fehler und Verkehrtheiten seines Vorgängers nach Kräften wieder gut zu machen. Dies ehrenvolle Zeugniß wird ihm die Geschichte für seine ersten Regierungsjahre jedenfalls ausstellen, gleichviel ob seine Regentenlaufbahn schon geschlossen ist und er einem neuen Khedive Platz machen muß, oder ob er sich durch die augenblicklichen Wirren, deren Ausgang zur Stunde, wo wir dies schreiben, noch gar nicht abzusehen ist, glücklich durchkämpft.

Sein Hauptaugenmerk waren natürlich sofort die Finanzen; denn es mag hier nochmals wiederholt werden, daß die ägyptische Frage nichts als eine Geldfrage ist: die Capitalisten Europas, speciell Englands und Frankreichs, haben dem Lande ungeheuere Capitalien geliehen und verlangen jetzt ihr Geld zurück oder doch Sicherheit für pünktliche Zinszahlung und Amortisation. Alles Andere ist für die Gläubiger Nebensache; ob Tewfik, Arabi oder wer sonst Khedive ist, bleibt ihnen vollständig gleichgültig, wenn sie nur zu ihrem Gelde kommen. Was jetzt so viel in englischen [536] und französischen Blättern von der civilisatorischen Mission der beiden Großmächte in Aegypten geredet wird, sind Phrasen; England und Frankreich bestehen, wie der Jude Shylock, auf ihrem Schein, und auf dem englischen Schein steht außerdem noch der Suezcanal, den England gar zu gern für sich allein haben möchte.

Anfänglich ging auch Alles gut unter dem neuen Khedive, und es wäre noch bester gegangen, wenn nicht der abgesetzte Ismaïl von Italien aus fortwährend in Kairo und Alexandrien intriguirt hätte. Seine gut besoldeten Emissäre zogen umher und suchten die unteren Volksclassen aufzureizen, weniger gegen die Regierung selbst, als gegen die Europäer und speciell gegen die englisch-französischen Finanzcontroleure, die natürlich wieder ihre früheren Plätze eingenommen hatten. Ja, wer weiß, ob Ismaïl nicht schon damals die früheren geheimen Fäden mit der Militärpartei weitergesponnen hat, wo nicht gar mit Arabi selbst, dem trotz Allem der Exkhedive um vieles höher steht, als die verhaßten Inglisi und Frenzi.

Tewfik ließ sofort namhafte Ersparnisse eintreten, und, was große Anerkennung verdient, er begann damit in seinem eigenen Hause. Der frühere verschwenderische Hofhalt wurde eingeschränkt und die skandalöse Haremswirthschaft, die unter Ismaïl jährlich mehrere Millionen (nicht Franken, sondern Pfund Sterling!) verschlungen hatte, insofern abgeschafft, als der neue Khedive nur eine Gattin besaß und deren Hofstaat möglichst einfach einrichtete.

Die rückständigen Besoldungen wurden bezahlt, die Weiterführung der unter Ismaïl begonnenen kolossalen Bauten fast ganz eingestellt und die Mudirs in den Provinzen besser überwacht und controlirt, sodaß sie, wie eine alexandrinische Zeitung damals naiv bemerkte, doch nur mehr die Hälfte der eingegangenen Steuern bei Seite schaffen konnten. Das war etwas und jedenfalls ein guter Anfang; nur war die Noth zu groß, die unheilvolle Mißwirthschaft zu tief eingerissen, um schon in anderthalb Jahren überall ersprießliche Wandlung zu schaffen.

Auch der Charakter des neuen Khedive, seine frühere Erziehung und seine Anschauungsweise müssen dabei billig in Betracht gezogen werden. Tewfik ist ein strenggläubiger Mohammedaner, der alle Vorschriften des Korans, Gebete, Waschungen und Fasten, gewissenhaft beobachtet, und als solcher folgerichtig allem christlichen Wesen abhold ist.Er hatte als Prinz immer nur wenig Umgang mit Christen, und am wenigsten mit den vielen Franzosen am Hofe seines Vaters gehabt, was ihn freilich nicht verhinderte, sofort nach seiner Erhebung einen Franzosen, Godard Bey, einen anerkannt rechtschaffenen und verständigen Mann, zu seinem Cabinetssecretär zu machen; er war ferner nie in Europa gewesen und stand mit seinem Bruder Hussein, den er spöttisch den „Pariser“ nannte, auf gespanntem Fuße, und ähnlich mit Hassan, der von jeher die Engländer vorzog; er kennt beide Sprachen nur oberflächlich und spricht sie ungern; er tadelte es immer laut, daß in Ismaïl’s Umgebung und auf allen Ministerien und den höheren „Divans“ fast nur französisch gesprochen wurde. Erst später, als Khedive, hat er, aus Politik und der Nothwendigkeit nachgebend, sich mehr den Engländern und Franzosen zugeneigt, ohne dabei aufzuhören, dieselben, und vorzüglich die Ersteren, als seine ungestümen Dränger zu betrachten und als das peinlichste Element der ihm von seinem Vater überkommenen unseligen Erbschaft. Trotzdem wäre vielleicht doch noch Alles gut gegangen, wenn sich nicht in Aegypten selbst im Stillen eine Partei herangebildet hätte, die, von der Regierung anfangs unterschätzt, immer weiter und weiter um sich griff und plötzlich dem Throne als eine Macht gegenüber stand, mit der nicht allein ernsthaft gerechnet werden mußte, sondern die gar bald den Anschein gewann, als wolle sie die Herrschaft im Lande ganz an sich reißen. Das war die ägyptische Nationalpartei, wie sie sich anfangs nicht ohne eine gewisse Berechtigung nannte, mit dem Wahlspruch: „Aegypten für die Aegypter“, und das Haupt derselben trat jetzt aus dem Dunkel hervor und zwar in der Person des Obersten Arabi, der auch aus seinem Programm, das jenen Wahlspruch an der Stirn trug, gar kein Hehl machte. So wenigstens ist die erste Phase der Bewegung aufzufassen, die nur jetzt von gar Vielen übersehen wird, weil die späteren Ereignisse den Führer und seine Sache in einem ganz anderen Lichte erscheinen ließen.

Diese Ereignisse, die indeß zur Zeit noch keineswegs ein entscheidendes Endergebniß bieten können, dürfen wir wohl bei unsern Lesern als bekannt voraussetzen; wir werden deshalb in einem letzten Artikel die Bewegung nur von ihrer nationalen Seite beleuchten und die eigentlichen Ursachen ihrer Entstehung darlegen, und dies sowohl im Hinblick auf die augenblickliche Lage, wie auch auf die nächste Zukunft des ägyptischen Volkes.

[540]
III.

Die augenblickliche Volksbewegung im Pharaonenlande ist keineswegs ein Ergebniß der neuesten Zeit, sondern ihr Entstehen ist auf wenigstens vier, fünf Jahre früher zurückzuführen. Der Funke hat nur lange unter der Decke geglommen und im Stillen immer neue Nahrung gefunden, bis endlich aus dem angehäuften Brennstoff die helle Flamme hervorschlug; man kann mithin die bedrohlichen Anzeichen früherer Jahre mit dem unterirdischen Donner vergleichen, der dem Ausbruch des Vulcans vorhergeht.

Diese ersten directen Anzeichen traten bereits im Frühjahr 1877 hervor, wo auf einmal in Kairo das Gerücht ging, man habe unter den Studenten der Aszhar-Moschee eine Verschwörung gegen die christliche Bevölkerung Aegyptens entdeckt. Die Aszhar-Moschee ist die eigentliche Universität von Aegypten und zugleich die bedeutendste der ganzen islamitischen Welt. Nicht allein aus allen Gegenden Afrikas, sondern auch aus der Türkei, aus Syrien und Arabien, ja sogar aus dem fernen Indien und Mittelasien strömen dort die Studenten zu vielen Tausenden zusammen, um den Koran zu studiren und seine Auslegungen zu hören; denn darauf beschränkt sich das ganze Wissen der mohammedanischen Gelehrten. Durchschnittlich zählt die Universität zwischen 8000 bis 10,000 Studenten, die meist von den damit verbundenen Stipendien der Stiftungen leben und auch dort wohnen, natürlich nach orientalischer [541] Weise äußerst einfach, wo nicht ärmlich. Mit einer europäischen Universität ist deshalb die Aszhar-Moschee nach keiner Richtung hin auch nur im Entferntesten zu vergleichen.

In jenen Jahren nun waren dort zwei neue Ulemas aufgetreten, die sich durch ihre fanatischen antichristlichen Vorträge besonders hervorthaten und alsbald einen außerordentlich großen Zuhörerkreis um sich versammelten. Beide Lehrer verweilten vorzugsweise gern bei der Erklärung derjenigen „Suren“ (Capitel) des Korans, die, wie z. B. die siebenundvierzigste, vom Kriege gegen die Ungläubigen, speciell gegen die Christen handeln und wo es unter Anderem heißt: „Wenn ihr mit den Ungläubigen zusammentrefft, so schlagt ihnen die Köpfe ab, bis ihr eine große Niederlage unter ihnen angerichtet habt! Die so für die Religion Allahs kämpfen, wird Er in das Paradies leiten, das Er ihnen versprochen hat.“[1] Als man in den Regierungskreisen mehr zufällig von diesen Vorträgen hörte, bekümmerte man sich nicht sonderlich darum; die Aszhar-Moschee steht ohnehin nicht unter der Jurisdiction irgend eines Ministers, sondern erkennt nur den Groß-Scherif von Mekka und in untergeordneten Fragen dessen Vertreter, den Mufti von Kairo, als ihr Oberhaupt an. Einer von den beiden Ulemas wurde aber doch als Kadi nach Tantah versetzt, wo er sich möglicher Weise jetzt an den dortigen Metzeleien betheiligt hat. Es wurde auch, auf Befehl des Khedive, eine Untersuchung eingeleitet, die aber nichts Erhebliches an den Tag brachte, nur daß man bei vielen Studenten Waffen fand, meist Dolche und Revolver, die einfach confiscirt wurden, und man glaubte damit die Sache abgethan. Dem war aber nicht so; denn es kam ein anderes Element hinzu, das schon eine ernstere Beachtung verdiente. Es wurden nämlich bald darauf in Kairo von Zeit zu Zeit kleine in arabischer Sprache verfaßte aufhetzende Flugblätter verbreitet, deren Inhalt augenscheinlich auf die unteren Classen berechnet war.

Woher sie kamen und wo sie gedruckt wurden, wußte Niemand; man fand sie überall, in den Läden und Bazars, auf den steinernen Bänken am Eingang der Häuser, auf den Geländern der öffentlichen Brunnen und in den Vorhöfen der Moscheen, wohin eine unsichtbare Hand sie über Nacht gelegt haben mußte, und immer vorzugsweise in den arabischen Stadttheilen. In diesen Blättern wurde eine sehr derbe und deutliche Sprache geredet; die unsinnige Verschwendung des Khedives wurde geradezu als die Ursache des nahe bevorstehenden gänzlichen Ruins Aegyptens dargestellt; der Muffetisch, der damals noch am Ruder war, wurde der Volksjustiz überwiesen, die Unfähigkeit der übrigen Minister und die Bestechlichkeit und Raubsucht der höheren Beamten, namentlich auch der Mudirs in den Provinzen stark gegeißelt, aber vor Allem das Institut der Generalcontroleure an den Pranger gestellt und die einzelnen Personen desselben rücksichtslos verspottet.

[542] Das ganze Unglück des Landes und die trostlose elende Lage des Volkes wurde dabei stets den Fremden, den Europäern, oder noch richtiger den Christen zur Last gelegt, und die Engländer und Franzosen erhielten in der bilderreichen arabischen Sprache Namen und Titel, die alle europäischen Kraftausdrücke weit hinter sich ließen. Die Polizei fahndete wohl auf die bösen Zettel, die dann plötzlich verschwanden, um nach einigen Wochen wieder aufzutauchen; ja man behauptete, daß manche Polizisten selbst solche Flugblätter in der Tasche trügen, um sie im Geheimen zu lesen, oder sich vorlesen zu lassen, wenn sie, wie es meistens der Fall war, nicht lesen konnten; denn Lesen und Schreiben ist in Aegypten schon der Probirstein höherer Bildung. Auch in die kleineren Städte des Deltas und sogar in die Dörfer bis hinauf nach Oberägypten drangen diese Flugblätter, und selbst in den letzteren fand sich immer ein „Gelehrter“, der den Fellachen über die augenblickliche Lage und Stimmung die nöthige Aufklärung verschaffte. Also ein Stückchen vom russischen Nihilismus im Pyramidenlande!

Wie weit Arabi bei Abfassung und Verbreitung jener Flugblätter thätig war, ist nicht näher zu erweisen; natürlich nehmen jetzt seine Anhänger Alles für ihn in Anspruch, oder bringen doch Alles mit seiner Person in Verbindung, was geeignet sein kann, ihn als den Hauptführer der Volkspartei zu feiern. Gewiß ist nur, daß er eines der thätigsten und einflußreichsten Mitglieder einer geheimen Verbindung von Officieren war, als deren Gründer Ali Pascha el Rubi, der jetzige Minister Arabi’s, anzusehen ist und deren Entstehen wohl schon in das Jahr 1875 fält, wo bei Gelegenheit des bereits erwähnten tollen abessinischen Feldzuges sich verschiedene Regimenter widersetzlich zeigten.

Trotzdem legte damals die Regierung jener Verbindung keine große Bedeutung bei, ja sie soll sogar von ihr geduldet worden sein und bei dem Staatsstreich des Ex-Khedives die Hand mit im Spiele gehabt haben. Auch Riaz Pascha, der Ministerpräsident Tewfik’s, soll heimlich zu ihr gehalten haben, um dadurch den Intriguen Ismaïl’s von Neapel und Halim’s von Constantinopel aus auf die Spur zu kommen. Das Intriguiren ist einmal das Grundelement des orientalischen Staatslebens, und es kommt nur darauf an, wer es am besten versteht, die Gegenpartei zu überlisten und zu stürzen. Arabi war nun feiner und listiger, und der kluge Riaz, der mit dem Feuer gespielt hatte, anstatt es energisch zu bekämpfen und zu ersticken, zog den Kürzeren und fiel.

Nun war die Partei mächtig genug, dem schwankenden und schlecht berathenen Khedive ihren Führer aufzudrängen, der als Arabi Pascha Kriegsminister und zugleich die Seele des Cabinets wurde. Doch dies ist dem Leser bereits bekannt, und ebenso die Biographie Arabi’s, die fast in allen größeren deutschen Zeitungen gestanden hat, obwohl sehr gleichlautend als ein Artikel der „Politischen Correspondenz“. Nur zwei Punkte dieses Artikels bedürfen durchaus zum richtigen Verständniß der Lage einer Widerlegung. Zunächst heißt es darin, daß von einer sogenannten ägyptischen Nationalpartei so gut wie gar nicht die Rede sein kann. Eine solche existirt aber allerdings und darf unmöglich jetzt mehr weggeleugnet werden. Der Keim dazu ist sogar schon von Mohammed Ali, dem Begründer von Aegyptens neuer Zeit, gelegt worden, insofern wenigstens, als sich schon unter ihm ein instinctives Volksbewußtsein geltend machte, mit dem Wunsch und Drange, sich von der türkischen Botmäßigkeit zu befreien und selbstständig dazustehen. Freilich war er selbst der Hauptträger und -vertreter dieses Bewußtseins, das die Westmächte nur allzu deutlich begriffen – sonst würden sie seine weitgehenden Pläne nicht so energisch und zugleich so selbstsüchtig bekämpft haben.

Wer sich dafür interessirt, lese nur die Geschichte jener Tage nach: als Mohammed Ali durch seinen tapferen Sohn Ibrahim (den Vater des Ex-Khedives) die große Entscheidungsschlacht bei Nisibi in Syrien am 24. Juni 1839 so glänzend gewonnen hatte, hätte ihm der Weg nach Stambul und zum großherrlichen Thron offen gestanden, zumal wenige Tage darauf der Sultan Mahmud der Zweite starb – wenn sich, wie gesagt, die Politik der Westmächte nicht in’s Mittel gelegt hätte, und von da an datirt in der europäischen Diplomatie die „Orientalische Frage“. Das hat man noch heute am Nil nicht vergessen, und alle Bestrebungen Ismaïl’s gingen darauf hinaus, die Pläne seines Großvaters, wenigstens soweit dieselben die Unabhängigkeit Aegyptens von der Pforte betrafen, zu verwirklichen.

Daß er dabei die denkbar verkehrtesten Wege einschlug und, statt seine Regentenpflichten mit Ernst aufzufassen und würdig zu erfüllen, gerade zu den schlechtesten und unsinnigsten Mitteln griff, daß er als gewissenloser Verschwender sein schönes Land ruinirte und zuletzt unter dem schimpflichen Titel „halb Narr, halb Despot“, den ihm die Verständigen im Lande längst gegeben, abgesetzt wurde – das ändert wohl für seine Person die große Bedeutung der nationalen Idee, aber die Idee selbst jedenfalls nicht, und wenn Arabi Pascha, der sich jetzt zu ihrem Träger und Vertreter aufwirft, etwas Aehnliches proclamirt, so steht jedenfalls eine große Partei hinter ihm. Sollte auch er fallen, sei es durch eigene Schuld, durch die Westmächte oder durch Intriguen von Constantinopel aus, so beweist dies weiter nichts, als daß auch er nicht der geeignete Mann zur Durchführung der Idee war, und das arme, unglückliche und so tief beklagenswerthe ägyptische Volk muß sich von Neuem mit der Hoffnung trösten, daß endlich doch einmal die erlösende Stunde schlagen wird.

Der zweite irrige Punkt in jenem biographischen Artikel – auch die englischen und französischen Zeitungen legen so großen Nachdruck darauf – ist die Behauptung, daß die ungeheuren Anleihen, welche die ganze augenblickliche Verwickelung hervorgerufen haben, im Grunde doch dem Lande zu Gute gekommen seien, mit andern Worten: daß das Capital, für das die fast unerschwinglichen Zinsen aufgebracht werden müssen, doch von Aegypten verzehrt sei.

Diese Behauptung beruht auf einer vollständigen Unkenntniß der Verhältnisse im Nillande; daß man freilich in London und Paris dergleichen verbreitet, darf nicht Wunder nehmen; denn die Intervention der beiden Mächte erhält dadurch gewissermaßen einen größeren moralischen Halt. Aber im Uebrigen und an sich ist jene Behauptung durchaus unwahr. Dem Lande ist nur ein äußerst geringer Bruchtheil jener unermeßlichen Summen zugute gekommen, und der großen Masse der Bevölkerung, den Fellachen, die mehr als drei Viertel der gesammten Einwohnerzahl Aegyptens ausmachen und die doch gerade die Zinsen aufbringen müssen, gar nichts. Woher die sonst mit jedem Jahre erhöhten Steuern und Abgaben, die zuletzt nur noch auf dem Executionswege, das heißt durch die Bastonnade, aufgebracht werden konnten und in Folge welcher das eigentliche Volk jetzt gänzlich verarmt ist? Das verträgt sich doch wahrlich schlecht mit dem vermeintlichen Segen, der dem Lande durch die Anleihen zu Theil geworden sein soll. Allerdings hat der Ex-Khedive im Laufe seiner sechszehnjährigen Regierung manches Nützliche und Ersprießliche geschaffen, so namentlich in den größeren Städten und speciell in Kairo, wo er einen ganzen Stadttheil nach europäischem Muster hat anlegen lassen, mit langen, gaserleuchteten Boulevards à la Haußmann, mit prächtigen Anlagen und Lustgärten, um, wie er sagte, aus Kairo ein orientalisches Paris zu machen. Dieser Ausdruck ist sehr bezeichnend und zwar als Beweis dafür, daß auch bei diesen Unternehmungen immer seine persönliche Eitelkeit obenan stand.

In weit höherem Maße war dies aber der Fall bei Oper, Schauspiel, Ballet und Circus und bei so vielen ähnlichen Schöpfungen und Anstalten, von denen das Volk wahrlich keinen Nutzen gezogen hat. Und das ist noch Alles geringfügig im Vergleich zu Ismaïl’s sinnlos verschwenderischem Hofhalt, zu seinen riesenhaften Palastbauten, für welche tausend und aber tausend Arme unausgesetzt um wenige Piaster Tagelohn gepreßt und dadurch dem Feldbau entzogen wurden.

Was hatte ferner das ägyptische Volk davon, daß sein Herrscher den Titel eines Khedives und für sein Haus die directe Erbfolge mit einer Million Pfund Sterling vom Sultan erkaufte, oder von ähnlichen „Gnadenbezeigungen“ der Pforte, die stets mit Tonnen Goldes aufgewogen werden mußten, was ferner von den durch ihre Märchenpracht sprüchwörtlich gewordenen alljährlichen Ballfesten, was von dem aller Beschreibung spottenden Möbelprunk der zehn, zwanzig Paläste, oder von den vergoldeten Galawagen, den englischen Rassepferden und von so vielen anderen Dingen, für die das in Europa geliehene Geld in ungezählten Millionen wieder nach Europa zurückging? Was hatte das ägyptische Volk vollends von der Haremswirthschaft des „Landesvaters“ und seiner Familie, zu der vielleicht gar mancher Fellah aus Oberägypten seinen Sohn als Eunuchen oder seine Tochter als Sclavin geliefert hatte? Und so könnten wir mit ähnlichen Fragen noch eine Seite füllen und würden doch immer und ewig nur eine und dieselbe Antwort darauf zu hören bekommen: Nichts, gar nichts! Arabi Pascha hat mithin von seinem Standpunkte aus so unrecht nicht, [543] wenn er sagt: „Die Gläubiger Aegyptens sind bei Licht besehen nur die Gläubiger des Ex-Khedives; sie mögen sich also an ihn halten und sich von ihm bezahlen lassen.“

Ist es nach dem Obigen also zu verwundern, wenn die Aegypter in den fremden Gläubigern und überhaupt in den Europäern die Quälgeister ihres Landes sehen, die von allen Einkünften und Erträgen für sich zuerst den Rahm abschöpfen und ihnen den saueren Bodensatz zurücklassen? Und welche Rolle haben dabei von jeher diese „Frengis“ in Aegypten gespielt, und ganz besonders die Franzosen und Engländer? Sie kamen nur, um Geld zu machen, und je mehr Geld, desto besser, wobei sie in der Wahl ihrer Mittel niemals ängstlich waren. „Wer nach Aegypten kommt, um dort sein Glück zu machen, muß ein weites Gewissen haben,“ sagt ein geflügeltes Wort, das nur zu wahr ist. Jeder brachte deshalb solches Gewissen oder gar keines mit.

In den ersten Regierungsjahren Ismaïl’s war der Zuzug der Franzosen, der schon unter Saïd Pascha bedeutend gewesen, enorm; denn Tausende wollten in einem Lande ihr Glück machen, dessen neuer Herrscher, noch mehr als sein Vorgänger, dem französischen Wesen so zugethan war und sich für seinen Hof die Tuilerien als Muster nahm. Bald wimmelte es in Alexandria und Kairo von französischen Abenteurern und Glücksrittern, von Schwindlern und Projectenmachern, und die Jagd nach dem Mammon begann.

Außer Frankreich waren es hauptsächlich Italien und Griechenland, die ihre Söhne, und nicht eben die besten und edelsten, über das Mittelmeer in das Goldland der Pyramiden sandten, Alle, Alle nur von dem einen Gedanken beseelt, reich zu werden und so sehr und so schnell wie möglich. Man könnte Bände füllen mit all den Geschichten, die sämmtlich keinen anderen Zweck hatten, als den Khedive und sein Land auszubeuten, Geschichten, die in Europa vielfach die betreffenden Personen mit der Polizei und den Gerichten in argen Conflict gebracht haben würden, aber an den Ufern des Nils nahm man es nicht so genau, und überdies hatten die Europäer dort eine besondere Gerichtsbarkeit, die sehr illusorisch war. Daß es unter der Menge der Fremden manche lobenswerthe und ehrenhafte Ausnahmen gab, ist selbstverständlich, aber es waren doch immer nur Ausnahmen, und die weitaus größere Mehrzahl bestand aus zweideutigen und oft sogar aus sehr anrüchigen Elementen. Die praktischen Engländer gingen von Anfang an umsichtiger und ernster zu Werke; sie gründeten Banken und Agenturen und hatten bald einen bedeutenden Theil des Export- und Importhandels in Händen, auch entwickelten sie ihre eigentliche Thätigkeit erst nach der Eröffnung des Suezcanals, der von da an ihr Hauptaugenmerk blieb und heute der eigentliche und wahre Grund ihres Einschreitens ist, ob sie auch noch so viel anderweitige philanthropische Motive vorschützen. Die Welt kennt die englische Philanthropie in fremden Ländern zur Genüge. Von der deutschen Colonie ist am wenigsten zu sagen; sie war von jeher die kleinste, kam aber nach 1870 zu großem Ansehen; denn der Name Bismarck hat auch am Nil einen gewaltigen Klang. In der europäischen Skandalchronik Aegyptens sind die Deutschen so gut wie gar nicht vertreten – das müssen wir durchaus, weil es die Wahrheit ist, hinzufügen.

Aber die Aegypter werfen jetzt, wo ihnen von Europa so hart mitgespielt wird, Alles ohne weiteren Unterschied in einen Topf und nennen heute jeden Europäer einen Ungläubigen, einen Christenhund (kelb nusrani), dessen Vertilgung eine Allah wohlgefällige Sache ist. Viel Böses, Arges und Ungerechtes muß geschehen sein, bevor das sanftmüthige, schüchterne Volk, dem es indeß keineswegs an Intelligenz fehlt, wie man so oft von Unkundigen versichern hört, so gereizt und von Haß und Rache erfüllt werden konnte.

Der tyrannische Steuerdruck, der ihnen das Letzte nahm und sie an den Bettelstab brachte, ist die Hauptursache ihrer Gereiztheit; dieser hat wieder seinen Grund in den Anleihen, und die Europäer sind die Gläubiger dieser Anleihen: das ist die heutige Logik des ägyptischen Volkes, die von den Verständigeren und Besonneneren allerdings nicht in ihrem vollen Umfange getheilt wird, die aber die wilden, entfesselten Massen zu Plünderung, Brandstiftungen und grauenhaften Mordthaten treibt. Ein furchtbares Element kommt hinzu, das stets in den Kriegen des Orients eine Schreckensrolle gespielt hat: der Fanatismns, die eigentliche Seele des Islams, der, was man auch sagen mag, noch immer seine Bekenner in den Tagen großer Bedrängniß zusammengehalten hat. Ueberdies war das Christenthum, wie es in Aegypten auftrat, wahrlich nicht geeignet, die Mohammedaner mit großer Achtung vor demselben zu erfüllen, und doch war es die abendländische, also die christliche Civilisation, mit welcher der Khedive sein Land beglücken wollte. Die Aegypter, und speciell die Bewohner der großen Städte, mußten einen ganz eigenthümlichen Begriff von jener Civilisation bekommen, wenn sie dem Treiben der Christen zuschauten.

Hier war es ein schwerer Diebstahl mit Einbruch oder gar eine Mordthat, dort eine Messeraffaire von Trunkenbolden oder auch ein skandalöser Bankerott und ähnliche Vorkommnisse in Menge, welche das Tagesgespräch der Alexandriner und Kairiner bildeten, und immer kamen von zehn Fällen neun auf Rechnung der Europäer, also der Christen, und unter ihnen standen die Griechen, Malteser, Kandioten in erster Reihe.

Es waren allerdings Ereignisse, die sich aus dem Zusammenströmen aller unreinen Elemente des südlichen Europas im Nillande erklärten und mit denen das Christenthum nichts gemein hatte, aber so weit dachte natürlich das Volk nicht. Und wenn die strenggläubigen Ulemas und Softis, denen alles christliche Wesen von jeher ein Gegenstand des Abscheus und der Verwünschung gewesen, jetzt den heiligen Krieg gegen die Ungläubigen predigen, so ist es kein Wunder, daß ihre fanatischen Reden einen günstigen Boden finden und sofort praktisch verwirklicht werden. Die neuen Massenermordungen der Christen in Tantah und Benha nach den Gräuelscenen von Alexandrien beweisen dies nur allzu deutlich, und es mehren sich bereits die Anzeichen, daß sich die furchtbare Bewegung auch über die Grenzen Aegyptens hinaus und zwar nach Osten hin verbreiten wird; wenigstens lauten die neuesten Berichte aus Mekka, dem Centrum des mohammedanischen Fanatismus, und aus Damaskus, wo im Jahre 1860 die Drusen das entsetzliche Christengemetzel verübten, im höchsten Grade beunruhigend. Vielleicht ist gar die große Feuersbrunst in Smyrna, vom 16. bis 18. Juli, die über 1000 Häuser, darunter fast das ganze Judenviertel, in Asche legte, damit in Verbindung zu bringen.

Wir brechen hier ab; denn unsere Mittheilungen über Aegypten bezweckten nur, die Gegenwart aus der Vergangenheit, so weit dies in allgemeinen Umrissen und unter Hinweis auf einige der hervorragendsten Ursachen möglich war, zu erklären. Ueber die Zukunft des Nillandes, wenn auch nur über die nächste, sich schon jetzt ein Urtheil zu bilden, hieße den Ereignissen vorgreifen, die gerade dort so verwickelter und zugleich so eigenartiger Natur sind, daß man sie wohl unberechenbar nennen darf.



  1. In der dritten Sure heißt es: „Die wahre Religion vor Gott ist der Islam; wer sich zu einer anderen Religion als zum Islam bekennt, dessen nimmt sich Gott nicht an; denn er gehört zu den Verlorenen“ – und in der siebenten Sure: „O ihr Gläubigen! nehmet weder Juden noch Christen zu Freunden! Wer dies thut, der ist Einer von ihnen.“ Diese wenigen Citate genügen wohl schon als Beweis der absoluten Unduldsamkeit des Islams.