Zedler:Viel hilfft viel

Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste
unkorrigiert
<<<Vorheriger

Vielheuer, (Christoph)

Nächster>>>

Viel Jahre

Band: 48 (1746), Spalte: 1107–1111. (Scan)

[[| in Wikisource]]
in der Wikipedia
Dieser Text wurde noch nicht Korrektur gelesen. Allgemeine Hinweise dazu findest du bei den Erklärungen über Bearbeitungsstände.
Linkvorlage für WP  
Literatur
* {{Zedler Online|48|Viel hilfft viel|1107|1111}}
Weblinks
{{Wikisource|Zedler:Viel hilfft viel|Viel hilfft viel|Artikel in [[Johann Heinrich Zedler|Zedlers’]] [[Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste|Universal-Lexicon]] (1746)}}


Viel hilfft viel. Ist ein Medicinisches Sprüchwort, welches verdienet untersuchet zu werden, ob es wahr sey? Allen Leuten kan es auch der Medicus nicht recht machen, und daher kommt es, daß nicht nur der geschickteste Mann von einigen bisweilen verachtet, sondern auch, was das Schlimmste ist, der allerdümmeste öffters gelobet wird: Weil jener nicht alles, was der sich klugdünckende Krancke für gut hält, blindlings unterschreiben will; da hingegen der letztere sich eine Ehre daraus machet, mit seinen Patienten, vornehmlich, wenn sie von Stande sind, gleiche Meynung zu hegen, und ein Ja-Herre zu seyn. So viel Köpffe, so viel Sinne! Prubentius hält gar nichts von Einnehmen; man hat seine Noth, daß man die Dose der Artzneymittel klein gnung einrichte, und kaum kan man ihn dahin bringen, daß er es zu rechter Zeit nehme; er glaubet beständig, es käme zu offte. Hingegen hält es Meticulosus mit der Vielheit; man kan ihm nicht offte gnung etwas verordnen, und die Dose selten groß gnung verschreiben. Für beyde zugleich schicket sich ein Doctor nicht; oder [1108]er müste einen Mantel um habin, der sich nach dem Winde drehen könnte. Doch, wenn eines seyn soll, so sind die Liebhaber der Wenigkeit unsers Erachtens gröstentheils erträglicher, als die Patrone der Vielheit, ob sie gleich beyde ihre Meynungen auf falschen Grund zu bauen pflegen. Denn erstere glauben insgemein, daß die Artzneymittel den Cörper angriffen, schwächten und dergestalt verdürben, daß sie im höchsten Nothfalle nicht mehr anschlügen, daher wollen sie sparsam damit umgegangen wissen. Letztere aber stehen in der vortrefflichen Einbildung, daß, wenn etwas helffen solle, es durch die Vielheit geschehen müsse; und daher ist das bekannte Sprüchwort entstanden: Viet hilfft viel. Wie weit dieses seine Richtigkeit habe, wird aus folgenden Betrachtungen erhellen: Hanß klaget über den Magen, er holet sich etwas zu brechen und zu purgiren, er bekommt ein kleines Pülvergen, und dieses thut oberwärts zwey-unterwärts aber dreymahl seine Würckung. Er läufft wieder zum Doctor und ist böse; er stellet ihn zu Rede, daß er ihn so schwach wie ein Kind ansähe: Er berufft sich auf seine starcke Natur, und will was rechtes abzuführen haben. Er bekommt was, darauf er sich etwan zehemnahl bricht, und sechzehenmahl purgiret; und ob er wohl einige Mattigkeit darnach verspüret, so ist er doch zufrieden, und den folgenden Tag wieder starck und munter. Das gehet also bey Hansen an; wenn aber Monsieur Pipo und Mademoiselle Wasser-Suppe in den Gedancken stehen, sie hätten eine starcke Natur, und verlangeten folglich, daß man ihnen eine rechte starcke Portion zum Abführen verschreibe, welche wenigstens acht bis zehen mahl würckete, so sind sie übel dran. Viel hilfft in diesem Stücke bey dem Brechen und Purgiren in der That nicht viel; es schwächet den Magen und die Gedärme, trocknet sie aus, verdirbet die Verdauung, und bahnet den Weg zur Hartleibigkeit. Hiernächst wird auch das Sprüchwort: Viel hilfft viel, von vielen bey dem Schwitzen übel angewendet. Denn die meisten bilden sich ein, daß wenn sie nicht so schwitzen, daß ihnen das Wasser über die Ohren läufft, und das gantze Bette, darinne sie liegen, über und über naß wird, sie auch keinen Vortheil davon haben konnten. Ja es giebt auch Aertzte, insonderheit von den unächten, welche blos durch pferdemäßiges Schwitzen sowohl die Gesundheit zu erhalten, als auch schwere Kranckheiten zu heben dencken. Es ist zwar wohl bekannt, daß es einige Kranckheiten giebet, welche das Ansehen haben, als könnten sie durch nichts anders, als durch starckes Schwitzen gehoben werden, wie z. E. die Schweiß-Curen in den Venerischen Kranckheiten auszuweisen scheinen. Allein, es werden sehr wenig Fälle seyn in welchen das starcke Schwitzen was Gutes ausrichtet; und in den meisten wird man augenscheinlichen Schaden davon erleben. Bey einem phlegmatischen Cörper, der statt des Blutes fast nichts als Wasser bey sich führet, gehet es noch eher an; wenn aber eine trockene Creatur das Bißgen Feuchtigkeit, so sie hat, durch starckes Schwitzen von sich jaget, was entstehen nicht für Zufälle daraus? Wie viel Exempel hat man nicht, daß Leute, welche wider scorbutische, [1109]arthritische, ja auch wohl Venerische Zufälle, und überhaupt zur Blutreinigung durch hefftiges Schwitzen angegriffen worden, davon dergestalt ausgetrocknet, und gleichsam geräuchert werden, daß sie in Contracturen, auszehrende Fieber, ja wohl gar Schwindsuchten verfallen? Wie grossen Schaden thun sich nicht durch starckes Schwitzen die Vollblütigen? Es könnten viel Exempel angeführet werden, daß Blutstürtzungen, hitzige Fieber und Entzündungen daher entstanden. Und wie ein höchstverderbliches Vorurtheil ist es wenn man in den gifftigen Kranckheiten, als Pocken, Masern, Fleckfiebern, Friesel und gleichen, das Gifft durch gewaltsames Schwitzen auszutreiben, und vom Hertzen abzuführen vermeynet, und zu dem Ende den Patienten in heisse Stuben leget, mit einem Berge von Brusttüchern, Schlafröcken und Betten umgiebet, und die vortrefliche Bezoartincturen und Geister gebrauchet? Wie viele haben nicht auf solche Art die Seele aus dem Cörper geschwitzet? Gewiß, die Erfahrung lehret, daß durch die natürliche Ausdünstung, und ein gelindes, aber anhaltendes Schwitzen, fast durchgehends vielmehr ausgerichtet werde. Insonderheit soll es bey dem Aderlassen gewiß seyn, daß viel auch viel helffe. Es wird solches auf zweyerley Art ausgeübet: denn einige haben den alten Galenischen Lehrsatz für gewiß und allgemein angenommen, daß man die Ader müsse bis zur Ohnmacht lauffen lassen; andere zapffen zwar auf einmahl nicht so viel ab, allein sie stellen es auf Frantzösischen Fuß desto öffterer an. Es giebt so wohl Aertzte als Patienten, die auf beyde Art blutdürstig sind, und glauben, es könne ihnen nimmermehr helffen, wenn sie nicht etliche Teller voll Blut erblicken, oder alle sechs bis acht Wochen sich ein Loch bohren lassen. Man kan zwar nicht läugnen, daß es Kranckheiten und Umstände giebet, da man nicht nur viel Blut weglassen, sondern solches auch öffters wiederholen muß, und da es denn wahr, daß viel viel hilfft; als in innerlichen Entzündungen, Steck- und Schlagflüssen, Blutspeyen und dergleichen. Allein, wenn man es zur allgemeinen Regel machen will, so wird um in der That finden, daß es dem Cörper schade, und denselben in eine kaum zu verbessernde Unordnung setze. Es ist bey vielen, die etwan mit beklemmten Zufällen auf der Brust behafftet sind, eingeführet, daß, so offt sie dergleichen Anfall bekommen, sie so offt zur Ader lassen. Der Zufall vergehet zwar insgemein darnach; allein es bleibet der Zufall zurücke, daß die Zufälle ins künfftige nicht nur öffterer, sondern auch stärcker wiederkommen, und endlich gar nichts mehr auf die Aderlaß passen, oder aber, wenn es durch die Menge gezwungen wird, in andere Kranckheiten ausschlagen, welche der Sache em Ende machen. Wenn uns einer hierbey den Einwurff machen solte, wie es denn käme, daß den Frantzosen das viele und öfftere Aderlassen so wohl bekomme? dem antworten wir mit den Worten Ursin Wahrmunds, welche in seinen patriotischen Gedancken über den von Vorurtheilen krancken Verstand der Medicorum, p. 40. § 63. also gelesen werden. [1110]"Die Frantzösische Mode, Blut zu lassen, da das, was mit einmahl nicht darff abgezapffet werden, durch öfftere Wiederholung weggelassen wird, kan man billig der Gewohnheit dieser Nation überlassen. Sie verfahren damit gar zu indiscret und zu empyrisch, und werden dabey des Schadens nicht inne, den sie bey ihren Patienten damit ausrichten, indem sie in dem Vorurtheile stehen, sie verfahren recht also, und die Schuld der üblen Folgen muß nicht die Heilart, sondern die Kranckheit haben." Viel hilfft viel, ist ein Vorurtheil, welches bey dem Gebrauche aller Artzneymittel, nicht nur bey einigen Patienten, sondern auch bey vielen Aertzten auf verschiedene Art angewendet wird. Manche Aertzte dencken, es wäre nicht recht, wenn sie nicht vielerley in eines mischen, und folglich nicht Recepte verfertigen, die man mit Ellen ausmessen kan. In solchem Falle wird man offt gewahr daß ein Mittel das andere verdirbet, und mithin keines was Tüchtiges würcket. Andere halten viel von starcken Dosen; die Pulver werden Quentgenweise verschrieben, und der Patiente muß bald ersticken, ehe er sie nunter geschlucket; die Tränckgen, die bisweilen Salz von sechs Fingern hoch haben, müssen Theeschalenweise genommen werden. Es ist wohl wahr, daß man von einigen Mitteln in gewissen Fällen viel auf einmahl geben muß; Hingegen ist es auch wahr, daß man bisweilen mit einer kleinern Dose fast mehr ausrichten kan, als mit einer grössern, und man hat den Vortheil dabey, daß man dem Patienten nicht so bald einen Eckel und Abscheu vor der Medicin erwecket. Andere machen zwar die Dosen klein gnung; aber es muß längstens zwey Stunden etwas eingenommen werden, und ob es gleich abermahls Fälle giebet, da ein offt wiederholtes Einnehmen Nutzen schaffet; so sind doch noch viel mehrere, da es würcklich schadet: wie man solches unter andern an den langwierigen Kranckheiten gewahr wird. Daher ein gewisser alter und erfahrner Artzt in benannten Kranckheiten den Rath ertheilet: Fuge Medicos & Medicamenta, facileque convalesces; man würde viel eher gesund werden, wenn man sich vor der Vielheit der Artzneymittel in Acht nähme. Es sind aber auch manche Patienten wieder den Willen ihrer Aertzte mit oberwehnten Vorurtheile verblendet. Wenn man ihnen funffzehen Stück Pillen verordnet, nehmen sie ein und zwantzig, und wenn sie eine Messerspitze voll Pulver nehmen sollen, geniessen sie solches Löffelweise. Einige wollen vor Angst sterben, wenn sie nicht alle zwey Stunden etwas bekommen, und solche Sucht zu Artzneyen findet man insonderheit bey den Hypochondristen, da sie von einigen Pharmaco mania, ein rasendes Verlangen zu mediciniren, genennet wird. Allein, es lehret die Erfahrung, daß das viele und öfftere Einnehmen in den allermeisten Zufällen nicht allein nicht helffe, und zur geschwinden Cur nicht das geringste beytrage, sondern, daß es gröstentheils mehr schade. Man findet z. E. daß von dem Gebrauche viel absorbirender Pulver, als der Krebssteine, ohnerachtet sie an sich ein unschuldige Mittel sind, der Magen und dessen verdauende [1111]Krafft ungemein verderbet werde; daß auf übermäßigen Gebrauch der an sich nützlichen Saltzpulver gleichergestalt der Magen und die Gedärme sich eine Schwachheit zulegen. Ja, man mag ein Mittel nehmen, was man für eines will, so ist allezeit zu behaupten, daß es schade, wenn man zu viel davon brauchet. Und solchergestalt erhellet, daß das Sprüchwort: Viel hilfft viel, in der Artzneykunst keinen Grund habe; wenigstens bleiben sehr wenig Fälle übrig, da was gutes dadurch erlanget wird, und diese erfordern eine vernünfftige Einrichtung.