Zedler:Tantz-Kranckheit
Tantz-Kranckheit, Tarantismus, ist eine solche Beschwerung, welche auf einer verderbten Einbildung beruhet, und von dem Bisse oder Stiche der Tarantel herrühret, auch ziemlich gefährlich ist. Dieser Stich ist unserm gemeinen Wespenstiche nicht ungleich, und nachdem solcher einmahl geschehen und angebracht worden, so folget darauf eine kleine rothe Blase. Keine innerliche Ursache kan man bey dieser Kranckheit nicht angeben, weil das Thiergen von aussen seinen Stich anbringet. Die äusserliche Ursache ist die Tarantel selbst, besonders aber ihr Stich, massen dieser die Tantz-Kranckheit zu erwecken pfleget. In Ansehung der Grade lässet sich diese Beschwerung in hefftig und gelinde eintheilen. Es sind nehmlich verschiedene Gattungen der Taranteln, [1759]und werden deren achte gezählet. Ihr vornehmster Unterscheid bestehet in der Farbe und Grösse, sonst aber sind sie allesamt in der That rechte Taranteln, und beissen oder stechen alle, ob schon der Stich nicht allezeit gleiche Würckung hervor bringet. Hernach hat man auch auf die Dauer dieser Kranckheit zu sehen, und dabey angemercket, daß sie manchmahl von so grosser Hefftigkeit ist, daß sie die Gestochenen in kurtzer Zeit um das Leben bringet; zuweilen aber viele Monate, ja wohl gar viele Jahre anhält und dauret. So bald der Stich von der Tarantel geschehen, so empfindet der Gestochene solchen an dem verletzten Theile, und es kommt ihm selbiger nicht anders vor, als wenn er von einer Biene wäre gestochen worden. Hierauf folget eine starcke Mattigkeit. Der gestochene Theil fänget allmählich an aufzuschwellen, und verlieret endlich die völlige Empfindung, wie denn dergleichen Personen, wenn man sie fraget: ob ihnen etwas fehle oder wehe thue ? selbst gestehen, daß sie gantz und gar über nichts zu klagen hätten. Jezuweilen holen sie recht sehr tieff Athem und seuffzen, welches ein gewisses Kennzeichen grosser Hertzens-Angst ist. Man beobachtet auch an ihnen, daß sie immerzu traurig sind, in tiefen Gedancken gehen, und, wo es nur möglich, alle menschliche Gesellschafft meiden, und sich gantz allein an einen Ort machen, und daselbst ihren sehr weit ausschweifenden Gedancken nachsinnen. Viele verfallen wohl gar in eine solche verdammte Verzweiflung, daß sie sich selbst ermorden. Manche fangen gar öffters an zu heulen, wie die Nachtkäutzlein oder andere Thiere. Es geschiehet auch, daß sie sich gantz nackend ausziehen, und in dem Unflathe und Kothe, wie die wilden Schweine in dem Sumpfe und Brudel herumwältzen. Andere aber thun solches nicht, sondern bleiben vielmehr an einem Orte gantz unbeweglich und wie die Statuen liegen, so, daß es das Ansehen hat, als hätten sie ihren Geist völlig aufgegeben. Viele vergnügen sich an schönen und verschiedenen Farben, und bilden sich völlig ein, daß sie das größte Reichthum und die vollkommenste Glückseligkeit besitzen, wenn sie nur allerhand bunte Fleckgen unter ihren Händen haben, ober sonst schöne bunte Gemählde oder Tapeten anschauen könnten. Und eben solches hat seinen Ursprung aus der einmahl verderbten und weitausschweifenden Einbildung, die sich gewiß in sehr viel Sachen keineswegs ersättigen kan, und sich auch bey dem Tarantelstiche nicht ersättigen lässet. Gleichwie nun aber dergleichen elende Personen nach dem Grunde ihrer Einbildung bald dieses, bald jenes lieben und hochhalten, mit Nichten aber alle zusammen auf einen Gegenstand fallen; so ist es doch hingegen etwas wunderbares und merckwürdiges, daß sie ohne Unterscheid ihr größtes Vergnügen und Labsal in der Musick finden, wiewohl man auch nicht in Abrede seyn kan, daß dieser Patiente besonders an diesem, jener aber wieder an einem andern Instrumente seine Lust hat. Und solcher gestalt erscheinet auch eben hieraus ein Unterscheid in der Einbildung. Daferne sich nun aber die Musicanten mit ihren Instrumenten hören lassen, so erfreuet sich das Hertz der Patienten, daß sie zu tantzen und zu springen anfangen; und je schönere Harmonie dergleichen [1760]Musick machet, desto angenehmer und artiger kommt es den Gestochenen vor; so bald sich aber einige Unordnung hören lässet, so dringet ihnen solches gleichsam in das Hertze, und machet ihnen rechte Angst, welche auch so lange anhält, bis sich die beliebte Harmonie wiederum einstellet. Dieser Umstand ist recht merckwürdig, daß bey einer sonst verderbten und hin und herschweifenden Einbildung eine Achtung auf die Musick und deren Harmonie anzutreffen ist. Indessen verhält sich doch die Sache also, und man kan nicht anders urtheilen, als daß die Seele, weil sie sich bey diesen Umständen an der Musick ungemein vergnüget, auch die Artigkeit oder den harmonischen Concent besonders haben wolle, wenn anders ihrer einmahl hierzu aufgeloderten Begierde Gnüge geschehen soll. Je mehr Gift die Tarantel bey sich hat, und je mehr sie dessen durch den Stich von sich giebet, je gefährlicher ist auch die Kranckheit selbst; denn man hat in den Landen, wo sie sich aufhalten, Exempel, daß dergleichen Gestochene wenig Tage nach dem geschehenen Stiche gestorben sind, ob man gleich alle mögliche und sonst bewährte Mittel angewendet, und ihnen auch die schönste und angenehmste Musick vorgespielet hat. Nun kommt zwar auch vieles auf die Empfindlichkeit und Beschaffenheit des Cörpers eines solchen Patienten an, massen eine sehr empfindliche Person, oder welche sonst schon einen alten Knack in ihrem Leibe, oder auch bereits eine garstige scharfe und gallichte Unreinigkeit in den Eingeweiden und dem Blute selbst hat, viel eher in eine Heftigkeit einer Beschwerung geräth, als wohl eine andere, die nicht von einer solchen Beschaffenheit ist. Daferne nun aber dergleichen von einer Tarantel gestochenen Leuten nicht bey Zeiten geholfen wird, und sich solches Gift nach und nach je mehr und mehr in den Cörper einschleichet, und durch die innern Theile, wiewohl sehr zarte, verstreuet, so wurtzelt dieses Uebel recht ein: massen man durch keinerley Mittel das Tarantelgift aus dem Leibe treiben und fortbringen kan. Und pfleget sich solche Tragödie alle Jahre, und besonders zu derjenigen Zeit, zu welcher der Stich beygebracht worden, gantz gewiß wiederum darzustellen und zu zeigen. Man verordnet diesen Patienten nun deswegen gute Gift- und Bezoarmittel, weil man das zarte, durch den Stich beygebrachte Gift durch gelinde Ausdunstung fortzuschaffen vermeynet und suchet. Z. E.
- Rec. Ess. Asexipharmac. Stahl. Ʒij. Scord. Pimpinell. alb. aa. Ʒj.
- Spirit. Nitri dulc. ℈ij.
- M.S. Zertheilende Mixtur, zu 40 bis 60 Tropfen, frühe und Abends zu nehmen.
Oder es kan folgendes Pulver zu eben solchem Ende gebrauchet werden:
- Rec. Ocul. Cancr. ppt.
- Conch. ppt. aa. Ʒij.
- C. C. s. igne praep. Ʒj.
- Antim. diaph.
- Bezoard. min. aa. Ʒß.
- Tartari Vitriolat. ℈ij.
- Antim. depurat. Ʒß.
M. F. Puv. S. Temperirendes und zertheilendes Pulver, wovon Nachmittags und Abends zwey Messerspitzen voll zu nehmen. [1761]Es kan auch ein guter Kräuterthee früh zu trincken für selche Patienten gemacht werden, damit auch durch dieses Gifft- und reinigende Gerräncke das Tarantelgifft auf die Seite geschaffet werden möge. z. E.
- Rec. Rad. Petasit. Carlin. Valerian. Imperat. Angelic. aa. ℥ß. Polypod. ℥j.
- Herb. Scabios. Ruth. Fumar. Chamaedr. Meliss Rorismar. Scord. Salv. aa. Mß.
- Flor. Aquileg. Hyperic. Cent. min. ana Piij.
- Sem. Anis. Foenic. ana Ʒij.
- Ex Concis. F. Species, S. Kräuterthee, wovon auf eine Kanne Wasser soviel zu nehmen, als man mit der Hand auf einmahl fassen kan, und etwas mit kochen zulassen.
Es kan der Ort, wo der Stich von der Tarantel geschehen, mit eben dergleichen Gifft Decocten genetzet und gewaschen werden, weil solches im Anfange sehr gut ist. Hernach, wenn dieses geschehen, thut man nicht unrecht, wenn man den gestochenen Ort schröpffet, und mit einem Schröpfkopffe das von dem Tarantelgiffte verunreinigte Blut ausziehet. Will jemand den verletzten Ort brennen, so stehet es ihm frey, und kan hiermit vielleicht auch etwas gutes verrichten, nur muß man dahin bedacht seyn, daß solches Brennen nicht etwan nur obenhin, sondern vielmehr tief sey. Ob man nun wohl bey der Cur dieser Verletzung alle gute und bewährte Medicamente hervorsuchet und sich bestmöglichst bemühet, dergleichen Patienten von ihrem Uebel zu befreyen, so muß man doch frey und aufrichtig bekennen, daß man mit den Medicamenten niemahls alleine etwas rechtes ausrichtet, daferne nicht auch die Musick zugleich mit, als ein äusserliches Mittel zur Hand genommen wird. Es ist also sehr wohl gehandelt, wenn man solchen Personen dergleichen Stückgen aufspülen lässet, an welchen sie sich besonders zu vergnügen pflegen. Man muß aber auch das rechte Instrument erwehlen, weil die Gestochenen nicht alle an einem Instrumente ihr Vergnügen finden. Mancher höret gerne das Saitenspiel, ein anderer aber will etwas Gepfiffenes haben, angesehen ihre Einbildung nicht einerley ist. Und da nun selbige nach dem ihnen angenehmen musikalischen Klange, so gleich sich zu bewegen und zu tantzen anfangen, auch damit so lange anhalten, bis sie etwas matt werden, wie sich denn solches aus dem ziemlichen Schweisse des Angesichtes sehr wohl muthmassen lässet; so tragen solche Bewegungen des Leibes und der Glieder zur Würckung der gebrauchten innerlichen Medicamente allerdings etwas bey, indem das Gifft, wenn es vielleicht durch die Ausdünstung nicht ausgetrieben werden könnte, durch diesen Schweiß nach und nach durch die Schweißlöcher der Haut mit fortgeschaffet wird. Und gesetzt auch, daß man, in Ansehung der Würckung der Medicamenten, von solcher gemachten Musick nicht den geringsten Nutzen zu erwarten [1762]hätte, so ist es doch gnung, daß die Einbildung der Patienten, auf eine angenehme und beliebte Art ermuntert wird, damit sie nicht immerfort so stille, traurig und einsam leben, ja auch durch solche Tantzbewegung, welche so lange von ihnen unterhalten wird, ob sie schon je zuweilen ein wenig inne halten, bis sie mit einer recht nachdrücklichen Mattigkeit überfallen werden, zu einiger Ruhe gebracht werden mögen. Dieses Tantzen aber, ob sie sich wohl, wie anjetzo Meldung geschehen, nach einer sehr grossen Müdigkeit wegen des starcken Sprüngens, der Ruhe auf eine Zeitlang bedienen, dauret doch gemeiniglich bis auf den vierten Tag, massen es was seltenes ist, wenn es bis auf den sechsten anhält, und beobachtet man so dann, daß die Gestochenen zu ihrer Gesundheit wiederum gelangen. Mit den Musicanten muß man es zu solcher Zeit besonders halten, und sie zum Spielen antreiben. Solte vielleicht der Patiente nicht so gleich nach einem einzigen Instrumente, ober musikalischen Stückgen tantzen und springen; so muß man die Musicanten bitten, daß sie so lange dieses und jenes Instrument, wie auch dieses und jenes Stückgen spielen, bis sie endlich das rechte getroffen, und bis die Gestochenen ihre krumme Sprünge zu machen anfangen. Dieweil auch solche Kunsttäntzer in ihrem Tantzen, Sprüngen und Hüpffeln gar sehr geschwinde sind, so muß auch der Musicante seinen Strich und Griff darnach richten. Denn wie selbige in Ansehung des musikalischen Klanges eine richtige Harmonie verlangen, und sich über die Unordnung, so zu reden, recht grimmen und winden; also wollen sie auch, wegen ihrer geschwinden Bewegungen und Wendungen des Cörpers, einen hurtigen Strich und Griff auf den musikalischen Instrumenten haben. Kircher beschreibet die wunderbare Cur des Tarantismi weitläuftig in Arte magnetica.