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Autor: Vinzenz Chiavacci
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Titel: Wiener Bettlerwesen
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aus: Die Gartenlaube, Heft 15, S. 248–252
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Wiener Bettlerwesen.

Von V. Chiavacci. Mit Zeichnungen von W. Gause.

An der Kirchenthüre.

Das Leben einer Großstadt ist ebenso reich an Stürmen und Schiffbrüchen wie der wildbewegte Ocean. Das stolze Lebensschiff des Reichbegüterten ist seinen unberechenbaren Launen ebenso ausgesetzt wie die gebrechliche Barke des Armen, der sich täglich aufs neue dem trügerischen Elemente anvertraut, um den Bedarf des Tages zu erbeuten. Tausend scheinbar festgegründete Existenzen werden von seinem Wirbel erfaßt und in die Tiefe gezogen, tausend hoffnungsfreudige und kampfesmutige Seelen stranden an seinen tückischen Klippen, und während die Unglücklichen einen aussichtslosen Kampf mit den Wellen kämpfen, balgen sich die am Ufer Stehenden, statt ihnen hilfreiche Hand zu bieten, um das angeschwemmte Strandgut.

Zu oft wiederholt sich dies klägliche Schauspiel, als daß es einen mächtigeren Eindruck auf diejenigen ausübte, die vom Schicksal verschont geblieben sind. Der jähe Schicksalswechsel, das Ringen des Opfers mit dem ungewohnten Element, das Aufbrauchen der letzten Mittel, das Anklammern an letzte Hoffnungen und der unaufhaltsame Sturz in die Tiefe – wie oft erlebt man es in nächster Nähe, wie oft ist es geschildert worden!

Der Dämon Geld, der dem Begüterten in so williger, höfischer Weise gehorcht, zeigt nach dem Sturze plötzlich seine abschreckende, grauenerregende Gestalt. Die Tausender und Hunderter, welche ihren Herrn bisher so weltmännisch fein bedient, die alle seine Wünsche stumm und widerspruchslos erfüllt haben, sind plötzlich verschwunden. An ihrer Stelle haust jetzt ein widerwärtiger Tyrann, ein brutaler Geselle – der Kreuzer. So ohnmächtig sein Können ist, so stolz und unerbittlich ist er im Gewähren[.] Anfangs wird er noch verachtet, mit Füßen getreten; aber seine Herrschaft wächst mit jedem Tage. Bald ist er der einzige Herr und füllt die Gedanken und Sorgen seines Sklaven aus. Er fordert in seinem Dienste Schweiß, Mühe, Entsagung und Kummer und gewährt dafür ein dürftiges Dasein in Schmutz, Elend und Siechtum. Er ist der Welttyrann, der unumschränkte Herrscher über die ungezählten Millionen, die ihm in harter Fron dienen, ihm huldigen, ihn halten wollen; aber immer wieder entschwindet er ihren Händen, flieht aus den armseligen Hütten und geht als befruchtender Regen über den Palästen der Reichen nieder. Hier und da greift er einen heraus aus der Menge und überschüttet ihn mit seinen Gaben. Je willkürlicher, grausamer und launenhafter er seine Herrschaft übt, desto gefesteter wird sein Ansehen, desto emsiger buhlt man um seine Gunst.

Auf der untersten Stufe seines hierarchischen Gebäudes hat der Götze eine Pariakaste geschaffen, den Bettler.

In jeder Weltstadt hat das Bettlerwesen infolge der Charaktereigenschaften ihrer Bewohner, des Erwerbssinnes oder der Schlaffheit der unteren Volksschichten, des Wohlthätigkeitstriebes der Begüterten, der staatlichen Fürsorge und der öffentlichen Einrichtungen ein eigenartiges Gepräge. Der starrende Schmutz, das herzzerreißende Elend, das uns in London und in den großen Städten Italiens auf der Straße entgegentritt, ist allerdings in Wien ebenso wenig zu sehen wie in den großen Städten Deutschlands. Die öffentliche Mildthätigkeit ist groß; die Gemeinde giebt jährlich Millionen aus, um dem Elend zu steuern, den Siechen ein Obdach zu geben, die Waisen zu versorgen. Der Verein gegen Verarmung und Bettelei, zahlreiche Asyle, Siechenhäuser, Rekonvalescentenheime, Volksküchen, Schlafstätten für Obdachlose, Wärmestuben, Wohlthätigkeitsvereine zur Bekleidung armer Kinder und eine Unzahl privater Wohlthäter treten wirksam gegen Elend und Not in die Schranken. Es ist ein stattliches Samariterheer, das jahraus, jahrein den Kampf gegen den grimmigen Feind mit mehr oder weniger Erfolg führt. Und dennoch reichen die Schutzdämme nicht aus, um die überall hereinflutende Not mit vollem Erfolg zu bekämpfen. Gegen das Ueberhandnehmen des Straßenbettels tritt das Vagabundengesetz mit unnachsichtlicher Strenge auf. Hierdurch wird der Bevölkerung viel arbeitsscheues Gesindel, das gelegentlich auch nach unerlaubtem Erwerb ausspäht, vom Halse geschafft; anderseits erleben wir aber im Gerichtssaale oft wahrhaft erschütternde, das menschliche Elend und die Ohnmacht der Gesellschaft grell beleuchtende Scenen.

Die Blinde.

Trotz der ungeheuren Summen, welche die Armenpflege der Stadt Wien alljährlich verschlingt, und trotz der werkthätigen Hilfe der Bevölkerung wird der Wert dieser Hilfeleistungen so lange zweifelhaft sein, bis nicht eine streng gegliederte Organisation dafür sorgt, daß das Geld in die richtigen Hände gelangt; denn neben der wirklichen Dürftigkeit, dem hilfeheischenden, herzbewegenden Jammer wuchert eine weitverzweigte Bettlerindustrie mit großer Dreistigkeit und mit einem Erfolge, der nur in der Gutmütigkeit der Bevölkerung seine Erklärung findet.

Das hilfeflehende Weib, das, abgerissen und barfuß, vor der Kirchenthür steht, die blinde Frau, die an der Brust eine Tafel trägt mit der Erklärung „Blind von Geburt“, der krüppelhafte Arbeiter, dem die Fabrikmaschine ein Glied fortgerissen, das blasse Weib, das eben aus dem Spital entlassen wurde, der Taubstumme, der mit flehender Gebärde unartikulierte Töne ausstößt, das sind Typen, welche eine jede Großstadt aufweist und deren Würdigkeit wohl selten angezweifelt wird.

Mehr Vorsicht und eine schärfere Unterscheidung ist bei den sogenannten „Schnallendruckern“ („Schnalle“ ist ein in Oesterreich vielfach gebrauchter Ausdruck für „Thürklinke“) zu üben, die in den Häusern von Thüre zu Thüre wandern und unter den verschiedensten [249] Vorwänden das Mitleid der Hausbewohner anrufen. Abgesehen davon, daß sich hier vielfach der berufsmäßige Bettel breit macht, dient das „Schnallendrucken“ gar manchen nur als Vorwand, um die Gelegenheit zu einem Diebstahl auszuspionieren.

Der „Student“ beim Empfang und Verkauf einer Spende.

Es ist Freitag, der große Zahltag der vielen Hausarmen, denen von seiten der mildthätigen Hausfrauen das Almosen als eine Art Rente verabfolgt wird. Es läutet! „G’wiß wieder ein Bettler,“ sagt die Hausfrau verdrießlich, da sie eben bei einer wichtigen Hantierung in der Küche ist. Bald darauf läutet es stärker. Aergerlich eilt sie hinaus und öffnet. Ein alter Mann mit schneeweißem Haar und Bart steht vor ihr. Es ist ein Hausarmer, der schon seit zehn Jahren jeden Freitag sein Almosen von ihr empfängt. „Ein armer, alter Mann thät’ gar schön bitten“, lautet die Formel. Die Frau giebt ihm das Almosen. Ein krampfhafter Hustenanfall bei dem Greise veranlaßt die mitleidige Hausfrau, ihm eine Schale Suppe zu bringen. „Vergelt’s Gott, vergelt’s Gott tausendmal; i wir’ fleißi beten,“ sagt er und schlürft mit Behagen das warme Getränk. „Ihner Suppen is die beste in der ganzen Gegend, Euer Gnaden,“ fährt er dann gemütlich fort. „I hätt’ schon längst die Kundschaft auf’geb’n, denn Ihnere drei Stöck’ werd’n m’r schon sauer; aber i g’freu’ mi allemal schon auf die Supp’n. Delikat, wirklich delikat!“ Man sieht, er steht auf vertrautem Fuß mit seiner Wohlthäterin. Diese betrachtet den treuherzigen Alten, der den Bettel wie ein Geschäft behandelt, als ein Hausmöbel und plaudert mit ihm wie mit einem guten Bekannten. Er will die Gabe einstecken, besinnt sich aber und sagt ganz offenherzig: „I krieg’ no zwa Kreuzer vom vorigen Mal. Wissen S’, Sie hab’n ka klans Geld g’habt und hab’n g’sagt, ’s nächste Mal wir’ i Ihna schon zahl’n.“

Die Frau sucht in ihrer Tasche nach Kleingeld. Der Alte wehrt jedoch ab und sagt: „Muß ja net glei sein; es is nur weg’n der Ordnung, daß ma net vergißt. Sie laufen mir ja net davon. Hätt’ i nur a Million z’ fordern von Ihnen; mir wär’ net bang, daß i zu mein’ Geld kommet.“ Die Frau lacht über die Ungeniertheit des Alten und dieser fährt fort: „Wissen S’ was, i kumm von jetzt an nur alle Monat. Lassen m’r das Geld z’sammkommen. Mir is das viele Stieg’nsteig’n z’wider und Ihnen is das Thüraufmachen z’wider. Is uns allen beiden g’holfen. Mei Suppen geb’n S’ halt an’ Armen.“ Der Alte trollt sich in der Ueberzeugung, seiner Wohlthäterin einen Dienst geleistet zu haben.

Beim Hausthor treffen zwei Weiber zusammen. Die eine trägt ein krüppelhaftes Kind auf dem Arm, die andere hat ein eingebundenes Gesicht. Sie nicken einander verständnisinnig zu.

„Is was los?“ fragt die mit dem Kinde.

„Im ersten Stock krieg’n S’ zwa Kreuzer,“ antwortet die andere. „Die Vergolderin im zweiten Stock giebt Ihnen a alt’s G’wand für’s Kind; aber da müssen S’ das Umhängtuch wegthun, daß ’s Kind recht erfrorn ausschaut. Wo haben S’ denn den Fratzen her?“

„Von der Poschin; denken S’ Ihnen, vierzig Kreuzer verlangt die Person im Tag dafür.“

„Na ja, das is aber auch a selten’s Kind, den schön’ Buckel, den’s hat, und nur a Aug’. Was gut is, is teuer. Da können S’ schon was verdienen damit.“

„Schaut nur so schön aus. Der Racker will ja net weinen. Was ich schon alles probiert hab’, er weint halt net! Das Doppelte könnt’ i verdienen, wann der Fratz weinen wollt’.“

Die würdigen Damen empfehlen sich und jede geht ihren Geschäften nach.

Oft kann man unter den Hausthoren ganze Gruppen von Bettlern aller Art beisammen finden. welche ihre Erfahrungen über die Mildthätigkeit der verschiedenen Parteien im Hause austauschen.

Es läutet irgendwo im ersten Stock. Draußen steht ein junger Mensch, schüchtern und zaghaft. Er hat ein dünnes Röckchen an und zittert vor Kälte. Ganz leise bringt er nur einige abgerissene Worte hervor. Er sei Student. Fürs Essen wäre gesorgt; man hat ihm Marken für die Volksküche zugeteilt. Auch hat er eine Lektion gefunden. Er kann sich aber in seinem fadenscheinigen Röckchen nicht vorstellen. Wenn er eins bekommen könnte, das auch nur ein bißchen besser ausschaute, das könnte ihn retten. Der junge Mensch ist so bescheiden; es wird ihm so schwer, die Bitte über die Lippen zu bringen. Der gutherzigen jungen Frau treten die Thränen in die Augen. Nach kurzer Beratschlagung mit ihrem Manne kommt sie mit einem ganzen Anzug zurück. Der junge Mensch schluchzt ein paar unverständliche Worte des Dankes und entfernt sich freudestrahlend. In der nächsten Gasse steht ein Hausierer, der die Kleidungsstücke sorgfältig prüft. Der schüchterne Student scheint sich sehr gut auf den Handel zu verstehen. Er zankt sich tüchtig mit dem Hausierer herum, bis dieser nachgiebt und ihm drei Gulden fünfzig Kreuzer auf die Hand zählt. Kein schlechtes Geschäft!

Das alte Weibchen, das zögernd vor dem Fenster des Bäckers steht, wird schon längere Zeit von einem Sicherheitswachmann scharf beobachtet. Sie entschließt sich endlich, einzutreten; „Ein armes altes Weib thät schön bitten um a bisserl was.“ Sie erhält einen Kreuzer. Vor der Thür tritt ihr der Wachmann entgegen mit dem Befehl: „Sie haben gebettelt, folgen Sie mir!“ Der Alten versagen die Knie vor Scham und Verzweiflung. „Aber i bitt’, ich bin ja für g’wöhnlich ka Bettlerin. Ich arbeit’ ja und geh’ ins Waschen und Fensterputzen, wann i was kriag; aber mein Enkerl is krank, und ka Brot in Haus. Mein Gott und Herr, wann i net z’Haus’ komm’, was thut denn das Kind? Lassen [250] S’ mi fort, lieber Herr, i werd’s g’wiß nimmer thun; i verlier’ ja sonst meine Pfründen; oder sie geb’n mich ins Versorgungshaus! Was soll denn dann mit dem armen Kind g’schehn?“ Mittlerweile hat sich eine große Menschenmenge angesammelt. Man sucht den Wachmann zu überreden, das Weiblein freizulassen. „Ich darf nicht, meine Herren,“ sagt dieser achselzuckend. „Mir thut’s ja selber leid; aber ich hab’ strengen Auftrag. Paragraph 2 des Vagabundengesetzes. Kommen S’ nur mit, Frauerl! Es g’schieht Ihnen net viel. Sie können ja gleich wieder nach Haus geh’n.“ Die Alte fügt sich zitternd und jammernd ins Unvermeidliche und wird auf dem Polizeikommissariate nach der Protokollsaufnahme „vorläufig“ entlassen.

Wenn auch die Behörde ein wachsames Auge auf den Straßenbettel hat, so gelingt es besonders den Berufsbettlern noch häufig genug, der Polizei ein Schnippchen zu schlagen.

Ahnungslos wandelt da ein Mann auf einer der belebtesten Straßen dahin. Er bleibt vor einer Auslage stehen. Auf einmal hat er einen Begleiter an seiner Seite, der mit ihm geht und ihm eine rührende Geschichte erzählt. Bald ist ihm sein armes Weib gestorben, bald liegen seine Kinder krank danieder; er selbst ist meistens erst aus dem Spital entlassen, schwach und hinfällig und hat den ganzen Tag oder noch länger keinen Löffel Suppe genossen. Der andere kauft sich endlich von der Fortsetzung der immer schauerlicher werdenden Familientragödie durch ein paar Kreuzer los. Der Bettler lüftet den Hut und empfiehlt sich wie ein Bekannter.

In der Nähe der Aspernbrücke geht ein blasses Weib mit einem kleinen Kinde. Mitten in der Straße stürzt sie plötzlich mit einem schrillen Aufschrei zusammen. Dem Kutscher einer Equipage, welche eben daherfährt, gelingt es gerade noch, die Pferde zum Stehen zu bringen. Die Frau, die sich in epileptischen Krämpfen windet, ist nach rückwärts gestürzt, sonst wäre das Kind auf ihrem Arme von der Wucht des Sturzes zermalmt worden. Das arme Kleine fängt fürchterlich zu schreien an, wirft sich auf die Bewußtlose und ruft: „Mutterl, Mutterl!“ Es ist eine herzzerreißende Scene. Eine große Menschenmenge hat sich alsbald versammelt; aus der Equipage steigt eine Dame, welcher der Jammer dieser Hilflosen sehr zu Herzen geht. Sie zieht eine Banknote aus ihrer Geldbörse und giebt sie dem Kind. Die Umstehenden folgen dem wackeren Beispiel, und bald ist eine nicht unansehnliche Summe beisammen. Jetzt erwacht auch das Weib aus der Ohnmacht. Verstört und als ob sie sich erst besinnen müßte, wo sie sei, blickt sie um sich. Doch plötzlich scheint sie wieder ihren Verstand beisammen zu haben. Sie faßt ihr Kind und drängt sich, einen kurzen Dank stammelnd, fluchtartig durch die Menge. „Sie kommen mit!“ ruft ein Sicherheitswachmann sie barsch an. Das Weib blickt hilfesuchend zu ihren Wohlthätern hinüber. „Sie hat nicht gebettelt,“ versichert ein Herr das behördliche Organ, und als dieser das Weib an der Hand faßt und mit sich nehmen will, werden Stimmen des Unmuts laut und einige Anwesende erbieten sich freiwillig, Zeugnis dafür abzulegen, daß das Weib nicht gebettelt hat. „Stören Sie die Amtshandlung nicht!“ sagt die Wache. „Ich kenne meine Leute. Das ist eine abgefeimte Betrügerin. Was Sie gesehen haben, ist simuliert. Sie versucht ihr Glück in jedem Bezirke. Marsch fort!“ Das Kind schreit und die enttäuschte Menge bricht jetzt über die Betrügerin in Verwünschungen aus.

„Da soll der Mensch ein Mitleid haben!“ sagt ein Mann im Arbeiterkittel. „Mein letzt’s Sechserl hab’ ich hergegeb’n für die Gaunerin, weil mir das Elend ans Herz ’gangen is. I gieb aber kan’r mehr ’was, das weiß i.“

„Aber i bitt’ Ihnen, Herr Nachbar,“ sagt eine robuste Marktfrau, „es is immer noch g’scheiter, man laßt sich zehnmal betrüg’n, als man laßt einmal ein’ Hungrigen von der Thür geh’n.“

Die typischen Fälle alle aufzuzählen, mit denen die Bettlerindustrie, dieser gefräßige Parasit der wirklichen Armut, ihre Geschäfte macht, würde hier zu weit führen. Unter den verschiedensten Masken drängen sie sich heran, und was dem unterstützungswürdigen Elend, das sich nicht hervorzudrängen weiß, entzogen wird, das ergattern diese Gäuche durch List und freche Aufdringlichkeit.

Ein Gast tritt aus einem Kaffeehause. Der Marqueur empfiehlt sich und nennt, wie das üblich, den Namen des Herrn[.] Nach einigen Schritten auf der Straße tupft diesen jemand auf die Schulter. Er sieht sich um und blickt in ein völlig fremdes Antlitz. „Grüß’ Dich Gott, Meier,“ sagt der Fremde in vertraulichem Ton, „mir scheint, Du kennst mich nimmer. Wir sind ja miteinander in die Schul’ gegangen.“

Bettler in einem Thorweg, ihre Erfahrungen austauschend.

Der Angeredete lächelt verlegen, thut, als ob er den Unbekannten kenne, und spricht, nur um etwas zu sagen, von der Schule, von den Lehrern und Mitschülern. Der vermeintliche Mitschüler wird vertraulicher und erzählt dem Kameraden seine Lebensgeschichte[,] die im Verlaufe immer trauriger und trostloser wird. Dem Angeredeten wird bei der Erzählung immer schwüler und unheimlicher zu Mute. Er fühlt sich umstrickt; er merkt, wo das hinaus will, und getraut sich doch nicht, seine Taktik zu ändern; denn er hat den Begleiter ja in der ersten Verlegenheit als Kameraden anerkannt. Jetzt platzt die Bombe. Der „arme Kamerad“ ist gegenwärtig ohne Stellung, seine Mutter – „Du kennst sie ja“ – ist bei Verwandten in Steiermark untergebracht. Eben hat er einen Brief erhalten. Seine Stimme umflort sich. Sie liegt im Sterben. „Mein armes Mütterchen,“ schluchzt er – „und ich soll sie nimmer sehen wegen lumpiger zwei Gulden, die mir noch auf das Reisegeld fehlen!“ Der „Kamerad“ giebt die zwei Gulden her, um die saubere Bekanntschaft los zu werden. Er ist überzeugt, daß er beschwindelt wird; aber er weiß keinen andern Ausweg.

Der Wirtshausbettler zeigt wieder eine andere Physiognomie. Es sind zumeist wirklich Bedürftige, welche in den kleineren Vorstadtgasthäusern von Tisch zu Tisch um milde Gaben gehen, Blinde in Begleitung eines Kindes, Krüppelhafte aller Art, hilflose Greise und alte Mütterchen. Die Kontrolle übt hier der Wirt. Manchmal nimmt der Bettel in diesen Lokalen das Mäntelchen eines Gewerbes um. Der blinde Bettler hat eine kleine Spielorgel umgehängt, die einige Takte klimpert, worauf der Gast den Kunstgenuß mit einem Kreuzer entlohnt. Ein anderes nicht zu billigendes Bettelgewerbe ist das Anbieten von „Planeten“ durch kleine Kinder. „I bitt’, kaufen S’ m’r ein’ Planeten ab! Steh’n drei Numero d’rauf, die g’wiß kommen.“ Mit diesen Worten bietet der kleine Knirps seine Ware an. Die „Planeten“ sind [251] kleine bedruckte Zettel, auf denen eine alberne, aber meist sehr erfreuliche Prophezeiung zu lesen ist, die mit der Versicherung schließt: „Mit den Nummern 23, 65, 80 werden Sie Ihr Glück begründen.“

Die „Epileptische“.

In den Praterwirtshäusern, beim Heurigen und in den Vorstadtlokalen nimmt der Bettel die verschiedensten Gestalten an. Das Ausspielen von „Kipfeln“, das Anbieten von wertlosen Blumen, der Handel mit Zündhölzchen gehören zu diesem verschämten Bettel.

Die Speisung Armer wird nicht nur in vielen Familien gepflegt, es ist fast in jedem Gasthause Uebung, daß die Ueberreste des Tages an einzelne Hausarme verteilt werden. Größere Wirtschaften liefern diese Ueberbleibsel an die Kapuziner und Franziskaner ab. Und hier, vor der Klosterpforte der Franziskaner, kann man um die Mittagszeit die mannigfachsten Typen des menschlichen Elends beisammen sehen.

Die listigen Gaunerstückchen, mit denen wohlthätige Menschen zuweilen von arbeitsscheuen Geschöpfen in der oben geschilderten Weise geprellt werden, können mit einigem Humor verschmerzt werden, zumal der einmal Geprellte nicht leicht wieder in die Falle geht. Das allgemeine Mißtrauen aber schadet wieder häufig den wirklich Dürftigen. Viel ernster wird die Sache, wenn es sich um verkommene Existenzen handelt, welche die Maske des Bettlers nur so lange tragen, bis sich eine günstige Gelegenheit zu Gewaltakten findet. Und in dieser Beziehung hat die Wiener Chronik leider einige tragische Fälle aufzuweisen. Vor wenigen Jahren erst wurde ein angesehener Wiener Bürger in einem der belebtesten Stadtteile Wiens von einem Bettler in brüsker Weise angesprochen und, als ihm jener das Almosen verweigerte, von dem Strolch mit Messerstichen ermordet. In abgelegenen Straßen und auf großen, menschenleeren Plätzen ist es schon oftmals vorgekommen, daß ein Vorübergehender von einem zerlumpten und verwegen aussehenden Burschen in drohendem Tone aufgefordert wurde, einen größeren Betrag herzugeben. Wer läßt es in einem solchen Falle auf einen Messerstich ankommen! Man kauft sich los und ist froh, Gesundheit und Leben gerettet zu haben.

Ein ganz anderes Gesicht zeigt die Bettlerindustrie im großen. Das sind Leute, welche ihr Geschäft mit kaufmännischer Umsicht und Betriebsamkeit führen. Sie haben ihren Klientenkreis, der streng verbucht ist und dessen Eigenheiten und Wohlthätigkeitsneigungen aufs sorgfältigste geprüft werden. Mit den „Geschäftsfreunden“ stehen sie in lebhaftem Verkehr. Sie teilen ihnen die Adressen der Wohlthäter mit und empfangen dafür andere. Der Mann schreibt Bittgesuche an hohe und höchste Herrschaften, an Großkaufleute und bekannte Wohlthäter. Diese Gesuche sind oft Meisterstücke eines raffinierten Lügengewebes. Die Frau geht, anständig in Schwarz gekleidet, in die vornehmsten Häuser. Gelingt es ihr nur, vorgelassen zu werden, so ist sie ihres Erfolges sicher. Bei dem General ist sie eine Offizierswitwe und erzählt bis ins kleinste hinein die Schlacht, in der ihr „armer Mann“ fürs Vaterland gefallen ist. Bei der frommen Aristokratin ist sie ein Muster von Demut und Frömmigkeit, welches die von Gott auferlegte Prüfung mit Ergebung trägt. Baronin M. hat ihren einzigen Sohn verloren. Ihr erzählt das Weib eine herzergreifende Geschichte von ihrer einzigen Tochter, die durch ihre Künstlerhände Mutter und Geschwister erhält. Aber das schwache Kind droht den Anstrengungen zu erliegen. Sie ist blaß und hinfällig und hustet die ganze Nacht. Der Arzt schüttelt den Kopf. Nur ein Aufenthalt im Süden könnte sie retten. Das ist für so arme Leute ein Todesurteil. Das arme Kind muß sterben! Schluchzend sinkt sie auf die Knie und umklammert die Füße der Wohlthäterin. Die Mutter spricht zu dem Mutterherzen! Wer könnte in einem solchen Augenblicke hart sein? –

In einem Vorstadthaus wohnt ein armer Tagschreiber mit fünf Kindern im größten Elend. Aber er bettelt nicht. Seinen Zimmermieter scheint das Elend zu rühren; er wendet sich an [252] bekannte Wohlthäter, die aber die Gewohnheit haben, sich von der Dürftigkeit und Würdigkeit des Bittstellers zu überzeugen. So oft nun ein Wohlthäter kommt, ist nur der Zimmermieter mit den Kindern zu Hause. Der Augenschein spricht für das größte Elend und der Einmieter nimmt die milden Gaben in Empfang. Der, dem sie zugedacht sind, ist im Amt und der „Zimmerherr“ hütet sich wohl, dessen Stolz durch die Ausfolgung der Almosen zu verletzen.

Zwei barmherzige Schwestern im Nonnengewand gehen von Haus zu Haus, von Thür zu Thür und zeigen ein Büchlein vor, in welchem sie ermächtigt erscheinen, für das Kinderspital auf der Wieden milde Gaben einzusammeln. Da stehen ganz hübsche Summen mit den Namen wohlbekannter Personen verzeichnet. Niemand weigert sich, ein so wohlthätiges Werk zu unterstützen, und weniger als zehn Kreuzer wagt keiner zu geben. Die „frommen Schwestern“ ziehen aber nachmittags ihre Masken aus und fahren im Fiaker zum „Heurigen“ hinaus.

Die schmutzigen Bettlerherbergen, wie sie Eugen Sue und Viktor Hugo in ihren Romanen mit verwegener Phantasie und grellen Farben schildern, würde man in Wien vergebens suchen. Doch sind die Bettler keineswegs selten in den Spelunken entfernter Vororte beisammen zu finden, wo sie nach des Tages „Mühen“ in ihrer Weise recht vergnügt und üppig zu leben verstehen. Sie zahlen natürlich nur in kleiner Münze; aber an dieser haben sie selten Mangel. Die Krüppel und Lahmen sind dort die „Honoratioren“. Mancher hätte es nicht mehr nötig, vor der Kirchenthür zu stehen oder von Haus zu Haus zu wandern; aber er thut es, weil er die süße Gewohnheit des Bettelns nicht mehr lassen kann. Auch in diesen Kreisen äußert der Dämon des Geldes seine herrische Gewalt. Der „Glückliche“, den die Natur mit allem ausgestattet, was zum Betteln gehört, steht in hohem Ansehen bei den übrigen, die von der Mutter Natur stiefmütterlich, etwa nur mit einem kleinen Buckel, bedacht sind.

Erst kürzlich ging eine Notiz durch die Zeitungen über einen Bettler, der seit zwanzig Jahren unermüdlich vor der Kirchenthüre in Währing und in den Gasthäusern Almosen einsammelte. Er starb als reicher Mann mit einem Vermögen von 40 000 Gulden. Sein Testament enthielt die Bestimmung, ihn sechsspännig zu begraben. Merkwürdigerweise ist „eine schöne Leich’“ für so viele aus der niederen Volksschicht „ein Ziel, aufs innigste zu wünschen“.

Bettlerkneipe.

Von einem anderen Bettler wird erzählt, daß er sein Einkommen dazu verwendet habe, seinen Kindern eine gute Erziehung angedeihen zu lassen. Sie sind nun verheiratet, angesehen und in guten Stellungen. Zu ihrer tiefen Beschämung gelingt es ihnen aber nicht, ihren Vater zu bestimmen, daß er das Betteln aufgebe. Er bettelt nach wie vor und begegnet manchmal in einem Gasthause einem seiner Kinder, an dem er jedoch still vorübergeht. Die Stammgäste stecken dann wohl die Köpfe zusammen und flüstern einander zu: „Das ist der alte Högel, der Vater von dem Ignaz Högel, der dort am Tische sitzt.“

Vor vielen Jahren konnte man in den Straßen von Wien ein Weib sehen, das ein blasses, schwächliches und äußerst verkrüppeltes Kind auf ihrem Rücken trug. Es war ein Knabe mit einem großen Höcker, die lahmen Beine hatte er von sich gestreckt und die Mutter bereitete ihm mit den rückwärts gekreuzten Händen einen Sitz. Die großen dunklen Kinderaugen blickten schwermütig in die Welt und wenige gingen an dem Jammerbilde vorüber, ohne der Mutter ein Almosen einzuhändigen. So sah man die beiden rastlos durch die Straßen und offenen Märkte wandern, Jahr um Jahr. Der Knabe wurde immer größer und ist nun schon ein Mann, dessen fahles Antlitz ein Bart umrahmt. Das Weib trägt aber ihre Last noch immer so leicht und behende wie damals, als sie noch das kleine Kind auf dem Rücken trug, und noch immer blickt der Krüppel über den Kopf der Mutter in die Welt. Das Weib ist trotz ihrer Jahre noch stämmig und frisch; ihre Muskeln haben sich wohl allmählich an die wachsende Last gewöhnt. Es ist ein bekanntes Straßenbild, das den meisten Wienern schon aufgefallen sein wird. Der Krüppel ist wie verwachsen mit seiner Trägerin und hat das Gefühl, als ob er sich seiner eigenen Füße bediente. Mitleidig sieht ihnen mancher nach und stellt sich die Frage: was wird aus dem Aermsten, wenn seine Mutter, von Alter und Krankheit gebeugt, die schwere Last nicht mehr tragen kann? Dann wird er plötzlich inne, was ihm bisher nicht bewußt gewesen, daß es nicht seine Beine waren, die ihn durch die Welt getragen haben.

In den letzten Jahren hat das Bettlerwesen in den Straßen und Häusern Wiens infolge der strengen Handhabung des Vagabundengesetzes bedeutend abgenommen. Der Bettelindustrie und dem Bettlerunwesen ist leider viel schwerer beizukommen, und hätte die Stadtverwaltung die ungeheuren Summen zur Verfügung, welche alljährlich von Gaunern und Industrierittern der gutherzigen Bevölkerung abgeschwindelt werden, so gäbe es vielleicht in Wien keinen Bettler mehr.