Wiegenlied (Mühsam)
- [32] WIEGENLIED
- März 1915
- Still, mein armes Söhnchen, sei still.
- Weine mich nicht um mein bißchen Verstand.
- Weißt ja noch nichts vom Vaterland,
- daß es dein Leben einst haben will.
- 5Sollst fürs Vaterland stechen und schießen,
- sollst dein Blut in den Acker gießen,
- wenn es der Kaiser befiehlt und will. –
- Still, mein Söhnchen, sei still!
- Trink, mein Söhnchen, von meiner Brust.
- 10Trink, dann wirst du ein starker Held,
- ziehst mit den andern hinaus ins Feld.
- Vater hat auch hinaus gemußt.
- Vater ward wieder Willen und Hoffen
- von einer Kugel ins Herz getroffen.
- 15Aus ist nun seine und meine Lust. –
- Trink von deiner Mutter Brust!
- Freu dich, goldiges Söhnchen, und lach.
- Bist du ein Mann einst, kräftig und groß,
- wirst du das Lachen von selber los.
- 20Fröhlich bleibt nur, wer krank ist und schwach.
- Vater war lustig. Ich hab ihn verloren,
- hab dann dich unter Schmerzen geboren, –
- hörst drum ewig mein bitteres Ach!
- Freu dich, Söhnchen, und lach!
- 25[33] Schlaf, mein süßes Söhnchen, o schlaf.
- Weißt ja noch nichts von Unheil und Not,
- weißt nichts von Vaters Heldentod,
- als ihn die bleierne Kugel traf.
- Früh genug wird der Krieg und der Schrecken
- 30dich zum ewigen Schlummer erwecken...
- Friede, behüt meines Kindes Schlaf! –
- Schlaf, mein Söhnchen, o schlaf...