Werkthätige Nächstenliebe in Amerika

Textdaten
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Autor: Helene Bonfort
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Titel: Werkthätige Nächstenliebe in Amerika
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 23, S. 376, 378–380
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Werkthätige Nächstenliebe in Amerika.

Von Helene Bonfort.


Wohl in keiner anderen Weltstadt mag eine so große Zahl auf ihren Erwerb angewiesener Frauen täglich die Straßen durcheilen als in New York. Self supporting woman – „sich selbst erhaltende Frauen“ – nennt der amerikanische Sprachgebrauch die Tausende, welche aus allen Teilen der Union wie auch aus Europa hierher kommen, um Verdienst und Stellung zu finden.

Es kann daher nicht wunder nehmen, daß hier auch Einrichtungen zum Schutze und zum Wohl dieser Frauen anzutreffen sind, wie sie in solcher Großartigkeit nirgends in Europa bestehen. Die verschiedenartigsten Anstalten bieten arbeitenden Frauen die Ausrüstung an Kenntnissen und Fertigkeiten, sie unterstützen sie im Wettbewerb und bereiten ihnen ein behagliches Asyl zur Erholung von der aufreibenden Tagesthätigkeit. Die Einzelheiten dieser Veranstaltungen sind in Deutschland noch nicht so bekannt, als es im Interesse der Nachfolge zu wünschen wäre. Wir geben daher nachstehend ein gedrängtes Bild von Zweck und Mitteln der amerikanischen „charity“ auf diesem Gebiete, welche vor allen Dingen darauf abzielt, die Selbsthilfe zu kräftigen und demjenigen Beistand zu leisten, der sich selbst rührt, und nur durch solche Veranstaltungen, die der Einzelne nicht zu treffen vermag. Diese werden dann aber auch mit einer in Europa unbekannten Großartigkeit ins Leben gerufen, großenteils von begüterten, geistig hochstehenden Frauen, die sich verpflichtet fühlen, ihren arbeitenden Schwestern werkthätige Hilfe zu leisten. Eine Erscheinung dieser Art ist das „Margaret Louisa Home“ in New York; es ist das Werk von Mrs. Elliott F. Shepard, geb. Vanderbilt.

In der 16. Straße am Union Square zwischen Broadway und der Fünften Avenue, also im Mittelpunkt des Verkehrs und doch in einer ruhigen Seitenstraße, erhebt sich seit Januar 1891 das schlichte, aber architektonisch ansprechende Gebäude aus braunem Sandstein im romanischen Stil, welches unsere Abbildung auf Seite 380 veranschaulicht. Das sechs Stockwerk hohe Haus hat eine 50 Fuß breite Front bei 190 Fuß Tiefe. Selten wird man in einer Großstadt ein praktischen Zwecken gewidmetes Gebäude finden, das so reichlich Luft und Licht einläßt wie dieses; kein Raum in demselben ist dunkel oder halbdunkel, keiner entbehrt der unmittelbaren Verbindung mit der freien Luft durch ein großes Fenster. Die Mauern, Wände und Fußböden sind aus Cement und feuerfesten Steinen hergestellt, die zugleich den Schall dämpfen und dazu beitragen, daß im Innern die wohlthuendste Ruhe herrscht. Die Treppen sind von Stein und haben eiserne Geländer. Die Ausstattung ist durchweg reich und geschmackvoll. Das Erdgeschoß des „Margaret Louisa Home“ umfaßt zwei große Wohnräume und zwei Speisesäle sowie mehrere Bureaus, alle aufs zweckmäßigste und gefälligste eingerichtet. Der hier zu Lande unerläßliche Teppich durchzieht alle Räume; in den Wohnzimmern, deren Wände mit schönen Stichen geschmückt sind, stehen bequeme Diwans und Sessel, große Tische mit Zeitschriften, ein guter Schreibtisch und ein Klavier.

Man hat beim Eintritt in diese wohligen, abends elektrisch beleuchteten Räume durchaus nicht den Eindruck einer Zufluchtsstätte für arbeitende Fremde, sondern den eines mit edlem Geschmack und reichlichen Mitteln ausgestatteten Familienheims. Er wird noch verstärkt durch den Anblick herrlicher Blumensträuße, welche Mrs. Shepard aus ihren Treibhäusern von Zeit zu Zeit herschickt. Andere Landhausbesitzer senden Kasten voll geschnittener Blumen zur Verteilung in die Hospitäler und in die Wohnungen der ärmeren Klassen. Diese feinfühlige Sorge für die edleren Bedürfnisse der Menschennatur scheint nicht „amerikanisch“ und ist es doch so sehr. Denn nirgends zündet ein Appell der Presse in solchen Dingen so rasch als hier zu Lande, wo das Geld leicht ausgegeben wird und wo sich immer gleich Leute finden, die eine neue Anregung bereitwillig ins Werk setzen. Daß auch der Arme Sinn und Liebe für die Schönheit der Natur besitzen möge, scheint niemand zweifelhaft, deshalb teilen die glücklichen Besitzer von Parks und Treibhäusern reichlich von ihrem Ueberfluß mit. Die Wohnungen kleiner Leute, die Rekonvalescentensäle der Hospitäler erhalten ihren Blumenschmuck, ihre Insassen betrachten ihn mit [378] derselben freudigen Dankbarkeit wie die im Augenblick heimatlosen Gäste des „Margaret Louisa Home“, wenn sie, von einem harten Tagewerk geistig und seelisch ermattet heimkehrend, im ersehnten Ausruhen Auge und Herz an dem Anblick und Duft der herrlichen Blütensträuße erquicken.

Die stete Bedachtnahme auf Behagen und Gesundheit der Einwohnerinnen kennzeichnet alle Einrichtungen dieses Hauses. Die Schlafzimmer sind ganz ebenso sorgfältig und gut ausgestattet wie die Wohnräume, die Betten sind vorzüglich; große Waschtische, geräumige Kommoden und Kleiderschränke, ein Bücherbort und mehrere Stühle in jedem Zimmer erfüllen alle billigen Anforderungen an Bequemlichkeit. Saubere Kommodendecken, Nadelkissen und ein Atlasband mit poetischem Gruß an den Gast befriedigen auch den feineren Geschmack, sie nehmen den Räumen den kasernenmäßigen Charakter.

Im ersten und dritten Stock befinden sich die vortrefflich eingerichteten Badezimmer, Waschkabinette und ähnliches; heißes und kaltes Wasser kann in jedem Stockwerk geschöpft werden. Auf jedem Flur findet sich gekühltes Trinkwasser sowie eine große Uhr. Das ganze Haus ist durch Wasserdampf gleichmäßig zu erwärmen und mittels Glühlichts zu erleuchten. Jedes Zimmer erhält durch einen Ventilator frische Luftzufuhr vom Dache aus. Ein ziemlich großer Hof mit Grasplatz, im Sommer durch Blumen belebt und mit Bänken versehen, bietet einen Sitzraum im Freien, den das New Yorker Klima ganz besonders wünschenswert macht; derselbe findet seine Ergänzung auf dem ziegelbelegten Dache, dessen Sitzplätze an heißen Sommerabenden willkommene Kühlung gewähren. Kaum bedarf es der Erwähnung, daß der bequeme, geräumige Aufzug von sieben Uhr morgens bis zehn Uhr abends ohne Unterbrechung auf und nieder fährt.

Der Bodenstock des Hauses dient als Waschküche, die ebenso wie die Küche und Wirtschaftsräume im Keller mit den schönsten neuen Maschinen und Geräten ausgestattet ist; nicht Geldersparnis bei der Einrichtung, sondern Kraft- und Zeitersparnis bei der Bewirtschaftung waren der Maßstab, den Mrs. Shepard ihrem Werk zu Grunde legte. Das Kleinste ist hier mit der gleichen Sorgfalt bedacht wie das Größte und daraus ergiebt sich überall eine bedeutende Zeit- und Müheersparnis. Als Beispiel diene die Besorgung der Wäsche. Am Sonntag früh findet jeder Gast in seinem Zimmer einen gedruckten Wäschezettel, auf dem er nur die Ziffern auszufüllen hat. In jedem Schranke hängt ein Wäschebeutel zur Aufnahme der schmutzigen Wäsche. Montags holt ein Mädchen aus jedem Zimmer Beutel und Wäschezettel ab; Freitags findet der Gast die reine Wäsche auf seinem Bette; Verwechslungen fallen nicht vor; denn Wäschestücke, welche nicht deutlich gezeichnet sind, erhalten in der Waschküche die Zimmernummer des Besitzers in Tinte. Das Waschen und Plätten wird trefflich und sorgfältig ausgeführt; die Preise sind fast um die Hälfte niedriger als sonst in New York.

Geradezu musterhaft ist die Organisation des Betriebes in den großen Speisesälen, welche täglich von etwa 1000 auswärtigen Gästen außer den Insassen des Hauses besucht werden. Es sind nur zweihundert Sitzplätze vorhanden, also findet ein steter Wechsel statt, der auch durch die verschiedenen Beschäftigungen der Damen und ihre verschiedene Essensstunde bedingt ist. Nur zwölf Mädchen bedienen mit vollendeter Ruhe und Sicherheit diese Gäste innerhalb der zwei Stunden, welche für jede Mahlzeit gegeben sind. Der Platz, den ein Gast verläßt, wird alsbald von einem andern eingenommen. Die Mahlzeiten sind im allgemeinen nach Art einer table d’hôte eingerichtet, d. h. zwei oder drei Gänge werden für einen bestimmten Preis geliefert; aber zugleich bietet die Speisekarte eine etwas reichere Auswahl für denjenigen, welcher etwas vermehrte Kosten nicht scheut. Die Zusammenstellung der Speisen für jeden Tag entspricht den Grundsätzen zweckmäßiger Abwechslung in der Ernährung; alles ist vorzüglich bereitet, einfach und schmackhaft gewürzt, wie im Wirtshaus in Portionen angerichtet, die auch einen hungrigen Magen völlig befriedigen; zu jeder Mahlzeit gehört Butter und Brot nach Belieben und eine Tasse Kaffee, Thee oder Chokolade; geistige Getränke werden nicht verabreicht. Dabei ist der regelmäßige Preis für Frühstück und zweites Frühstück bei zwei warmen Gängen je 20 Cents, für das Mittagessen bei drei Gängen 30 Cents. Wenn man diesen Preis in europäisches Geld überträgt und zu dem Ergebnis gelangt, daß die drei täglichen Mahlzeiten somit 3 Mark kosten, so ist man geneigt, das teuer genug zu finden; in Deutschland und Frankreich sind freilich nicht viele von ihrer eigenen Arbeit lebende Frauen, die außer der Miete noch 3 Mark täglich ausgeben können. Aber in New York hat der Dollar (4 Mark) eine Kaufkraft von höchstens 2 Mark, und das „Margaret Louisa Home“ bietet seinen Gästen für 75 Cents dasselbe wofür sie in einem guten, einfachen Restaurant 1.25 Dollar bis 1.50 Dollar zahlen würden.

Während die Benutzung des Restaurants jeder Frau ohne Unterschied freisteht, ist das Unterkommen im „Margaret Louisa Home“ an gewisse Bedingungen geknüpft. Nur selbsterwerbende Protestantinnen finden Unterkunft; ihre Achtbarkeit muß durch mündliches oder glaubwürdiges schriftliches Zeugnis bestätigt werden. Ein Zimmer mit einem Bett kostet einen halben Dollar, ein solches mit zwei Betten achtzig Cents pro Tag. „Geld genug!“, wird der europäische Leser sagen. Allein in Hotels sowohl als in Boarding-Häusern stehen die Preise bedeutend höher! Das „M. L. Home“ nimmt keinen Gast länger als 35 Tage in einem Kalenderjahre auf. Als ich der Sekretärin der Anstalt gegenüber äußerte, diese Bestimmung scheine mir grausam, antwortete sie lächelnd: „Ohne dieselbe wären Sie nicht hier. Jede der zwölftausend Frauen, die in den drei Jahren seines Bestehens in diesem Hause eingekehrt sind, wäre ganz und gar hier geblieben oder schleunigst wiedergekommen, wenn die Bestimmung von den 35 Tagen nicht gälte.“ Bei näherer Prüfung mußte ich ihr recht geben: es ist zweckmäßiger, möglichst vielen vorübergehend Hilfe zu bieten, als etwa hundert dauernd zu beherbergen.

Selbstverständlich giebt es im „M. L. Home“ Hausgesetze, doch nur solche, die auch in jeder gesitteten Familie beobachtet werden. Das Haus steht durchaus im Dienst der Bewohner; die Verwaltung erhebt weder den Anspruch, die väterliche Vorsehung und Kontrolle der Gäste zu spielen, noch den, ihre Dankbarkeit in Anspruch zu nehmen. Der Eintretende hat vom ersten Schritt über die Schwelle bis zum Abschied das Gefühl, auf dem Boden eines sehr einfachen Rechts- und Geschäftsverhältnisses zu stehen, während anderseits jede Frage um Auskunft, jedes Ersuchen um Rat oder Beistand von den verschiedenen Sekretärinnen mit der größten Sicherheit und Höflichkeit beantwortet wird.

Die Menschen sind hier nicht in dem Sinne freundlich wie in Deutschland; sie fragen nicht leicht nach persönlichen Angelegenheiten oder erzählen von den ihrigen; es fehlt das gemütliche Gemeinsamkeitsgefühl, das auch Fremde leicht vertraulich macht. Dazu rauscht das Leben hier zu eilig dahin; es gilt auch nicht einmal für höflich, in die Angelegenheiten Fremder selbst in der freundlichsten Absicht einzudringen. Dagegen sind die Leute hier durchweg sehr hilfsbereit; sie erfassen mit schnellem Blick, was dem Nachbar fehlt, und leisten Beistand, noch ehe er erbeten worden ist, in der anspruchslosesten, natürlichsten Weise. Diese Schnelligkeit des Denkens, Sprechens und Handelns ist vielleicht einer der auffallendsten Vorzüge im geistigen Leben der Nordamerikaner und ganz besonders der gebildeten Frauen. Ihre Höflichkeit ist eine stille und steht ganz im Gegensatz zu der französischen, die sich in vielen artigen und verbindlichen Worten äußert. Dies tritt deutlich hervor, wo man wie im „M. L. Home“ viele Frauen auf verhältnismäßig engem Raume zusammensieht. Da nimmt in den Wohnzimmern keine der anderen eine Zeitung oder den Platz an dem einzigen Schreibtisch fort, ja, keine giebt sich je den Anschein, auf das zu warten, was die andere im Gebrauch hat, mag sie es noch so sehr wünschen; bei der allabendlich um 7 Uhr stattfindenden kurzen Familienandacht, an der man teilnimmt, wenn man will, und der man stillschweigend aus dem Wege geht, wenn man nicht teilnehmen will, sieht jede darauf, daß die andere und besonders der Neuankömmling einen guten Platz hat.

Es entsteht keine Reiberei um die Benutzung der Badezimmer oder der Plätze im Restaurant; mag der Andrang noch so stark sein, jede Besucherin hält stillschweigend ihre Reihenfolge inne; denn sie weiß, daß von der Ordnung und Gesetzmäßigkeit des Ganzen auch ihr eigenes Wohl abhängt. Niemand versucht, gegen die Hausordnung von den Stubenmädchen persönliche Dienste in Anspruch zu nehmen oder sie durch Verabreichung von Trinkgeldern zu besonderen Leistungen zu bestimmen. Für Botengänge stehen Leute gegen Entgelt zur Verfügung. Eine etwas bittere Entbehrung ist es für die Europäerin, daß sich niemand der Reinigung der Kleider und Stiefel unterzieht, was bei dem völlig morastartigen Zustand der Straßen im Winter und dem Staubmeer im Sommer zehnfach nötig wäre. Aber das ist nun einmal nicht [379] landesüblich. Jeder Mann läßt sich auf der Straße von Negerhänden den Rock bürsten und die Stiefel wichsen; die ihrer Fesseln entledigten Frauen dieses freien Landes aber müssen das eben selbst thun, nicht nur im „M. L. Home“, sondern auch in Privat- und Gasthäusern, in denen nicht gerade Luxus herrscht. Dagegen ist wieder die Annehmlichkeit hervorzuheben, daß man nirgends ein Trinkgeld zu geben hat und somit einer unnützen Ausgabe sowie der Sorge um das etwaige Zuviel oder Zuwenig völlig enthoben ist.

Die Leitung des „M. L. Home“ durch eine tüchtige, erfahrene Vorsteherin ist geradezu musterhaft zu nennen; dank ihrer Wirksamkeit und der jener vorerwähnten Sekretärinnen hat sich das Haus in der kurzen Zeit seines Bestehens ungemein gedeihlich entwickelt.

Seine Stifterin konnte natürlich nicht daran denken, das Schicksal einer so wichtigen Anstalt für die Zukunft in den Händen von Einzelnen zu lassen. Sie hat deshalb das auf ihre Vornamen getaufte Heim dem Christlichen Frauenverein der Stadt New York geschenkt und den Bauplatz desselben so gewählt, daß es von der Rückseite mit dem Gebäude dieses Vereins durch einen Gang verbunden ist.

The Young Womens Christian Association“ heißt dieser seit 1870 bestehende ganz eigenartige Frauenverein, der seinen arbeitenden Mitgliedern praktische, gesellschaftliche und geistliche Stärkung gewährt, letztere in durchaus unaufdringlicher Weise durch die einzige Veranstaltung einer Bibelklasse, d. h. einer von der Kaplanin des Vereins geleiteten religiösen Unterrichts- und Erbauungsstunde, an welcher aber bis jetzt nur die Hälfte der Mitglieder beteiligt ist. Die übrigen empfangen trotzdem den Fachunterricht in den Schulen des Vereins, welcher bezweckt, die zur Arbeit Willigen auch dafür tauglich zu machen und ihnen somit die größte Wohlthat zu erzeigen. Denn wer in Amerika vorwärts kommen will, muß bestimmte Leistungen in seinem Fach aufweisen können.

Das Haus des Vereins, dessen Ansicht unsere Leser ebenfalls auf Seite 380 finden, liegt in der 15. Straße zwischen der Fünften Avenue und dem Broadway, also in der besten Geschäftsgegend. Trotzdem herrscht die größte Ruhe in dem schönen, geräumigen Gebäude; zwölfhundert Frauen durchschnittlich gehen binnen 24 Stunden darin ein und aus und genießen die Wohlthaten seiner vorzüglichen Einrichtung.

In erster Linie ist hier zu nennen der Fachunterricht der verschiedenartigsten Schulen (Näh-, Schneider- und Putzmacherkurse, Handels- und Kunstgewerbeschulen, Unterricht im Maschinenschreiben und Stenographieren, Haushaltsschulen zur Heranbildung von Beschließerinnen und Haushälterinnen, in welchen auch den eingewanderten Europäerinnen Gelegenheit geboten wird, die Erfordernisse eines amerikanischen Haushalts kennenzulernen u. a. m.). Ebensoviel als die hier gebotenen Kenntnisse bedeutet für so viele, die mangelhaft erzogen herkommen, die Gewöhnung an Ordnung, Pünktlichkeit, Geduld, Aufrichtigkeit und Höflichkeit, kurz, die von der Lehre unzertrennliche Erziehung, deren sie teilhaftig werden.

Die weiteren, von jährlich über zweitausend Frauen in Anspruch genommenen Leistungen des Vereins sind die Stellenvermittelung, die Wohnungsvermittelung, das allen Besucherinnen offen stehende Wohnzimmer und die Bibliothek.

Die Stellenvermittelung besonders bewältigt ihre ungeheure Aufgabe dank einer vorzüglichen Organisation mit einer angesichts der riesenhaften Zahlen unmöglich erscheinenden Berücksichtigung der persönlichen Eigenschaften und der Bedürfnisse des Arbeitsmarktes. Jede weibliche Arbeiterin, mit Ausnahme der Dienstboten, die sich im Vereinsbureau vorstellt und annehmbare Zeugnisse über Charakter und Leistungsfähigkeit vorlegt, erhält vorläufig anständige Unterkunft und womöglich entsprechende Beschäftigung nachgewiesen. Gleichzeitig werden durch Briefwechsel nach allen Erdteilen die Angaben der Betreffenden geprüft und das Ergebnis sowie die fernere Führung in übersichtlichen Listen niedergelegt. Unter keinen Umständen, und scheine der Fall noch so dringend, wird die Betreffende einem Arbeitgeber empfohlen, ehe der Verein die Sicherheit hat, daß sie Empfehlung verdient. Aus dieser Gepflogenheit stammt das große Vertrauen der Arbeitgeber. Sie zahlen willig vierfach soviel Einschreibegebühr als die Arbeiterin – im Gegensatz zu Europa, wo man sie durch das entgegengesetzte Prinzip anzuziehen sucht – weil sie ihre Rechnung bei dieser Art der Geschäftsführung finden.

In einem besonderen Bureau werden die Adressen der vielen hundert von dem Verein beaufsichtigten Quartier- und Kostgeber, welche zu vorläufiger Aufnahme bereit sind, umsonst verabfolgt – eine unschätzbare Wohlthat für fremde, unerfahrene Mädchen! Dasselbe Bureau verwaltet zugleich das Sommerheim des Vereins an der See, das Frauen aller Berufsarten für zehn Dollar auf vierzehn Tage Kost, Logis und die Reise von New York dorthin gewährt.

Die sehr reichhaltige, vortrefflich eingerichtete und geleitete Bibliothek des Vereinshauses steht jeder Frau vom vierzehnten Jahr an offen, um nachzuschlagen, Auszüge zu machen oder Zeitschriften zu lesen; auch können die Bücher zu häuslicher Benutzung entliehen werden. Der Umstand, daß jede Leserin das gewünschte Buch selbst vom Bort nehmen darf, spricht für einen hohen Grad von Anstand und Haltung dieser aus allen Schichten der Bevölkerung zusammengesetzten Lesegesellschaft! In dem Zeitschriftenzimmer des Vereins liegen 123 Zeitungen und Zeitschriften aus. Zum Lobe der Ruhe, Ordnung und der behaglichen Stimmung, welche in den Bibliotheksräumen herrschen, kann man kaum genug sagen.

Eine ganz merkwürdige Blüte treibt das Vereinsleben der „Young Womens Christian Association“ in ihrer sogenannten „Society of United Workers“. Diejenigen Mitglieder der Bibelklasse, welche Zeit und Neigung dazu haben, bilden einen engern Verein im Vereine. Ihr Zweck ist, die Vorteile, welche die „Association“ bietet, weiteren Kreisen von Hilfsbedürftigen bekannt zu machen. Die Stätte ihrer Hauptwirksamkeit ist das sog. Wohnzimmer des Vereinshauses, ein schöner, großer und mit dem vollendetsten Komfort ausgestatteter Raum, der tagsüber den verschiedenen Komiteesitzungen dient. Abends aber ist er, nach Bedarf gut durchwärmt und erleuchtet, für alle die geöffnet, welche ihn besuchen wollen, also auch für Nichtmitglieder. Bücher, illustrierte Werke und Gesellschaftsspiele stehen ihnen zur Verfügung; jede fremde Besucherin wird von einer leitenden Dame bewillkommnet und mit den Veranstaltungen des Vereines bekannt gemacht. Aus diesen zwanglosen Abendbesuchen hat sich durch die Thätigkeit der „United Workers“ eine Kette von belehrenden und unterhaltenden Zusammenkünften herausgebildet.

Diese Abende sind immer, auch in den Sommermonaten gut besucht. In der heißen Zeit ist ja das Leiden derer, welche die dunstige Stadt nicht verlassen können und deren Wohnung keinen Schutz vor der Glut bietet, die durch jede Ritze eindringt, vollends unerträglich; Tausende von Unglücklichen suchen dann in Verzweiflung nach der Arbeit Kühlung auf der Straße und den freien Plätzen der unteren und mittleren Stadt; der Weg zum Central-Park ist zu weit, um zu Fuß zurückgelegt zu werden. Da gehen die „United Workers“ hinaus und bringen Hunderte von Mädchen, welche draußen allen Gefahren einer Weltstadt und einem qualvollen körperlichen Zustand preisgegeben sind, in ihr kühles Vereinshaus, wo sie dieselben durch verständnisvolle Teilnahme zu einer besseren, vernünftigeren Lebensführung anregen. Manche von diesen Gästen werden eifrige Mitglieder des Vereins und suchen dann ihrerseits seine Segnungen auszubreiten. Eine andere Gruppe der „United Workers“ widmet sich dem außerordentlich verdienstvollen Werk, unerfahrene Einwandrerinnen gleich am Landungsplatze in Empfang zu nehmen und für ihre Unterbringung und Weiterbeförderung Sorge zu tragen. Mit dem Schiff angekommene junge deutsche Mädchen können nichts Besseres thun, als sich diesen durch ein blaues Abzeichen mit der Inschrift: „Young Womens Christian Association, Travellers Aid“ kenntlichen Damen anzuschließen und sich sofort mit ihnen ins Vereinshaus zu begeben, um Unterkunft und Arbeit zu finden.

Nach dem Vorhergesagten ist es wohl einleuchtend, wie vorteilhaft dabei gute, durch Amt oder Geistliche beglaubigte Zeugnisse sind. Auch die Kenntnis der englischen Sprache hilft zum raschen Vorwärtskommen und sollte durchaus gewonnen werden, ehe man nach Amerika geht!

Großartige Leistungen, wie sie dieser Verein aufweist, sind nur durch eine ganz vorzügliche Organisation zu erreichen, durch zweckmäßigste Arbeitseinteilung, sowie durch Intelligenz und Thatkraft der leitenden Persönlichkeiten. Alles dies ist hier vorhanden, dazu herrscht eine weitgehende Teilung der Arbeit. Die Vereinsschützlinge von gestern sind schon morgen die Spender der praktischen Unterstützung und helfen andern, wie ihnen geholfen wurde. Die freiwillig arbeitenden Damen, 300 an Zahl, gliedern sich in 14 verschiedene Komitees mit Vorsitzenden, Sekretärinnen und wenigen besoldeten Beamten.

[380] Die „Young Womens Christian Association“ nennt nur diejenigen aktive Mitglieder, welche regelmäßige Arbeit verrichten, nicht die Spender bloßer Geldbeiträge. Unter ersteren würde man freilich vergeblich Frauen suchen, die aus Bescheidenheit oder Mangel an Selbstvertrauen ängstlich bemüht sind, in den Hintergrund zu treten; da hat jede ihre eigne Meinung, ist imstande, sie klar und deutlich in der Versammlung auszusprechen, scheut sich nicht, im Lauf ihres Wirkens auf eigne Hand vorzugehen, und hält dabei doch genau die Schranken inne, welche das Vereinsleben dem Einzelnen zieht. Es wäre verfehlt, wenn man diese Thatsachen zu einer unbedingten Verherrlichung der amerikanischen Frauen ausbeuten wollte: ihnen fehlt manches, was die deutschen Frauen besitzen; allein sie besitzen auch Eigenschaften, die sich diese noch aneignen müssen, um den Forderungen unserer Zeit völlig zu genügen.

In Deutschland liegen die Verhältnisse ja ganz anders: Staat und Städte haben dort vielfach die Gründung von Kunstgewerbe-, Handels-, Industrie- und sonstigen Fortbildungsschulen übernommen, und gerade deshalb trat bis in neuere Zeit die Notwendigkeit, selbst dergleichen ins Leben zu rufen, weniger an die Frauenwelt heran. Aber mit der wachsenden Lebensschwierigkeit und der sich stets vermehrenden Zahl alleinstehender, auf ihren Erwerb angewiesener Frauen wird die Forderung von Hilfe für die wirtschaftlich schwachen immer unabweisbarer. Man ist neuerdings zur Erkenntnis gelangt, daß das vor dreißig Jahren als Evangelium gepriesene „Gehen lassen“ auf wirtschaftlichem Gebiet neben den guten auch recht schlechte Früchte getragen hat: ein Blick in die Arbeiterinnen- und Dienstbotenverhältnisse der Großstädte liefert die Belege hierfür.

Datei:Die Gartenlaube (1896) b 0380.jpg

Das Haus der „Young Womens Christian
Assosiation“ in New York. 

Das „Margaret Louisa Home“
 in New York.

Auf allen Seiten rühren sich denn auch bereits die werkthätigen deutschen Frauen, um hier Abhilfe zu schaffen. Es ist durch den Allgemeinen Deutschen Frauenverein, den Badischen Frauenverein, den Letteverein, die Stellenvermittelung des Deutschen Lehrerinnenvereins u. a., sowie durch die Thätigkeit einzelner hervorragender Frauen schon viel geschehen, aber es bleibt noch unendlich viel zu thun, bis auch bei uns eine geistige und wirtschaftliche Selbständigkeit der arbeitenden Frauen erreicht sein wird, wie sie heute schon in Amerika besteht. Es müssen noch in ganz anderem Maße als bisher die Hausfrauen und Mütter, sie, die bisher durch häusliche Tugenden allein ihre Pflichten zu erfüllen glaubten, sich thätig der Sache mit annehmen. Ziemt es doch vor allem denjenigen, welche das große Glück der geschützten Häuslichkeit genießen, ihren draußen hart um die Existenz ringenden Schwestern die hilfreiche Hand zu bieten! Auch in Deutschland würden Asylhäuser, Handfertigkeitsschulen und Stellenvermittelungen wie die oben geschilderten von unberechenbarem Segen für Tausende sein. Sie erfordern starke Geldmittel und können sich selbst in dem praktischen Amerika nicht aus eigenen Einnahmen erhalten. Nun, auch in Deutschland ist so viel Wohlstand vorhanden, daß die Frauen der oberen Klassen sehr wohl durch Jahresbeiträge, Schenkungen und Legate den Bestand solcher Anstalten sichern können. Es gilt nur, im Bewußtsein der allgemeinen Menschenpflicht, die Männern und Frauen gemeinsam ist, mit frischem Mut und Vertrauen in die eigene Kraft an die Aufgabe zu gehen!

In jeder Großstadt lassen sich hundert Frauen aufsuchen, die eintausend Mark von ihrem Vermögen wegzugeben die Mittel, die Macht und das Recht haben; wenn sie sich zusammenthäten, drei oder vier aus ihrer Mitte wählten, denen unbeschränkte Vollmacht zur Ausführung verliehen würde, wie schnell wäre zum Besten der arbeitenden Schwestern ein Großes geschaffen!

Der Geist werkthätiger Menschenliebe ist an kein Land, an keine Nation gebunden, er vermag überall die Härten des Daseins zu mildern und den unvermeidlichen Schäden der Civilisation neue, vorher ungekannte Wohlthaten entgegenzustellen.

Was weibliche Thatkraft und Ausdauer vermag, davon liefern die amerikanischen Wohlfahrtseinrichtungen ein glänzendes Beispiel. Vieles Einzelne mag bei uns anders angefaßt und eingerichtet werden müssen, im ganzen werden aber doch dieselben Ziele anzustreben sein, welche dort im „nüchternen Lande des Dollars“ eine so große Zahl idealgesinnter Menschen zur praktischen That vereinigt und ihrem Wirken so große Erfolge gesichert haben.