Weihnachtsüberraschungen

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Autor: Arthur Sewett
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Titel: Weihnachtsüberraschungen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 26, S. 821–825
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1898
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Weihnachtsüberraschungen.

Humoreske von Arthur Sewett. Mit Illustrationen von G. Mühlberg.

Wir wollten uns letzte Weihnachten recht einschränken. Wir hatten im Sommer eine große Reise gemacht und manche andere außerordentliche Ausgabe gehabt, da mußte das Fest um so bescheidener ausfallen.

Meine gute kleine Frau! Da stand ich und las ihren Wunschzettel. Lauter einfache nützliche Gegenstände – kein Putz – kein Schmuck – nicht einmal ein Buch!

Ich war gerührt über diese Selbstverleugnung; ich hätte ihr so gerne etwas geschenkt, das mehr nach ihrem Herzen war als diese rein praktischen Dinge. Es fiel mir bald auch mancherlei ein; doch immer meldete sich zugleich auch ein „aber“ dagegen, denn die betreffende Anschaffung wäre wider den Etat gegangen. Standhaft aber mußte ich diesmal bleiben, das hatte ich mir fest vorgenommen. Ich sann und sann … Nie hätte ich geglaubt, daß die Wahl eines Geschenkes für mein bescheidenes Frauchen mir so viel Kopfzerbrechen verursachen könnte!

Endlich eines Morgens kam mir beim Aufstehen – die Kinder lärmten lustig im Nebenzimmer – ein Gedanke, der mir wie eine Erlösung schien. Meine Frau hatte schon öfter darüber geklagt, daß ich bei aller sonstigen Freigebigkeit mich so schwer entschlösse, die Kinder photographieren zu lassen. Solch ein Bild, welches die schnelle Entwicklung der Kinder in ihren einzelnen Phasen festhalte, sei eine Erinnerung fürs ganze Leben! Andere Eltern ließen, so wies sie mir nach, ihre Kleinen alle halben Jahre aufnehmen, und so hübsch und niedlich wie jene Kinder waren unsere doch mindestens auch! Dennoch waren beide erst ein einziges Mal, und das in ihrem ersten Lebensjahr, als ihre Reize noch gar zu wenig entwickelt waren, beim Photographen gewesen. Und unsere Hanna vollendete jetzt bereits ihr zweites, unser Oskar sogar sein drittes Jahr! Jetzt lohnte sich’s wirklich, an eine neue Aufnahme zu denken. Meine Frau hatte recht; sie hatten sich, in der letzten Zeit zumal, riesig entwickelt, und es war nicht zu verwundern, daß alle unsere Bekannten von ihnen ein Bild begehrten!

Unwillkürlich schritt ich zur Thür nach dem Kinderzimmer, aus welchem die Stimmen der Kleinen so lustig herüberklangen. Ich öffnete, und mit strahlenden Augen und hellem Jubelgeschrei liefen sie auf mich zu und sagten mir Guten Morgen. Oskar und Hanna, eben frisch angezogen, sahen wirklich ganz allerliebst aus. Mein Vaterstolz hob sich. Ja, das war’s! Ich wollte die Kinder in aller Heimlichkeit zum Photographen bringen, und zu Weihnachten wollte ich mich dann an dem lieben erstaunten Gesicht meiner Frau erfreuen.

Wie hätte ich ahnen können, auf wie viel Schwierigkeiten dies Vorhaben stoßen würde!

Mein erster schüchterner Versuch, die Kinder auf eine Stunde am Tage loszubekommen, scheiterte an dem energischen Widerstande ihrer sorglichen Mutter, die das Wetter zu stürmisch fand. Auch war ihr mein plötzliches Vorhaben, mit den Kindern allein spazieren zu gehen, zu überraschend, um nicht durch das Ungewöhnliche zum Widerspruch gereizt zu werden. Ich hatte einen derartigen Wunsch bisher ja auch niemals geäußert.

Mein Mißgeschick wuchs.

Auf den Sturm folgte eine Regenperiode, so andauernd, so hartnäckig, daß ich in förmliche Verzweiflung geriet.

Aber daran kehrte sich der Regen nicht. Nur mit um so hämischerer Schadenfreude gurgelte er tagaus tagein die Dachrinnen in dicken Strähnen herab, nur um so ärger schlug er gegen die Fensterscheiben. Schon waren es nur noch acht Tage bis Weihnachten, und wenn es noch lange so weiter ging, mußte mein schöner Plan rettungslos zunichte werden.

Da – endlich!

Eines Morgens erwache ich und siehe, das gräuliche Gegurgel draußen hat aufgehört. Ich gehe ans Fenster und sehe vergnügt, daß schöner klarer Frost eingetreten ist.

Und als ich des Mittags angesichts meines großen Vorhabens eine Stunde früher als gewöhnlich aus dem Bureau nach Hause komme, scheint die liebe Sonne so hell und freundlich in das Zimmer herein, als wolle sie mir frischen Mut und neues Hoffen in das zagende Herz senden.

 „Jetzt muß
Gehandelt werden, schleunig, eh die Glücks-
Gestalt mir wieder wegflieht überm Haupt,
Denn stets in Wandlung ist der Himmelsbogen“

sagte ich mit Wallenstein.

Und ich sollte Glück haben.

Meine kleine Frau war nicht zu Hause. Ich raffe also den Paletot meines Jungen, Hannas neuen roten Plüschmantel, Mütze, Gürtel, Kapotte, Gamaschen, Gummischuhe und was mir sonst noch in die Hände fällt, eilends zusammen und will die Kinder eben anziehen – da – nein, so ging es ja nicht!

Die Kinder hatten ihre ältesten Hauskleider an, die noch dazu die Spuren ihrer intimen Bekanntschaft mit Fußboden und Wänden sichtbar an sich trugen. Dazu waren sie nicht ordentlich gewaschen und gekämmt. So konnten sie unmöglich photographiert werden. Sie mußten umgezogen werden vom Kopf bis zu Fuß – es half nichts!

Aber wie sollte ich diesen Schritt, ein solches bei mir ganz ungewohntes Eingreifen in die Befugnisse meiner Frau rechtfertigen, ohne ihrem klugen Sinne sogleich mein ganzes Vorhaben zu enthüllen?

„Frisch ans Werk, mein Kopf!“ sprach ich mit Hamlet. Und da kam mir auch gleich ein Einfall.

Bei dem schönen Wetter würde es meine Frau schon eher begreiflich finden, wenn ich einmal allein mit den Kindern einen Besuch machen wollte. Sie hatte erst kürzlich geklagt, daß das Wetter zu schlecht sei, einen durchaus nötigen Besuch bei Tante Heim, der Patin von Hanna, zu machen, welche immer so freundlich gegen die Kinder war.


Mein schlaues Anerbieten, ihr diese Mühe abzunehmen, sobald es das Wetter erlaube, hatte freilich nicht das rechte Verständnis gefunden – doch brauchte ich das ja nicht bemerkt zu haben!

Ich klingelte also schleunigst dem Mädchen, damit sie die guten Sachen für die Kinder brächte und sie umzöge – so schnell als möglich, bevor meine Frau nach Hause kam.

Und siehe – ein wahrer Glücksstern schien heute endlich über meinen Entschlüssen zu schweben – da kam schon das Kindermädchen, bevor ich die Klingel nur angerührt, und als hätte sie meine geheimsten Gedanken erraten, trug sie das [822] feinste Kleid für Hanna, den besten Anzug für Oskar über dem Arm und Stiefelchen und Schuhe und Strümpfe – alles so schön und so blank und so zierlich, wie es mir noch nie im Leben erschienen war.

Und dazu machte sie ein so verschmitztes Gesicht, daß ich ganz stutzig wurde.

Wie?! Sollte ich mich doch am Ende verraten haben?! Wollte sie mir andeuten, daß sie Mitwisserin meines ängstlich gehüteten Geheimnisses war?!

„Was wollen Sie mit den Sachen?“ fragte ich sie nicht ohne einige Befangenheit.

„Ich sollte die Kinder anziehen – die gnädige Frau wird gleich wiederkommen und sie abholen. Sie wollte einen Geburtstagsbesuch mit ihnen machen.“

Ich stand da – wie vom Blitze getroffen.

Horch! Ein lautes Schellen der Hausklingel – noch habe ich mich nicht von meiner Erstarrung erholt, da tritt meine kleine Frau ins Zimmer in feinster kleidsamer Toilette, so lächelnd und freundlich, wie ich sie schon lange nicht gesehen.

„Du schon hier, liebster Mann?! Das schöne Wetter lockte dich gewiß ein wenig früher von deinen Akten fort. Aber wie schade – nun kann ich nicht einmal mit dir spazieren gehen; ich muß mit den Kindern fort –“

„Wo willst du denn hin?“ frage ich und zwinge mich zu der harmlosesten Miene von der Welt.

„Nur einen kurzen Besuch, mein Schatz! Bei Tante Heim! Du weißt ja, daß sie uns erwartet.“

O weh! Meine schöne, wohlüberlegte Ausrede! Es bedurfte keiner geringen Anstrengung, um meine Ruhe zu bewahren.

Und während meine beiden Kleinen mit bewundernswerter Artigkeit sich in all die herrlichen Sachen einhüllen lassen, überlege ich krampfhaft, wie es möglich wäre, mich in die Lage zu finden, ohne meinen Plan aufzugeben.

„Weißt du,“ sagt meine Frau und knöpft dem Jungen den letzten Knopf an seinem Sammetjackett zu, „du solltest eigentlich mitkommen, Tante Heim würde sich jedenfalls sehr freuen.“

„Ich danke – danke,“ murmele ich zerstreut und grübele weiter. Ich muß zu einem Entschluß kommen – es ist die höchste Zeit, denn auch die Kleine ist inzwischen fertig geworden und sieht mit den frischgekämmten goldenen Locken, die ihr reizendes Gesichtchen umwallen, und in dem weißen Kleid mit den blauen Vergißmeinnicht, die Tante Heim darauf gestickt hat, so allerliebst aus, daß ich sie mit mehr neidischen als freudigen Gefühlen betrachten muß.

Endlich fasse ich mir ein Herz. „Wirst du lange bei Tante Heim bleiben?“ frage ich möglichst gleichgültig meine Frau.

„Nein, lange nicht – weshalb, liebster Mann?“

„Es ist sehr komisch, liebste Frau,“ beginne ich nun, „wirklich sehr komisch – die reine Gedankentelegraphie – wir begegnen uns heute auf demselben Wunsche.

Ich wollte nämlich auch mit den Kindern einen Besuch machen – zwar nicht bei Tante Heim, aber bei meinem Kollegen Müller! Du weißt, sie sind kinderlos und erst kürzlich hierher versetzt“ – glücklicherweise war mir unter meinen vielen Kollegen ein solches Ehepaar eingefallen – „sie hegen den großen Wunsch, unsere Kinder, die sie schon einigemal auf der Straße getroffen haben, bei passender Gelegenheit bei sich zu sehen und ihnen ihre große Sammlung ausländischer Vögel, ihren Stolz, zu zeigen. Erst heute bei dem schönen Wetter äußerte der Kollege diese Bitte; damit nun aus solchem Besuch nicht gleich ein großer Verkehr würde – ich weiß, du bist nicht dafür – versprach ich, vor Tisch allein mit den Kindern für einen Augenblick vorzukommen. Findest du das nicht auch richtig?“

„Gewiß, lieber Mann, sehr richtig – aber heute –“

„Nun – ich dachte, ich könnte die Kinder vielleicht von Heims abholen, da sie doch einmal angezogen sind, und dann gleich diesen Besuch abmachen.“

„Aber wo denkst du hin, liebster Mann – so bald kommen wir bei Heims denn doch nicht los – nein, du kannst ja morgen mit den Kindern zu Müllers gehen – doch nun Adieu, wenn du nicht mitkommen willst.“

*  *  *

Also morgen!

Das war nun meine letzte Hoffnung. Und richtig – als ich aus dem Bureau nach Hause komme, sind die Kinder auch schon fertig und geputzt.

Der Junge hat das blaue Sammetjackett an und die Kleine das vergißmeinnichtbestickte Kleid, und beide sehen so niedlich und sauber aus, daß mir das Herz im Leibe lacht.

„Grüße mir Müllers schön!“ ruft meine Frau mir nach, und endlich sind wir auf der Straße.

Nun schnell zum Photographen!

Zu welchem?

Es gab deren viele. Meine kleine Frau rühmte immer den am Kohlenmarkt am meisten – aber, nein, zu dem wollte ich nicht. Sie könnte bei einem Bekannten doch noch auf meine Spur kommen.

[823] Da traten wir auch schon in den Empfangssalon eines neueren, aber sehr renommierten Photographen in einer etwas abgelegenen Straße. Der Salon lag zu ebener Erde.

Die Kinder waren bereits ungeduldig geworden – ich beschwichtigte sie durch allerlei Versprechungen und hielt sie so in einer gewissen Spannung. Aber nur für kurze Zeit!

Als man uns einige Augenblicke warten ließ, bestand ihre Geduld diese harte Probe nicht mehr. Der Junge begann gegen einige Bilder, die in kostbarem Rahmen auf kleinen Staffeleien standen, so handgreiflich zu werden, daß ich zu thun hatte, mit Aufbietung aller meiner Kräfte ihrem Sturze entgegenzuarbeiten. Die Kleine aber, um die ich mich infolgedessen wenig gekümmert hatte, begann plötzlich herzzerbrechend zu weinen und schrie nach der Mama. Ich sprach ihr gut zu, ich tröstete sie und liebkoste sie und trocknete ihr die nassen, glühenden Wangen und schmeichelte um sie herum, wie ich es nie einem weiblichen Wesen gegenüber gethan, damit sie nur aufhörte mit dem entsetzlichen Weinen, das ihr süßes Gesichtchen so fürchterlich entstellte. Alles vergeblich! Endlich versprach ich ihr die schönste Puppe von der Welt, die ihre Augen von selber auf und zu machen könnte – das half für einige Augenblicke. Natürlich wollte nun aber auch Oskar etwas gekauft haben. Auch das sagte ich zu. Da erschien wie ein rettender Engel eine junge Dame und fragte nach meinem Begehr.

„Ich bitte, die Kinder photographieren zu wollen.“

„Heute?“

„Jawohl – sogleich.“

„Das thut mir unendlich leid – aber jetzt – unmittelbar vor dem Feste, ist es unmöglich, ganz unmöglich. Eben ist Herr Schreiber oben – Sie kennen ihn ja, unsern Heldentenor. Der läßt sich in zehn verschiedenen Rollen aufnehmen. Dann warten noch zwei Herrschaften, die vorgemerkt sind. Sie hätten sich anmelden sollen!“

Ich hätte mich anmelden sollen!

Ja, sie hatte recht. So lange und viel hatte ich über meinen Plan gegrübelt und auf diesen einfachsten aller Gedanken war ich nicht gekommen!

Was half jetzt alle Reue? Ich mußte unverrichteter Sache nach Hause gehen. Und das war das Resultat aller Mühen und Sorgen, die Kinder endlich so weit zu bekommen!

Aber ich war klug geworden. Ich verließ den Empfangssalon des Photographen nicht eher, als bis die Dame uns für morgen genau zu derselben Stunde vorgemerkt hatte.

Sowie wir draußen waren, bestanden die Kinder gebieterisch auf ihrem Schein. – Gegen meine Versuche, die Einlösung auf morgen zu verschieben, zeigten sie sich taub – ja um den Mund der Kleinen zeigten sich schon wieder die unheildrohenden Schüppchen. So eilte ich denn in den nächsten Spielladen und kaufte, was sie wollten.

Zu Hause erregte natürlich mein Einkauf die nicht unberechtigte Kritik meiner Frau. So kurz vor Weihnachten – solche Ausgaben! Und gerade in diesem Jahr, wo wir so aufs Sparen angewiesen waren!


Beinahe hätte ich die Schuld auf Müllers gewälzt und gesagt, die Geschenke stammten von ihnen: doch fürchtete ich, daß mich dies in Widersprüche verwickeln könnte, und rechtfertigte mich damit, die Kinder wären so enttäuscht gewesen, weil bei Müllers niemand außer dem Mädchen zu Hause gewesen sei. Um sie zu entschädigen, habe ich sie dann zu einem Spielwarenhändler geführt und die paar Kleinigkeiten für sie gekauft.

Meine Frau war über Müllers Rücksichtslosigkeit ganz empört.

„Du hattest dich doch angemeldet.“

„Das ist es ja eben – ich habe mich, scheint’s, im Datum geirrt. Wir kamen einen Tag zu früh.“

Meine Frau erklärte sehr energisch, sie würde die Kinder nun jedenfalls nicht so bald wieder hinschicken, ich erlaubte mir entgegengesetzter Ansicht zu sein – ich bestand auf meinem Willen, sie gab nicht nach – der geneigte Leser merkt: es kam zu einer jener intimen häuslichen Auseinandersetzungen, wie sie ihm, auch wenn er in der glücklichsten Ehe lebt, wenigstens vom Hörensagen bekannt sind.

Wir standen vom Tisch auf – ich erhielt nur eine flüchtige Handberührung, während ich sonst freundlicher behandelt wurde. Die Stimmung blieb gereizt. Ich hatte jetzt schon genug von diesem Märtyrertum. Hätte ich geahnt, was alles mir noch bevorstand!

*  *  *

Es war am anderen Tage mittags Punkt halb ein Uhr. Ich stieg vom Empfangssalon aus mit den beiden Kindern, die ich nicht ohne große Mühe und neue nicht gerade sehr schmeichelhafte Aeußerungen meiner kleinen Frau über die Familie Müller vom Hause losgerungen hatte, halb sie führend, halb sie tragend, die schier unendlichen Treppen empor, die in das Atelier des Photographen führten.

Solch ein Photograph !

Wohl hundertmal in dieser einen Stunde habe ich dem Manne die Ungerechtigkeit abgebeten, mit der ich seinem Amte bisher gegenüberstand, ohne mir je die leiseste Vorstellung von der Schwierigkeit und der unbeschreiblichen Vielseitigkeit seiner Arbeit zu machen. Wer je in seinem Leben Kinder hat photographieren lassen und nicht in Bewunderung und Hochachtung vor der Kunst eines solchen Mannes und seiner rührenden Geduld zerflossen ist, dem möchte ich die Fähigkeit für solche Empfindungen überhaupt absprechen.

Was der Mann nicht alles anstellte! Was er den Kindern erzählte und versprach und vormachte, mit welcher ergreifenden Langmut und Selbstverleugnung er wieder und immer wieder an ihnen herumnestelte und arbeitete und zupfte, vor ihnen tänzelte und sang und sprang und gestikulierte – es war unbeschreiblich!

Als alles nichts half und ich, völlig verzagt, der festen Meinung war, jetzt gäbe auch er die Sache endgültig auf, da lächelte er noch mit derselben unerschütterten Ruhe und Freundlichkeit mir zu und sagte:

„Jetzt fangen wir erst an!“

Und siehe – vor meinen staunenden Augen ließ er nun aus allen möglichen geheimnisvollen Schlupfwinkeln seines Ateliers ein Spielwarenlager aufmarschieren, das einem großen Magazine alle Ehre gemacht hätte: zuerst zwei krähende Hähne, dann eine Puppe – wieder eine Puppe – ein Pferd – einen Reiter dazu – Papageien – tanzende und Glieder verrenkende Marionetten – Soldaten – eine Kasperlefigur und noch vieles andere.

Und mit allen diesen Dingen tänzelte und sang und sprang und gestikulierte er nun aufs neue vor den Kindern herum, mit schärfstem Blick immer nur die ihm für eine günstige Aufnahme geeignete Sekunde erspähend.

Aber so wie diese sich ergab und er auf den kleinen Gummiball, [824] den er in der Hand hielt, drücken wollte – schwapps – da streckte der Junge seinen Arm verlangend nach einem der lockenden Gegenstände aus, da rief die Kleine ein begehrliches „Haben – Haben!“ – und um die Aufnahme war es geschehen.

Dies alles, das mich allmählich in einen Zustand versetzte, der nicht mehr sehr ferne von Raserei war, brachte ihn auch nicht einen Augenblick aus seiner Gemütsruhe, und als ich nach einigen vergeblichen Versuchen, seinen verzweifelten Anstrengungen mit der Macht meiner väterlichen Autorität zu Hilfe zu kommen, ihm mein Bedauern aussprach, daß ihm trotz seiner aufrichtigsten Bemühungen noch nicht eine Aufnahme gelungen wäre, erwiderte er sehr befriedigt, daß er deren bereits vier gemacht habe – zwar wie sie bei der allerdings nicht zu leugnenden Unruhe der Kinder ausgefallen seien, müsse der Erfolg lehren.

*  *  *

Es war abends.

Ich kam heute zum erstenmal innerlich befriedigt und in gehobener Stimmung aus dem Bureau nach Hause. Das große Werk war ja gethan, der schwere Wurf schien gelungen.

Selbst meine größte Furcht, die Kinder könnten sich einmal über die Besuche bei dem Photographen verplappern und so meiner Frau das ängstlich gehütete Geheimnis doch noch enthüllen, zeigte sich ganz unbegründet.

Den Kindern war der eigentliche Zweck ihres Besuches, über den ich natürlich nicht zu ihnen gesprochen hatte, völlig verschleiert geblieben. Sie erzählten zu Hause sehr viel von Tante Müller und dem lieben Onkel, der ihnen all die schönen Vögel und andere herrliche Spielsachen gezeigt und den sie recht bald wieder besuchen wollten.

Auch ich war sehr erfüllt von der großen Liebenswürdigkeit des Kollegen den Kindern gegenüber, meine Frau konnte von dem wahren Sachverhalt nichts ahnen. Niemand war glücklicher als ich.

Doch wie sagt Wallenstein?

 „Frohlocke nicht,
Denn eifersüchtig sind des Schicksals Mächte –
Voreilig Jauchzen greift in ihre Rechte.“

Ein Brief! – Ich öffne.

 „Sehr geehrter Herr!
Bei der Unruhe Ihrer lieben Kinder ist von den sämtlichen Aufnahmen leider nicht eine ganz nach Wunsch ausgefallen. Ich muß daher um eine neue Sitzung ersuchen, jedoch spätestens für morgen, da ich sonst nicht imstande wäre, die gewünschten Probebilder bis zum Feste zu liefern.
Hochachtungsvoll ergebenst der Ihre  
K. Brand, Photograph.“ 

Die Worte tanzten und flimmerten vor meinen Augen – die Stunde war gekommen, wo ich beinahe so weit war, meinen eifrig verfolgten Plan endgültig aufzugeben.

Ich konnte meinen aufgeregten Zustand nicht verhehlen, und so kam es, daß meine besorgte kleine Frau mich ernstlich ins Gebet nahm und mich auf Ehre und Gewissen bat, ihr den Anlaß meiner wachsenden Gemütsverstörung zu sagen, die ihr nun mit jedem Tage peinlicher und unerträglicher würde.

Wie gerne hätte ich gesprochen, ihr mein ganzes beladenes Herz geöffnet – aber nein, das ging nicht – noch nicht!

So wählte ich den einzigen möglichen Ausweg: eine Erkältung vorschützend, legte ich mich ins Bett.

Aber erquickenden Schlaf fand ich nicht – wüste Träume störten ihn.

Mit Hähnen und Puppen, Papageien und Katzen tanzte und sang und sprang und gestikulierte vor mir der Photograph. Und als ihm alles das nichts half, da gab er mir eine große Marionette in die Hand, und ich mußte nun alles mitthun und mit ihm tanzen und singen und springen und gestikulieren, bis wir mit einem Male zu Fall kamen und ich laut aufschrie und in Schweiß gebadet erwachte und meine kleine Frau sich über mich beugte und „Du bist krank, ernstlich krank“ mit ihrer lieben, besorgten Stimme zu mir sprach, die mir wie eine Erlösung ins geqnälte Herz drang.

*  *  *

Als ich am nächsten Mittag nach Hause kam, hörte ich, daß meine Frau zum Arzte gefahren wäre und das Essen daher später bestellt hätte.

Da faßte ich einen verzweifelten Entschluß.

Ich hieß das Mädchen eine Droschke holen, las mir die Kinder in ihren ältesten Kleidern vom Fußboden auf, wo sie gerade einen ergrimmten Kampf zwischen Katze und Hund aufführten, zog ihnen ungeschniegelt und ungebügelt ihre Mäntel über, packte sie in die Droschke – und fort ging’s zum Photographen!

Natürlich traf ich im Empfangssalon, in dem die Kinder ausgezogen wurden, eine befreundete Familie und mußte mich tausendmal wegen des Aussehens der Kinder entschuldigen, ohne dieses selber damit ändern zu können. Auch dem Photographen sprach ich zaghaft mein Bedauern aus; doch der sagte lächelnd: „Das thut ja gar nichts – absolut gar nichts,“ und ehe ich mich’s versah, hatte er in der einen Hand eine Bürste, in der anderen einen Kamm und brachte das Haar der Kinder auf eine Weise in Ordnung, daß ich nichts so sehnlich wünschte, als mein Kindermädchen für einige Tage bei ihm in die Lehre zu schicken. Er machte dem Jungen einen tadellosen Scheitel und arrangierte mit einer Kunstfertigkeit, über welche nur sehr geübte Friseure verfügen, den Lockenkopf der Kleinen.

„Aber diese schrecklichen Kleider?“ fragte ich kleinlaut. „Thut nichts – gar nichts,“ sagte er sehr gleichmütig und ging an sein Werk.

Und wunderbar – sei es, daß die Kinder bereits an ihn gewöhnt waren, sei es, daß sie sich in ihren Alltagskleidern viel ungezwungener und natürlicher gaben als in dem hohen Festtagsstaate – die Aufnahme ging viel glatter von statten als das erste Mal, und als wir nach Hause kamen, hatte ich das weitere Glück, meine Frau noch nicht heimgekehrt zu finden. – – – – 000000000000000

Weihnachtsabend!

Dreimal bereits war ich im Laufe des Tages beim Photographen gewesen. Er war überhäuft mit Arbeiten – aber endlich, in letzter Stunde hatte ich meine Probebilder erhalten und eilte, den schwer errungenen Schatz am Herzen bergend, glückselig nach Hause.

Der Lichterbaum strahlt – unsichtbar, aber fühlbar doch fliegt der Weihnachtsengel durch die Luft – würziger Duft erfüllt die Stube.

Die Kinder, denen wir bereits aufgebaut haben, jauchzen und frohlocken über ihre Sachen – am meisten über die beiden krähenden Hähne, die „Onkel Müller“ ihnen zum Andenken an die unvergeßliche Stunde mitgesandt hatte.

[825] Jetzt sind wir beide nach alter Ueberlieferung an der Reihe.

Meine kleine Frau läßt es sich nicht nehmen, mir zuerst zu bescheren, obwohl ich bereits vor Ungeduld brenne und mit aller Kraft an mich halten muß, ihr mein Geschenk nicht gleich zu überreichen.

Die liebe, kleine Frau! Was für reizende Sachen sie mir aufgebaut hatte, wie fleißig sie für mich gearbeitet und sich gemüht hatte!

Und doch lag immer noch so etwas Unaussprechliches, Geheimnisvolles auf ihrem Antlitz.

„Und nun,“ sagte sie, nachdem ich meiner Freude und Dankbarkeit einen vielleicht etwas zerstreuten Ausdruck gegeben, „du Unzufriedener – hier noch eine kleine Ueberraschung – vielleicht freut sie dich mehr als alles andere!“

Ich weiß nicht, welch eine dunkle Ahnung plötzlich über mich kommt, als sie mir jetzt ein kleines Paketchen überreicht – ich weiß nur, daß ich da etwas in den Händen halte, was mir so wunderbar bekannt, so verwebt mit der innersten Geschichte meiner letzten Tage vorkommt.

Ich fasse Mut, nehme alle Kräfte zusammen und öffne!

Und siehe – vor mir liegt das wohlgetroffene Porträt meiner beiden Kinder, fast genau so umschlungen sich haltend, wie ich sie in Wirklichkeit so lange qualvolle Minuten gesehen.

Und beide glänzend im feinsten Sonntagsstaate: der Junge in dem blauen Sammetjackett, die Kleine in dem feinen gestickten Kleidchen, das ihr Tante Heim als Patengabe geschenkt.

„Ich wollte dich überraschen! Aber leicht war es wahrhaftig nicht. Weißt du noch damals, als du mir gerade dazwischen kamst und ich dir einredete, wir gingen zur Tante Heim? Und nichts hast du gemerkt, gar nichts – du lieber, kluger Mann! Aber sieh sie nur ordentlich an! Sind sie nicht reizend?“ fährt sie fort, in Thränen lächelnd.

„Reizend – ganz reizend!“

Mehr vermag ich nicht vorzubringen – meine kleine Frau schiebt es auf meine Rührung und ist zufrieden.

Ich aber fasse sie bei der Hand, führe sie an ihren Weihnachtstisch, nehme von ihm ein Päckchen, ganz ähnlich wie sie mir soeben eines gegeben, und überreiche es ihr schweigend.

Sie öffnet – ein Schrei fliegt über ihre Lippen, sie starrt die Bilder an – sprachloser noch als ich die ihrigen – erst nach langer Zeit findet sie Worte:

„Aber Mann – Mann – in diesen Kleidern?!“

Das ist das erste, was sie voller Entsetzen hervorbringt.

Da ist es um mich geschehen. Ich kann ihr nicht weiter bescheren. Ich erzähle ihr erst meine ganze, lange, verzweifelte Leidensgeschichte.

Sie horcht auf – sie schüttelt den Kopf – sie lächelt – sie lacht – selbst das Entsetzen über „diese Kleider“ haben meine Worte vertrieben. Und das will bei einer Mutter viel sagen.

„Du armer, armer Mann!“

Und sie fällt mir um den Hals und küßt mich mit einer Innigkeit, wie sie es acht Tage nicht gethan hat.

Aber die Kleider?!

Sie sieht die Bilder wieder und wieder an, sie vergleicht sie mit den ihren.

„Wunderbar –“ sagt sie endlich, „trotz der Kleider gefällt mir dein Bild viel besser ja vielleicht gerade wegen der Kleider. Die Kinder sehen hier so anders aus wie auf meinem – viel weniger feierlich. Weißt du, Mann – ganz so, wie ich sie immer vor mir sehe in der Kinderstube, so natürlich und so reizend dabei! Mann, Mann – das hast du wunderschön gemacht, obwohl ich dir eigentlich böse sein sollte, mich so zu kompromittieren vor dem Photographen und allen Bekannten – was sollen die nur von mir denken! Aber – von diesen Bildern bestellen wir zwei Dutzend – von den anderen nur wenige!“

Endlich komme ich dazu, ihr weiter die Bescherung zu zeigen. Aber sie lächelt immer dazwischen, und immer aufs neue muß ich erzählen, und immer aufs neue lacht sie hellauf und freut sich wie ein Kind.

Ich habe nie einen so schönen Weihnachtsabend verlebt wie diesen, nie meine liebe kleine Frau so ausgelassen und liebevoll gesehen, und so fand ich mich denn für meine Leiden unter dem strahlenden Christbaum reichlich belohnt.