Vor der Schlacht bei Rothenthurm
[708] Vor der Schlacht bei Rothenthurm. (Zu dem Bilde S. 701.)
Nachdem die Waadt, die seit zweiundeinemhalben Jahrhundert ein
bernerisches Unterland gewesen war, zur Befreiung vom verhaßten Joch der
Berner im Jahr 1798 die Franzosen in die Schweiz gerufen hatte und
diese die Berner in der Schlacht bei Neuenegg besiegt hatten, arbeitete
das französische Direktorium unter der Mithilfe von schweizerischen
Abgesandten eine neue Verfassung für die Schweiz aus. Dieselbe hob die
bisherigen Grenzen und Unterschiede der eidgenössischen Stände auf und
verschmolz sie zu einem Einheitsstaat. Unter dem Druck der politischen
Lage beugten sich fast sämtliche Stände und nahmen die neue Verfassung
an; nur Nidwalden und Schwyz wollten sich nicht fügen und beharrten
bei ihrer alten von den Vätern ererbten Gesetzgebung. Da erhielt General
Schauenburg den Auftrag, die Verfassung den beiden Ländern mit Waffengewalt
aufzuzwingen. In wenigen Tagen war Nidwalden ein Trümmerhaufen,
seine waffenfähige Mannschaft erschlagen, gegen Schwyz kam es
am heftigsten bei Rothenthurm zum Kampf, wo eine „Letzimauer“, d. h.
Wehrmauer, deren Thor jetzt noch erhalten ist, jahrhundertelang das Thal
von Einsiedeln gegen die Zugänge aus der Mittelschweiz abschloß. Alles,
was Waffen tragen konnte, sammelte sich hierher, ein Milizheer von
1200 Mann und etwa 1500 Landstürmler, Männer, Frauen, Knaben und
Mädchen, die mit den Schlag- und Stichwaffen der alten Freiheitskriege
ausgerüstet waren. Als die Franzosen in Sicht kamen, warf sich das
Volk zum Gebet nieder, dann gab Alois Reding, der feurige Führer, mit
den Worten: „Wir fliehen nicht, wir sterben“ das Zeichen zum Angriff.
Im Andenken an den ersten schweizerischen Freiheitssieg, den die Väter
am nahen Morgarten erstritten hatten, stürmte das Volk aufjauchzend
und mit fliegenden Fahnen durch den französischen Kugelregen gegen den
von der nördlichen Bergflanke niedersteigenden Feind. Die schwyzerischen
Scharfschützen zielten gut, doch schrecklicher wüteten Bayonettangriff,
Kolbenschlag und die Sensen der Frauen gegen das vorher nie besiegte
Heer Schauenburgs. 2700 Franzosen deckten die Abhänge, Schwyz hatte
nur 236 Tote. So lauten wenigstens die Berichte. Auf der Anhöhe
von St. Jost, im Anblick des alten Schlachtfeldes von Morgarten feierte
das Völklein den Sieg. Da kam die niederschmetternde Nachricht, daß
der Feind vom Zürichsee her ins Innere des Landes gedrungen sei.
Reding schloß mit Schauenburg einen ehrenvollen Frieden. Schwyz
nahm die Verfassung an, die Franzosen aber zogen sich, die Tapferkeit
des Völkchens ehrend, gleich über die Landesgrenze zurück. Jetzt geht
über das Schlachtfeld die schweizerische Südostbahn, die den Zürichsee mit
dem Rigi verbindet. H.