Von der Sterbestunde
[229] Von der Sterbestunde. – Früher nahm man allgemein an, daß die meisten Menschen, soweit sie eines natürlichen Todes sterben, in den Übergangsstunden zur Nacht ihr Leben aushauchen. So schreibt noch der Leipziger Professor der Medizin Winkler in seinem 1781 erschienenen Werke über die [230] Funktionen des menschlichen Körpers: „Es ist nicht anzuzweifeln, daß das Scheiden des Tagesgestirns auf den Zeitpunkt der endlichen Auflösung eines bereits mit dem Tode Ringenden einen bestimmten Einfluß hat. Welche Kräfte es sind, die die schon halb vom Körper befreite Seele völlig von dem sterblichen Leibe loslösen, ob hier magnetische Beziehungen obwalten oder ob die Veränderungen der Luftzusammensetzung bei Eintritt der Dämmerung das schnelle Hinscheiden bewirken, läßt sich nicht feststellen. Gewiß ist nur, daß ich bei den meisten Kranken ein plötzliches Aufhören der letzten Widerstandskraft gegen den nahenden Tod gerade bald nach Sonnenuntergang beobachten konnte.“
In neuerer Zeit hat dann der englische Arzt Hopkins den Versuch gemacht, diese kritische Zeit durch eine genau geführte Statistik zu ermitteln. Nachdem er die Todesstunde von 2800 Personen verschiedenen Alters in den Jahren 1898 bis 1903 aufgezeichnet hatte, ergab sich für ihn folgendes, durchaus abweichendes Resultat: die meisten Todesfälle, etwa die Hälfte, kommen zwischen 4 und 6 Uhr morgens vor, die wenigsten, nur 6 Prozent, zwischen 9 und 11 Uhr vormittags.
Diese Feststellung erregte seinerzeit in Fachkreisen einiges Aufsehen. Konnte man doch keinerlei stichhaltige Erklärung dafür finden, warum gerade in der Zeit des Sonnenaufgangs die Sterblichkeitsziffer so besonders hoch und dafür in den Vormittagsstunden so auffallend klein war. Jedenfalls gab aber die Hopkinssche Statistik anderen Medizinern die Anregung, dessen Angaben nachzuprüfen. Und da zeigte es sich, daß von einer bestimmten kritischen Zeit für den Schwerkranken nicht die Rede sein kann und Hopkins’ Material für derartige Berechnungen offenbar viel zu klein gewesen war. So hat der Franzose Charles Féré von 1901 bis 1911 die Sterbestunde der in den Pariser Krankenhäusern Verschiedenen aufgezeichnet. Aus diesem Material von über 8000 Todesfällen stellte er fest, daß das Sterben in keinerlei Abhängigkeit von den Tagesstunden steht. Zu demselben Resultat gelangten auch zwei österreichische und ein deutscher Arzt, die zusammen ebenfalls ein Material von ungefähr 10.000 Todesfällen zur Verfügung [231] hatten. Eine besonders gefährliche Tages- oder Nachtzeit für den Schwerkranken gibt es also nicht.