Von der Schärfe des Sehvermögens der Raubvögel

Textdaten
Autor: Walther Kabel
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Titel: Von der Schärfe des Sehvermögens der Raubvögel
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aus: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1914, Fünfter Band, Seite 224–227
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Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Union Deutsche Verlagsgesellschaft
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Erscheinungsort: Stuttgart, Berlin, Leipzig
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Quelle: Commons
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[216] Von der Schärfe des Sehvermögens der Raubvögel kann der Mensch mit seinen verkümmerten Sinnesorganen sich kaum eine Vorstellung machen. Während Gehör und Geruch bei [217] den gefiederten Räubern nicht über das Normale ausgebildet sind, besitzen ihre Augen eine Sehstärke, die nach den Beobachtungen des Pariser Zoologen Vaular die eines mit vorzüglichen Augen ausgestatteten Menschen etwa um das Zwanzigfache übertrifft.

Der genannte Forscher hat in seiner Schrift „Der Raubvogel und sein Schutzorgan“ ein reiches Material von Erlebnissen aus aller Herren Ländern gesammelt. „Die peruanischen Bauern,“ heißt es an einer Stelle, „pflegen Adler, Geier und kleinere Raubvögel, die ihrem Viehstande schädlich werden können, auf folgende Art zu jagen. An einem besonders klaren Tage werden auf einem freien Felde ungefähr fünfzig Meter von einer durch Gesträuch verdeckten, niedrigen Hütte die Eingeweide von Rindern, Schafen usw., kurz alles, was man gerade an größeren Fleischabfällen zur Hand hat, vergraben und zwar so, daß nachher die Erde über der Grube wieder glatt eingeebnet wird. Läßt man nämlich das Gescheide offen auf dem Boden liegen, so kann man vergeblich stundenlang auf einen der sehr argwöhnischen Vögel warten. Die Arbeit des Eingrabens müssen mindestens sechs Personen besorgen. Während sich dann fünf nachher entfernen, verbirgt sich der sechste, der eigentliche Jäger, in der Jagdhütte. Würde man diese Vorbereitungen mit Hilfe von nur zwei oder drei Personen treffen, so bliebe der Erfolg ebenso aus, als wenn man die Fleischabfälle nur auf den Boden wirft.

Hierfür gibt es meines Erachtens nur eine Erklärung: Die Raubvögel, die in unendlichen Höhen im Äther schweben und alle Vorgange auf der Erde genau verfolgen, haben sehr bald gesehen, daß an der bewußten Stelle reichliche, unschwer zu erlangende Nahrung verscharrt wird, und beobachten daher das Tun und Treiben der sich dort hin und her bewegenden Menschen besonders genau. Handelt es sich hierbei vielleicht nur um drei Personen, von denen schließlich nur zwei den Platz wieder verlassen, dann merken die Vögel das Fehlen der einen Person sehr wohl, wodurch ihr Argwohn sofort rege wird, so daß sie sich hüten, auf den lockenden Köder herabzustoßen. Ich möchte daher nach meinen Erfahrungen geradezu [218] behaupten, daß die gefiederten Räuber und so wohl auch die meisten übrigen Vögel außerstande sind, eine Gruppe von Menschen, deren Zahl über fünf beträgt, auf ihre Anzahl hin zu schätzen, während ihnen dies bei nur vier Personen noch möglich ist. Anders ausgedrückt: Die Vögel können höchstens bis vier zahlen. Jede darüber hinausgehende Anzahl von Menschen oder Gegenständen verschmilzt für sie zu einer ihrer Zusammensetzung nach nicht mehr zu zerlegenden Gruppe.

Viermal war mir Gelegenheit gegeben, diese Jagdmethode persönlich auszuprobieren. Regelmäßig habe ich dabei, während meine Begleiter das Gescheide eingruben, mit einem guten Glase den Himmel abgesucht, um die Anwesenheit etwaiger Raubvögel festzustellen, was mir aber nur zweimal gelang. Im übrigen schien, soweit meine bewaffneten Augen reichten, der Äther ausgestorben zu sein. Schien – denn kaum hatte ich nachher etwa eine Viertelstunde in der Jagdhütte gesessen, als auch schon mit leisem Rauschen der erste geflügelte Räuber, bald ein Adler, bald ein Geier, sich wenige Meter von dem verscharrten Gescheide niederließ und sich dann vorsichtig der Stelle näherte. Meist folgte dem ersten Vogel umgehend ein zweiter, bis dann im Verlaufe von weiteren zehn Minuten stets acht bis zehn Tiere der verschiedensten Arten versammelt waren, unter denen ich mir in aller Ruhe ein Opfer für meine Kugel auswählen konnte. In kurzer Zeit hatten die Vögel die Erde über dem Aase fortgekratzt und begannen krächzend und sich streitend ihr ekles Mahl, bis der Knall meiner Büchse die ganze Gesellschaft, mit Ausnahme des erlegten, für alle Zeiten verscheuchte. Nie werden Raubvögel einen solchen Hinterhalt, der einem der Ihren das Leben kostete, zum zweiten Male aufsuchen. Die Peruaner, besonders aber die viehzuchttreibenden Indianer an den Westabhängen der Anden, pflegen daher auch mit Schrotflinten sehr großen Kalibers, deren Ladung aus gehacktem Blei besteht, unter die versammelten Vogel zu schießen, wobei sie dann meist drei bis vier Tiere derart verletzten, daß sie nicht abstreichen und leicht vollends getötet werden können.“

In dem die europäische Raubvogelwelt behandelnden [219] Kapitel berichtet der französische Zoologe über den über ganz Europa verbreiteten Habicht folgendes: „Auf dem Landsitz eines Bekannten in der Nähe von Paris machten wir auf meine Veranlassung hin einige Male ein etwas grausames Experiment, um die Sehschärfe des Habichts, der in der dortigen Gegend ziemlich häufig ist, zu erproben. Wir begaben uns auf ein abgeerntetes Feld und ließen dort zunächst einige Tauben in längeren Abständen aufsteigen. Die Tauben kehrten stets, sich der ihnen drohenden Gefahr wohl bewußt, in pfeilschnellem Fluge niedrig dahinstreichend, zu ihrem nahen Stalle zurück. Dann suchten wir mit unseren Gläsern den Himmel ab. Bemerkten wir einen in der Höhe kreisenden Habicht, so führten wir das Experiment nicht zu Ende. Nur wenn wir nirgends eine Spur des gefährlichen, windschnellen Gesellen entdeckten, gaben wir die letzte unserer Tauben frei, der wir vorher die Flügel zusammengebunden hatten, so daß sie nur etwa einen Meter vom Boden hochflattern konnte. Sodann faßten wir in einem nahen Wäldchen Posto und warteten das weitere ab. Nie vergingen mehr als fünf Minuten, bis ein Habicht urplötzlich über der ängstlich flatternden Taube auftauchte, erst langsam in immer enger werdenden Kreisen sich herabwand und schließlich wie ein losgeschnellter Pfeil auf sein Opfer herabstieß. Der Raubvogel hatte also zweifellos aus einer Höhe, in die sogar unsere bewaffneten Augen nicht zu dringen vermochten, zuerst das Auffliegen der ersten Tauben bemerkt, uns dann weiter beobachtet und so auch sein gefesseltes Opfer erspäht.“

W. K.