Von der Hauptwache in die Alpen

Textdaten
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Titel: Von der Hauptwache in die Alpen
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aus: Die Gartenlaube, Heft 19, S. 296–299
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Von der Hauptwache in die Alpen.

Die hochgehenden Wogen des Jahres 1848 haben manch’ tüchtigen deutschen Mann in ihren Strudel gerissen und haben ihn fortgeführt aus der theuren deutschen Heimath. Nicht der letzte unter ihnen ist Friedrich Wilhelm Rüstow, welcher noch gegenwärtig im Exil in der Schweiz lebt und sich seither einen wohlbekannten Namen als ilitärschriftsteller und Heerführer erworben hat. In letzterer Eigenschaft nahm er eine hervorragende Stelle im Jahre 1860 im italienischen Kriege ein, in welchem er eine von ihm binnen vier Wochen formirte, achttausend Mann starke Division Freiwilliger zum Kampfe und zum Siege führte. – Als Officier in preußischen Diensten ließ er sich, durchdrungen und begeistert von den Ideen einer unaufhaltsam hereinbrechenden neuen Zeit, zu Worten und Thaten hinreißen, durch welche er sich in diametralen Gegensatz zu den Anforderungen [297] brachte, welche an einen preußischen Officier gestellt werden und namentlich in damaliger Zeit gestellt wurden. Und dennoch waren die ihm zur Last gelegten Verbrechen nur hervorgegangen aus der Begeisterung für die Größe und Einheit des deutschen Vaterlandes, für dieselbe Größe und Einheit, zu welcher gegenwärtig bereits ein tüchtiger Grund gelegt ist und die, ob früher oder später, mit historischer Nothwendigkeit zur Wahrheit werden muß. Die Zeit mit ihrem versöhnenden Einfluß läßt auch seine Flucht in einem andern Lichte erscheinen, jedenfalls dürfte in allen Parteirichtungen die Schilderung eines Erlebnisses, welches den Anfang der Entwickelung eines bedeutenden Schriftstellers bildet, allgemeine Theilnahme erregen, insbesondere aber bei seinen frühern Cameraden, die trotz der politischen Gegnerschaft doch in Rüstow den ausgezeichneten Fachmann und Kritiker hochachten.

Rüstow wurde verhaftet und in Posen vor ein Kriegsgericht gestellt, vor welchem er sich selbst verteidigte und welches ihn von der Anklage des Hochverraths freisprach und unter Annahme eines geringeren Vergehens zu anderthalbjähriger Festungshaft verurtheilte. Dies Urtheil erhielt jedoch die Bestätigung nicht, und der Proceß wurde vor ein zweites, in Glogau niedergesetztes Kriegsgericht verwiesen, das über Rüstow wegen Hochverraths einunddreißigjährige Festungsstrafe verhängte. Während der Untersuchung wurde derselbe in Posen, und zwar in der dortigen Hauptwache, in Haft gehalten. Seine Flucht aus diesem Gefängniß war eine beschlossene Sache, noch ehe ihm das letzte verurtheilende Erkenntniß bekannt geworden, und diese Flucht, welche den Gegenstand dieser Zeilen bildet, ist mit solcher Kühnheit und solcher Energie ausgeführt worden, daß sie in ihrer Art als einzig dastehend betrachtet werden darf.

Die Hauptwache in Posen, ein zweistöckiges, ringsum freies Gebäude, liegt am Markt, dem belebtesten Theile der Stadt. Rüstow’s Zelle befand sich eine Treppe hoch, und vor der Thür seines Gefängnisses auf dem Corridor stand ein Posten, der speciell mit seiner Bewachung beauftragt war. Der allein mögliche Weg zur Flucht ging daher durch das einzige kleine, hoch über dem Fußboden befindliche Fenster der Zelle, durch welches man zunächst auf einen großen steinernen Balcon gelangt. Dieser Weg aber war ein höchst gefährlicher, und die Wahrscheinlichkeit, auf ihm sich zu befreien, eine sehr geringe, weil der Posten vom Corridor aus durch eine Glasthür den Balcon übersehen konnte und seiner Instruction gemäß viertelstündlich einmal auf denselben hinaustreten mußte. Rüstow’s Freunde riethen deshalb, zunächst den Weg der Bestechung zu versuchen; der Gefangene jedoch verschmähte es, auf diesen Vorschlag einzugehen, weil es ihm widerstrebte, Jemanden zu compromittiren und seinetwegen in Gefahr zu bringen; und gerade dieser Umstand ist es, welcher Rüstow’s Flucht vor allen gleichartigen Unternehmungen auszeichnet.

Es hatte daher sein Bewenden bei dem Wege durch das Fenster und über den Balcon. Trotz aller Wachsamkeit war es gelungen, eine fast ununterbrochene Communication zwischen Rüstow und seinen zahlreichen Freunden in Posen herzustellen und zu unterhalten und ihm unbemerkt eine Säge zum Durchschneiden der eisernen Traillen und einen Strick von dreißig Ellen Länge zum Hinabklimmen zuzustellen. Nach einer mühevollen Arbeit gelang es dem Gefangenen, in dreißig Nächten der Aufregung und Angst, stets in Gefahr, von dem lauschenden Posten entdeckt zu werden, die Traillen zu durchschneiden, welche zwischen dem finsteren Kerker und der goldenen Freiheit standen. Um das bis hieher gelungene Werk den Augen seiner Wächter zu verbergen, verklebte er die Schnittflächen mit Wachs und befestigte die wankenden Traillen mit gekautem Brod. Laut getroffener Verabredung sollte der Fluchtversuch am 25. Juni 1850 gewagt werden; indessen kam er an diesem Tage noch nicht zur Ausführung, weil das erwartete Zeichen, daß draußen Alles in Ordnung sei, eines Mißverständnisses halber nicht gegeben wurde. Auch waren das andauernd schöne Wetter und der herrschende helle Mondschein dem Unternehmen keineswegs günstig. Der Gefangene sehnte mit tausend Gebeten Sturm und Regen herbei, jedoch vergeblich. Daß trotzdem die Flucht wenige Tage später bewerkstelligt wurde, ist als ein glücklicher Instinct anzusehen, denn, um noch einige Tage verzögert, wäre sie zur Unmöglichkeit geworden, weil Rüstow am 3. Juli zur Verbüßung der gegen ihn erkannten einunddreißigjährigen Freiheitsstrafe nach der Festung Glatz abgeführt werden sollte, was ihm damals noch unbekannt war.

Inzwischen war ein neuer Commandant von Posen ernannt worden, mit welchem der Gefangene aus früherer Zeit bekannt war. Derselbe besuchte Rüstow am Abend des 26. Juni und sprach sein Bedauern aus über das Wiedersehen unter den obwaltenden Verhältnissen. Anscheinend wohlwollend und um dem Gefangenen eine Abwechselung und Erholung zu gewähren, bot er demselben seine Equipage zu einer Spazierfahrt an, indem er ihn gleichzeitig für die schöne Aussicht vom Fort Winiary zu interessiren verstand. Rüstow nahm das Anerbieten dankbar an; allein der Wagen blieb aus. – Die Vermuthung liegt nicht allzufern, daß derselbe zur rechten Zeit, d. h. am 3. Juli, eingetroffen sein würde, um den Gefangenen, welcher sich einer großen Popularität erfreute, ohne Aufsehen aus der Hauptwache nach dem vor der Stadt gelegenen Fort Winiary und von dort nach Glatz zu befördern. Hiemit stimmt der Umstand überein, daß sich bereits seit dem 25. Juni eine Verschärfung der Wachsamkeit bemerkbar machte.

Aber trotzdem beschloß Rüstow, am 29. Juni auf alle Fälle, die Umstände seien günstig oder nicht, einen Fluchtversuch zu wagen. Laut Verabredung sollte der Flüchtling an der evangelischen Kirche einen Bekannten treffen und mit diesem zusammen das Thor passiren. Den wachthabenden Unterofficier auf der Thorwacht hoffte man leicht zur Oeffnung des Thors bewegen zu können. Vor dem Thor stand eine Briczka bereit – ein kleiner, in Polen gebräuchlicher Wagen von eigenthümlicher Construction – um den Flüchtenden ohne Verzug so weit zu entführen, wie zu seiner vorläufigen Sicherheit erforderlich war. Dies war der Fluchtplan; die Umstände indessen erzwangen eine ganz andere Ausführung.

Vom Mittag des 29. Juni ab war alle Communication zwischen dem Gefangenen und der Außenwelt unterbrochen, jedoch erhielt er das vorsichtiger Weise verabredete Zeichen, daß draußen Alles in Ordnung sei. Nachdem Rüstow wie gewöhnlich Abendbrod gegessen, begann er gegen zehn Uhr seine Vorbereitungen. Um das hochgelegene Fenster bequem erreichen zu können, legte er auf die unter demselben befindliche Pritsche seine Bettdecke und auf das Fensterbrett einige dicke Bücher. Auf diese stellte er einen kleinen Koffer, welchen letzteren er mit zwei Kopfkissen bedeckte. Alsdann kleidete er sich vollständig an bis auf die Stiefeln, die er, in ein Taschentuch gewickelt, zwischen den Traillen aufhing, und über denselben befestigte er einstweilen den Strick. Wie dem Gefangenen schien, war der Posten auf dem Corridor an diesem Tage besonders scharf instruirt. Derselbe stand horchend am offenen Flurfenster. Nachdem sich der Flüchtling hievon überzeugt hatte, nahm er die durchgesägten Traillen heraus und stellte sich, auf einen günstigen Moment wartend, an das Fenster. Gegen zehn und dreiviertel Uhr fuhr ein Wagen vorüber, und das durch das Rollen seiner Räder hervorgebrachte Geräusch benutzte der Flüchtende, um sich durch das Fenster zu schwingen und den vorerwähnten Balcon zu erreichen. Derselbe ist mit einer etwa sechs Fuß hohen Brustmauer umgeben, an welcher sich an der südlichen Seite der Hauptwache eine steinerne Wappendecoration befindet, welche mittels einer eisernen Stange an der Wand befestigt ist. An diese Stange band Rüstow seinen Strick an durch einen ihm ebenfalls zugesteckten, mit Leinwand umwickelten eisernen Haken und klomm an demselben mit aller Vorsicht empor bis auf die Brustwehr. Dort kauerte er sich nieder, um weitere Vorbereitungen zu treffen. Er knüpfte den Strick fester um die eiserne Stange, band sich das andere Ende desselben um den Leib und befestigte an gleicher Stelle die Stiefeln mit einem Taschentuch. Inzwischen schlug es elf Uhr, und der Posten vor dem Gewehr rief heraus. Der Flüchtling beschloß, vor seinem Hinabsteigen die Rückkehr der Ablösungen abzuwarten. – Am Tage hatte es geregnet, gegen Abend aber hatte sich das Wetter aufgeklärt; der Mond schien verzweifelt hell, und der Markt war belebt wie am Tage.

In dieser Situation verstrichen angstvolle Minuten. Jeden Augenblick konnte der Posten vom Corridor auf den Balcon treten, und die Flucht war für dies Mal und wahrscheinlich für immer vereitelt. Nachdem endlich um elf und einviertel Uhr die Ablösungen zurückgekommen waren und der Flüchtling noch eine kurze Zeit abwartend und lauschend hatte verstreichen lassen, warf er die Mitte des rettenden Strickes über die Brustwehr, schwang sich vollends über die Mauer und rutschte zwei volle Stockwerke hoch hinab. Unten angekommen, fuhr er heftig auf die auseinandergenommenen Bestandtheile von Schusterbuden, welche, dem Flüchtlinge [298] unbewußt, wegen des gerade stattfindenden Johannismarktes dicht an der Hauptwache aufgehäuft waren, und verursachte hierdurch ein nicht unerhebliches Geräusch. Er schritt indessen ruhig von dannen und wollte, nachdem er sich etwa fünfzig Schritte entfernt hatte, seine Stiefeln anziehen, bemerkte aber zu seinem Schrecken, daß er dieselben verloren hatte. Er kehrte deshalb nochmals um, doch alles Suchen war vergebens, denn die Stiefeln waren, wie sich später ergab, an einem eisernen Schornstein hängen geblieben, welcher sich, aus der Officierwachtstube kommend, unter dem Balcon befand und dessen Vorhandensein dem Flüchtlinge nicht bekannt war. Dieser mußte sich entschließen, im Uebrigen salonfähig gekleidet, in weißen Strümpfen durch die belebten Straßen zu schreiten. Er that dies mit aller Ruhe und ging durch die Breslauer Straße nach der evangelischen Kirche. Es war gerade Sonnabend, die Straßen waren gekehrt, und in denselben lagen noch die Kehrichthaufen. In drei derselben steckte der Flüchtling nacheinander seine Füße, um den sauberen weißen Strümpfen die allzuhelle Farbe zu nehmen. Bei der Kirche angekommen, traf ihn eine neue Verlegenheit, denn der Bekannte, welcher ihn dort erwarten sollte, war nicht da. Lange auf einem Fleck mit den immer noch weithin leuchtenden Strümpfen stehen zu bleiben, durfte er nicht wagen. Er entschloß sich deshalb kurz und schritt die Bergstraße hinab nach der Wohnung einer ihm befreundeten Dame, von welcher er aber nicht wußte, ob sich dieselbe in der Stadt oder auf ihrem Landsitze aufhalte. Er fand das Haus offen, trat ein und lauschte an verschiedenen verschlossenen Thüren, ohne jedoch das geringste Zeichen von der Anwesenheit Jemandes zu vernehmen. Da es gefährlich für ihn werden konnte, irgend welches Geräusch zu verursachen, schritt er durch die Bergstraße zurück nach der evangelischen Kirche. Dort angelangt, eilte auf fünf Schritte eine Patrouille bei ihm vorüber in der Richtung auf das Wilde Thor zu.

Bald darauf traf er auch den sehnlichst erwarteten Bekannten, welcher ihm ganz erhitzt und mit geflügelten Worten mittheilte, daß die Flucht bereits entdeckt, daß das ganze Wachtpersonal der Hauptwache um den herabhängenden Strick versammelt und daß Patrouillen nach allen Richtungen ausgesandt seien. Unter diesen Umständen mußte jeder Gedanke daran aufgegeben werden, noch heute das Thor passiren zu wollen. Was aber thun? – Wo in aller Eile einen sicheren Versteck auffinden? – Es schien am gerathensten, zunächst nach dem Hause jener Dame zurückzukehren. Rüstow’s jetziger Begleiter wußte zwar, daß dieselbe wirklich auf dem Lande sei, indessen wohnte in demselben Hause ein Freund von ihm, auf dessen Hülfe er rechnen durfte. Dieser Freund wurde herausgeklopft und vom Stande der Dinge unterrichtet. Hier erhielt Rüstow zur Abhülfe des nächsten Bedürfnisses ein Paar Schuhe, konnte aber dort nicht aufgenommen werden, sondern wurde durch Vermittlung jenes Herrn in einem dritten Hause bei befreundeten Personen vorläufig untergebracht, woselbst man ohne Vorwissen des Flüchtlings auf alle Fälle ein Asyl für ihn in Bereitschaft gehalten hatte. In diesem Hause blieben sämmtliche Personen, welche von den Umständen nach und nach zusammengeführt waren, die Nacht über in einem Parterrezimmer beisammen. Am nächsten Morgen wurde dem Flüchtling ein Stübchen im oberen Stockwerk eingerichtet, welches sonst von einer alten Frau bewohnt wurde, die ohne alles Aufsehen ein anderes Zimmer beziehen konnte. Das Dienstmädchen, dessen Schwatzhaftigkeit man fürchtete, hatte man vorsichtiger Weise schon früher abgeschafft. In diesem vorläufigen Asyle, welches den Flüchtling fünf Tage hindurch beherbergte, war derselbe aber noch weit entfernt, wirklich in Sicherheit zu sein.

Es waren noch unendliche Schwierigkeiten zu überwinden. Schon am nächsten Tage, den 30. Juni, erfuhr Rüstow in seinem Versteck Folgendes: Bereits eine halbe Stunde nach seiner Flucht war der Auditeur in der leeren Zelle gewesen, um den Thatbestand aufzunehmen. Alle Personen, die als Freunde Rüstow’s bekannt waren, und deren Wohnungen wurden streng überwacht. Vor einer derselben hatte die Polizei einen Heuwagen umgestürzt, weil man den Flüchtling im Heu verborgen wähnte. Eine demselben nahestehende Dame wurde verhaftet, mußte aber, da nicht das Geringste gegen sie vorlag, noch an demselben Tage wieder entlassen werden. Im Laufe ihres durch den Commandanten selbst im Beisein noch eines Generals geleiteten Verhörs kam auch die bisher geheim gehaltene Thatsache zur Sprache, daß Rüstow bereits durch das Kriegsgericht in Glogau zu einer einunddreißigjährigen Festungshaft verurtheilt war. Nach Ansicht des Commandanten hatte nur die verfrühte Wissenschaft hiervon die tollkühne Flucht veranlassen können. In der That aber war, wie erwähnt, dies letzte Urtheil dem Gefangenen bei seiner Flucht noch unbekannt.

Rüstow hatte, als ihm die Nichtbestätigung des ersten Erkenntnisses publicirt worden, die Unterschrift des Protokolls verweigert. Zugleich erklärte er, daß er den Standpunkt acceptire, den man ihm gegenüber durch die Nichtbestätigung eingenommen habe, und hiernach seine Entschließungen treffen werde. Seine Flucht war eine Consequenz dieser Erklärung. Im Ganzen herrschte große Bestürzung in den zunächst betroffenen Kreisen, und der Platzmajor ging in seinem Eifer, den Flüchtling wieder in seine Gewalt zu bekommen, so weit, einen Preis von fünfzig Thalern auf seinen Kopf zu setzen. Die Patrouillen der Hauptwache und sämmtliche Thorposten wurden verdoppelt. Ein bekannter Polizeispion drängte sich an einen Freund Rüstow’s mit dem Vorgeben, er wisse recht gut, daß Rüstow noch in der Stadt sei, und mit dem Erbieten, für fünfzig Thaler sein Versteck auszukundschaften. Der Freund ging jedoch nicht in die nicht eben fein gestellte Falle. Allen aber war unbegreiflich, daß der Gefangene hatte entkommen können, da die Flucht unmittelbar nach ihrer Ausführung oder eigentlich noch während derselben entdeckt worden war. Zwei Tischlergesellen nämlich hatten Rüstow an dem Strick hinabgleiten sehen und dem wachhabenden Officier hiervon unverzüglich Anzeige gemacht. Es ist daher wunderbar, daß der Flüchtling nicht wieder ergriffen wurde, als er zurückkehrte, um seine Stiefeln zu suchen. Die verlorenen Stiefeln fand man auf, und als dieser Umstand bekannt wurde, erinnerten sich einige Nachtwächter, daß sie in jener Nacht einen Mann in weißen Strümpfen hatten gehen sehen. Sie waren sehr niedergeschlagen darüber, daß sie sich den so leicht zu verdienenden, vom Platzmajor ausgesetzten Preis hatten entgehen lassen.

Die Freunde Rüstow’s zogen unter der Hand Erkundigungen nach allen Richtungen ein. Das Resultat derselben war für das weitere glückliche Fortkommen ungünstig genug. Man hatte von Seiten der Behörden die umfassendsten Maßregeln getroffen, um dasselbe zu verhindern. Zahlreiche Patrouillen durchzogen und umkreisten die Stadt und weithin waren alle Chausseehäuser mit Polizeiagenten besetzt. Hierbei wolle sich der Leser erinnern, daß im Jahre 1850 Eisenbahnen, außer der nach Stettin führenden, in der Provinz Posen noch nicht vorhanden waren. Es lag daher der Gedanke nahe, daß der Flüchtende, um möglichst schnell zu entkommen, diesen Weg eingeschlagen habe. Um die Verfolger womöglich auf diese falsche Spur zu führen und ihre Aufmerksamkeit von dem wirklich gewählten Wege abzulenken, schickte Rüstow einen Brief an einen Freund in Stettin, in welchem er einem anderen Freunde in Posen seine Ankunft in Stettin und sein glückliches Entkommen auf ein Schiff meldete. Dieser Brief kam, mit dem Poststempel Stettin versehen, am 2. Juli nach Posen zurück und von seinem Inhalt wurde möglichst oft und möglichst laut gesprochen. Ein merkwürdiger Zufall ist es, daß spät in der Nacht vom 29. zum 30. Juni die Telegraphenverbindung zwischen Posen und Stettin durch einen einschlagenden Blitz unterbrochen wurde. – Indessen mußte ein Entschluß gefaßt werden, denn ein zu langes Verweilen in der Stadt konnte ebenso gefährlich werden, wie das Verlassen derselben. Man entwarf tausend Pläne, um sie wieder zu verwerfen, endlich aber blieb man bei demjenigen stehen, welcher wirklich zur Ausführung kam.

Am 5. Juli herrschte schon früh am Morgen in dem Asyl des Flüchtlings eine rege, aber besonnene Geschäftigkeit. Es handelte sich darum, den Lieutenant Rüstow in eine möglichst zarte Dame umzuwandeln. Nachdem er rasirt, geschminkt und gescheitelt war, wurde er in Weiberkleider gesteckt, wobei er mit der peinlichsten Sorgfalt mit allen Details der weiblichen Toilette ausgestattet wurde. Falsche Locken und ein Sonnenschirm vollendeten das Werk, oder, wie Louis Napoleon sagen würde, „krönten das Gebäude“. In dieser Metamorphose fuhr der Flüchtling am 5. Juli Mittags um 1 Uhr in Begleitung von zwei Damen und einem Herrn unangefochten durch die Posten am Berliner Thor. Eine Viertelstunde vor der Stadt stiegen die Damen aus und kehrten zu Fuß zurück, während Rüstow und sein männlicher Begleiter ein vier Meilen von Posen entferntes Städtchen erreichten. [299] Hier, woselbst der Flüchtende sich umzog, erhielt er frische Pferde und zur Vervollständigung seines Anzugs die gänzlich fehlenden Stiefeln. Mit seiner Garderobe war er überhaupt schwach bestellt, denn er hatte außer dem Anzug, in welchem er entsprungen war, nichts als einen Mackintosh, zwei Hemden, zwei Unterhosen und zwei Paar Strümpfe, da man, um jede Spur von seinem Versteck fernzuhalten, nicht gewagt hatte, ihm einen ihm gehörigen Mantelsack mit Civilkleidern und Wäsche zuzustellen. Er hat denselben auch niemals erhalten. Nach Zurücklegung von abermals vier Meilen wurde die zweite Station gemacht. Hier erhielt Rüstow von befreundeter Hand einen Rock, ein Paar Hosen und eine Reisetasche.

Nach viertelstündiger Rast ging es mit frischen Pferden und einem anderen Wagen weiter nach Züllichau, wo der Flüchtling Morgens ein Uhr anlangte und nach einstündiger Erholung Extrapost bestellte. Einige Verlegenheit erwuchs ihm hier durch die übergroße Zuvorkommenheit des Hausknechtes im Gasthofe zum „grünen Baum“, welcher ihn ohne Weiteres zum Grafen machte. Um jede Erörterung zu vermeiden, mußte er sich duldend in diese neue Würde schicken, die ihm jedoch hätte verderblich werden können, denn er befand sich im Besitze eines auf einen Herrn X. lautenden Passes, welcher keineswegs Graf war. Es fiel aber Niemandem ein, nach dem Passe zu fragen. Die Flucht wurde nun mit Extrapost über Grünberg, Naumburg, Sommerfeld, Forsta, Spremberg, Hoyerswerda, Waldhof und Königsbrück bis nach einem Orte in der Nähe von Dresden fortgesetzt, wo sich der Flüchtling am 7. Juli in einer befreundeten Familie einige Erholung gönnen durfte. Nach einem im Freundeskreise heiter verlebten Tage genoß Rüstow einer erquickenden Nachtruhe, während Furcht und Sorge seine Freunde nicht schlafen ließen. Der 8. Juli verfloß heiter wie der 7. Es gesellten sich mehrere nicht Eingeweihte zu dem Freundeskreise, denen Rüstow als ein Herr von X. aus Polen vorgestellt wurde. Endlich aber mußte man an die Trennung denken, und Abends sechs Uhr ging’s an den Abschied. Rüstow begab sich in Begleitung zweier Freunde nach Dresden, von wo er nach Vervollständigung seiner Garderobe und nach einem Besuche bei einer befreundeten Dame mit einem Stellwagen über Freiberg und Chemnitz nach Altenburg fuhr, woselbst er am 10. Juli Morgens fünf Uhr eintraf und im Gasthofe „zum bairischen Hofe“ abstieg. Nach einem zweistündigen erquickenden Schlafe begab er sich zu einem hier wohnenden, ihm befreundeten Herrn, mit welchem die weitere Reiseroute überlegt wurde und von welchem er eine Paßkarte erhielt, zutreffender als der Paß, auf welchen er bisher gereist war.

Am Mittage desselben Tages befand sich der Flüchtling in dem nach Hof in Bereitschaft stehenden Eisenbahntrain und traf hier zufällig in einem Coupé mit zwei Bekannten aus Posen zusammen, welche bis Nürnberg in seiner Gesellschaft blieben.

Nachdem er sich in Hof durch eine dringend nothwendig gewordene Nachtruhe gestärkt, wurde am nächsten Morgen die Flucht auf den Flügeln des Dampfes über Nürnberg, Augsburg und Kaufbeuren nach Lindau fortgesetzt. Auf der Strecke von Nürnberg nach Augsburg hatte der Fliehende das unter den obwaltenden Umständen gewiß recht angenehme Vergnügen, die Gesellschaft eines bairischen Landjägers zu genießen, der ihn aber in keiner Weise behelligte. Ueberhaupt wurde er während der ganzen Dauer seiner Flucht nur ein einziges Mal, und zwar in Lindau, nach seinem Paß gefragt. Er übergab dem Polizeibeamten die Paßkarte, welche er in Altenburg erhalten hatte, und empfing dieselbe ohne alle Umstände nach Verlauf von einer Viertelstunde gegen Erlegung von sechs Kreuzern zurück. In Lindau speiste Rüstow im Gasthofe „zur Krone“ zu Mittag und erquickte sich durch einen Schoppen „Seewein“, ein Gewächs, welches nicht in allzugutem Rufe steht und an den Ufern des Bodensees erzeugt wird; daher der Name. Demnächst bestieg er um zwei Uhr den Dampfer „Ludwig“, welcher ihn schon um halbvier Uhr wohlbehalten nach Rorschach im Canton St. Gallen brachte. Hier endlich auf dem Boden der Schweiz durfte er sich dem Gefühle vollständiger Sicherheit hingeben und gönnte sich am 12. und 13. Juli im Gasthofe „zum Hirschen“ Ruhe und Erholung, welche durch die Strapazen und die Aufregung der Flucht sehr nöthig geworden waren. Von seinem Stübchen aus, dessen Fenster nach dem Bodensee gingen, warf er die letzten Blicke zurück nach Deutschland. Am 14. Juli endlich reiste er nach Zürich, das ihm seither eine zwar unfreiwillige, aber sichere und liebe Heimath geworden ist.