Textdaten
Autor: Johann Gottfried Herder
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Titel: Von der Dichtung
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aus: Zerstreute Blätter (Dritte Sammlung) S. 109-124
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Erscheinungsdatum: 1787
Verlag: Carl Wilhelm Ettinger
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Erscheinungsort: Gotha
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Quelle: ULB Düsseldorf und Commons
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[109]
II. Von der Dichtung.


Jetzt gehen wir unsres Weges fort und sehen, wie aus dem wahrgenommenen Bilde Dichtung werde? Und der Uebergang hiezu ist bereits gegeben. Liegt nämlich das was wir Bild nennen, [110] nicht im Gegenstande, sondern in unsrer Seele, in der Natur unsres Organs und geistigen Sinnes, der sich in jedem Mannchichfaltigen immer ein Eins schafft, mithin immer, verständig oder unverständig, träumt und dichtet: so dürfen wir nur auf die innere Gestalt und eigne Art, oder gleichsam auf den Habitus unsrer Bilder-schaffenden Seelenkraft merken, so wird sich daraus die Art und Lieblingsmanier aller menschlichen Dichtung leicht ergeben. Wir dichten nämlich nichts, als was wir in uns fühlen: wir tragen, wie bei einzelnen Bildern unsern Sinn, so bei Reihen von Bildern unsre Empfindungs- und Denkart in die Gegenstände hinüber und dies Gepräge der Analogie, wenn es Kunst wird, nennen wir Dichtung. Wir wollen nur drei Hauptstücke des Habitus unsrer Empfindungsweise auszeichnen; alle andern werden sich daraus von selbst ergeben. [111] 1. Alles was da ist, sehen wir wirken; und schließen mit Recht, daß der Wirkung eine wirkende Kraft, mithin ein Subject zum Grunde liege; und da wir Personen sind, so dichten wir uns an allem Wirkenden der Naturkräfte, persönliche Wesen. Daher nun jene Belebung der ganzen Natur, jene Gespräche mit allen Dingen um uns her, jene Verehrungen und Anschauungen derselben, als ob sie auf uns wirkten, jene Prosopopöien und Personificatonen bei allen Völkern der Erde. Man schreibt sie meistentheils der Unwissenheit zu; wenn aber Unwissenheit ihre Mutter wäre, so ist doch der bemerkende Verstand ihr Vater. Von den innern Kräften der Natur wissen Wir so wenig, als eine Negernation weiß. Wir kennen zwar mehrere Wirkungen mehrerer Kräfte und haben sie nicht nur selbst nachzuahmen oder anzuwenden versucht, sondern auch untereinander besser geordnet; indessen bleibt auch bei uns jede Physik eine [112] Art Poëtik für unsre Sinne, aus unsern Erfahrungen geordnet; und sobald unser Geist in andern Organen die Natur sähe, würde er nothwendig anders classificiren. Der sinnliche Mensch kann nun nicht anders, als sinnlich ordnen; und indem er in alles Wirkende seine eigne ganze Wirkungskraft hinüberträgt: so erscheinen ihm Götter in allen Elementen. Im rauschenden Wasserfall, im Meer, im Sturm, im Blitz und Donner, in der säuselnden Luft, in allen Bewegungen der Natur sind lebendige, wirkende, handelnde Wesen. Aus Reisebeschreibungen ist bekannt, daß dieser Glaube allen sinnlichen Nationen gemein sei; ja wie sollte ers nicht seyn, da auch wir ihn unter uns allen sinnlichen Menschen, Kindern, Weibern, Menschen in Leidenschaft, in Verrückung, im Traum der Gedanken sogar in jedem Augenblick, da sie nicht auf ihrer Hut sind, gemein finden? Die Furcht, zumal in der Finsterniß, die Traurigkeit, Liebe, Sehnsucht, [113] Verzweiflung und jede andre Leidenschaft macht in unvermutheten Augenblicken uns alle noch zu Wilden, denen bald dieser, bald jener Gegenstand zu leben scheint und in sonderbaren Eindrücken auf sie wirket. In der Kindheit sehen wir lange Jahre die Welt so an und in Träumen kommen uns solche Personificationen der Kindheit häufig wieder. Der Zustand unsrer kalten Besonnenheit ist ein künstlicher, durch Erfahrung, Lehre, und Gewohnheit allmälich erworbener Zustand, dessen Besitz uns in völlig-unerwarteten Fällen zu erhalten oft schwer wird.


Daß nun jede Nation der Erde sich diese Personificationen nach eigener Art bilde, bedarf keines Erweises; alle Reisebeschreibungen, alle Mythologieen sind davon voll und ich wünschte, daß wir ein Nymphäum dieser Phantasieen unsers Geschlechts, rein gesammlet und klimatisch ausgelegt, [114] besäßen. Es wäre die Geschichte eines vernünftigen Wahnsinnes, in welchem, wie Polonius von Hamlet sagt, allenthalben Methode statt findet; eine sehr mannichfaltige Blumenlese, die Probe vom Reichthum und der Armuth aller menschlichen Erfindung.


2. So natürlich es dem Menschen scheinet, daß alles Wirkende Person sei: so kann er sich auch keine andre Art der Wirkung als die in seiner Natur liegt, Thätigkeit und Leiden, Empfangen und Geben, Liebe und Haß, am Ende endlich nichts als die beiden Geschlechter denken, in welche die Natur ihre belebtesten Wesen getheilt hat. Bei Menschen, bei Thieren, ja sogar bei Pflanzen und Bäumen sehen wir dieselbe; warum sollten sie hier aufhören und nicht auch bei den höhern elementarischen Wesen, bei den Kräften der Natur selbst stattfinden, da ja alles in der Schöpfung giebt oder [115] nimmt, wirkt oder genießt, einander hasset oder liebet? Und so ward der Himmel mit Göttern und Göttinnen, so wurden die Elemente mit Wesen erfüllt, die sich einander fliehen oder anziehen, einander fördern oder zerstören. Die Natur ward ein Kampfplatz verschiedner, gegenseitiger, sich einander einschränkender oder einander beistehender Kräfte; und ist sie etwas anders? Selbst die Philosophie der Naturgeschichte muß nach Verwandtschaften, nach Aehnlichkeiten und den beiden Geschlechten ordnen; sie kann nicht anders. Auch diese Sprosse der Dichtung ist uns also in der Analogie der Natur gegeben; der menschliche Sinn bemerkte, die Phantasie mahlte aus. Sogleich floß aus dieser eine andre Quelle der Dichtung, nämlich:


3. Die Erzeugungen und Geburten aller Naturerscheinungen, ihr wechselnder Zustand des Todes und Lebens. Aus vereinigender [116] Liebe sahe man neue Wesen hervorgehn, im zerstörenden Kampf andre Gestalten verschwinden; was war also natürlicher als jene Theogonieen, Kosmogonieen und Genealogieen erscheinender und verschwindender Naturformen, von welchen alle Mythologieen der Erde voll sind.


Dies sind die drei simpeln Ideen, aus welchen sich alle Dichtung des menschlichen Geistes hervorgesponnen hat; ja ich zweifle ob es eine vierte gebe. Sie heißen

 
1. Personification wirkender Kräfte.

2. Liebe und Haß, Empfangen und Geben, Thätigkeit und Ruhe, Vereinigung und Trennung, kurz zwei Geschlechter.

3. Aus zwei vereinigten Dingen ein Drittes, aus zwei widerstrebenden Wesen Untergang des Einen.

[117]

erklärte man dem Seyn das Werden, den Tod aus dem Leben.


Die älteste Mythologie und Poetik also ist eine Philosophie über die Naturgesetze; ein Versuch, sich die Veränderungen des Weltalls in seinem Werden, Bestehen und Untergehen zu erklären. Dies ist sie bei dem tummsten Neger und ists bei dem klügsten Griechen gewesen; weiter kann, mag und will der menschliche Geist nicht dichten. Denn was sollte es sonst heißen: dichten? Etwa ex professo wie Satanas lügen? In einer menschlichen Seele begreife ich dies Wort nicht, außer sofern sie völlige Absurdidäten zusammensetzte und damit selbst ungereimt würde. Der Mensch erfindet nur aus Armuth, weil er nicht hat: er wähnt und dichtet, weil er nicht weiß. Und auch dann ist der Wahn seiner Dichtung eigentlich nichts als sinnliche Anschauung, von seinem bemerkenden innern [118] Sinn mit dem Gepräge der Analogie bezeichnet. Eigentlich und absolut kann der Mensch weder dichten, noch erfinden; er würde damit der Schöpfer einer neuen Welt. Was er thun kann, ist, Bilder und Gedanken paaren, sie mit dem Stempel der Analogie, insonderheit aus sich selbst, bezeichnen; dieses kann und darf er. Denn alles was Bild in der Natur heißt, wird solches nur durch die Empfängniß und Wirkung seiner bemerkenden, absondernden, zusammensetzenden, bezeichnenden Seele.


Es verstehet sich von selbst, daß solange diese Dichtung bei einer Nation blos Sage war, sie Theils ein ungeprägtes Gold blieb, Theils gar bald sehr verfälscht werden mußte. Verfälscht mußte sie werden, weil beinah jeder Sagende dazuthat oder abnahm, auch ohne daß ers wußte und wollte. Einige klare, kühne, lebhafte Geister hatten erfunden und erzählten vor; schwächere Köpfe [119] begriffen halb oder gar nicht; sie erzählten indeß weiter. So wurden endlich Sagen ohne Sinn, Bilder ohne Verstand und Deutung. Mit den Geschlechtern kamen historische Umstände in die Erzählung und mußten hineinkommen, eben weil es Familiensage, Tradition der Kindheit war. Keine Mythologie der Welt hat sich also rein erhalten können, oder sie wäre keine Mythologie gewesen. Phantasieen über die Natur und Begegnisse des Geschlechts, der Nation, des Lebens webten sich zusammen; und so wenig jene eine reine Physik waren, so wenig waren diese eine reine Geschichte. In keiner von beiden aber wollte der menschliche Geist geflissentlich weder dichten noch lügen; er schauete an, und bemerkte, er druckte sich, so gut er konnte, in einer mit dem Gegenstande nicht zusammenhangenden, unvollkommenen, symbolischen Sprache aus und was noch mißlicher ist, er erzählte. Von Kind zu Kind ging die Sage fort und alle Dichtungen [120] derselben wuchsen wie der gewälzte Schneeball in Gutem und Bösem. So schritt die Sage als eine Tochter des Gedächtnisses weiter, bis sie Kunst ward und diese Kunst hieß Dichtkunst. Das rohe Gold ward gepräget und die Sage selbst wars, die diese Prägekunst aufbrachte.

Jeder Erzähler nämlich will gut erzählen und da Er als Unterrichter der Weisere ist, so will er auch seinen Unterricht angenehm, dauerhaft, lebhaft, kurz auf die vollkommenste Weise einprägen. Hiemit war die Dichtkunst erfunden. Dieser Erzähler nämlich erfand seinen ererbten oder erworbenen Gedanken neue, stärkere, lebhafte, liebliche Bilder und Worte; jener den Worten abgemessene Sylbenmaaße, liebliche Töne. Die Geberdensprache brachte den Accent, die Modulation des Tanzes ausgesuchte Metra in die Rede und so war, ohne daß man beinah wußte durch wen? die Dichtkunst da. Jede Nation, die [121] sie nicht aus der Eltern Hause mitbrachte, erfand die Ihrige und mit jeder neuen Form nahm Bild, Sage und Dichtung auch eine neue schönere Gestalt an. Bei allen Völkern also, die ihre Mythologie nicht durch Gesänge und Lieder, durch Vorstellung, Kunst, den Tanz und zuletzt durch die Schrift verfeint haben, ist sie ein rohes Chaos geblieben; wie z. B. die meisten Negervölker und viele Amerikanischen Nationen zeigen. Sobald der Peruaner aber seine Regengöttinn und ihren Bruder, den Donnerer, in ein Lied brachte, ründete sich die Dichtung. Jene rohen Schlacken der alten Sage wurden weggeworfen und durch jeden Gesang, durch jedes neue Sylbenmaas im Liede, durch jedes neue System eines epischen Mährchens, einer dramatischen Vorstellung, endlich gar einer sittlichen, philosophischen Anwendung wurde dies Bild, jene Allegorie feiner geschlungen, vester geordnet. Kurz, nachdem ein Volk poetisch [122] oder nicht poetisch war, nachdem hat sich auch seine Mythologie und Speculation ausgebildet oder ist roh geblieben, wie dies alles der große Markt der Völker aus jeder Stuffe ihrer Cultur beweiset.


Es würde uns zu weit führen, wenn wir uns nach Angabe dieses Ursprunges der Dichtkunst auf jede Gattung derselben einlassen und ihre Entstehungsart untersuchen wollten. Wie diese Gattungen in unsern Lehrbüchern vorgezählt werden, sind sie eigentlich nicht philosophisch, sondern historisch gesondert; man ist der Geschichte gefolgt, wie hie und da, insonderheit unter Griechen und Römern, die Eine oder die andre mit einem besondern Namen bezeichnet worden, damit man, dem Zweck eines Lehrbuchs gemäß, aus ihren Vorbildern Regeln herleiten oder Regeln durch Exempel erweisen könnte. Ich zweifle also nicht, daß neben diesen Gattungen und Namen nicht noch andre möglich und wirklich [123] seyn sollten, wenn man sie nämlich philosophisch unterschiede: denn Griechen und Römer haben auch im Reiche der Dichtung nicht alles erschöpfet. Gegentheils gehen Manche dieser Classen unter Eine Gattung zusammen und vielleicht liessen sich alle unter drei oder vier Worte, der epischen, lyrischen, dramatischen und schlechthin lehrenden Poesie begreifen. Die epische Poesie erzählt die Sage einer Handlung, einer Begebenheit oder Geschichte, es möge solche von Göttern oder Helden, von Menschen oder Thieren, von Bürgern oder Hirten vollführt seyn; und die dramatische stellt diese Handlung, sie sei traurig oder frölich, unschuldig oder lasterhaft, wirklich vor, als ob sie vor uns gehandelt würde. Die lyrische Poesie singt; es sei nun Freude oder Leid, Haß oder Liebe, Unterricht für sich oder für andre, gnug sie moduliret eine eigne Empfindung. Fällt diese Modulation weg und es bleibt blos eine mit poetischem Schmuck [124] gezierte Lehre: so wäre dies die dogmatische Poesie, die aber immer doch an Einer oder mehrerer der vorigen Gattungen theilnehmen und von ihnen ihren Schmuck borgen mußte, wenn sie ihres Namens werth seyn wollte. Wir lassen vorjetzt diese Gattungen der Dichtkunst dahingestellt seyn, um nur Einer derselben, die mit der ältesten Sage und Dichtung nahe verwandt ist, eine nähere Aufmerksamkeit zu schenken; es ist dies die sogenannte Aesopische Fabel. Jeder kennet dieselbe aus gemeinen Begriffen und Beispielen, daher wir mit keiner Erklärung anfangen dürfen, sondern diese vielmehr aus dem Ursprunge der ganzen Gattung aufsuchen wollen: denn auch hier zeigt die Entstehung das Wesen der Sache selbst.