Vom Statisten zum Sängerkönig

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Titel: Vom Statisten zum Sängerkönig
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aus: Die Gartenlaube, Heft 4, S. 62–64
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Vom Statisten zum Sängerkönig.


Wer das stille und schmucke Dessau jemals an einem schönen Frühlingstage gesehen, wird die heitere Anmuth, den lieblichen Festtagsglanz seiner idyllischen Umgebungen nicht wieder vergessen haben. Trübseliger ist es dort freilich im Spätherbst und ganz besonders trübselig war es in jenem Spätherbst des traurigen Jahres 1849, als von Berlin und Wien aus der eisige Reactionswind bis in die verborgensten Winkel Deutschlands blies und die kaum ersprossene Blüthe eines stolz und frisch aufstrebenden Volkslebens überall wieder geknickt und gewaltsam zu Boden getreten wurde. Auch dem kleinen Dessau konnte dieser schnöde Wechsel der Verhältnisse nicht erspart bleiben und er wirkte hier um so verwirrender, je inniger der überwiegende Theil der Bevölkerung dem kurzen Freiheitstraum sich hingegeben hatte. Dieser Schmerz und grimmige Erbitterung erfüllten viele Gemüther, während die reactionäre Strömung auf der andern Seite allen zeitweilig zurückgedrängten Schmutz, alle Beschränktheit und niedrige Gesinnung des kleinresidenzlichen Lebens von Neuem zu entfesseln und zu widerwärtigster Hetzerei an die Oberfläche zu treiben wußte. Wer derartige Stürme in einem Glase Wasser niemals selber mit durchlebt hat, kann sich keine Vorstellung machen von dem Grade der Unverschämtheit und des höhnenden Uebermuthes, mit welchem unter ermunternden Umständen Wankelmuth und speichelleckerische Kriecherei, Verrath, Angeberei und übelriechende Antriebe der verschiedensten Art sich als eben so viele Tugenden zu brüsten und über Manneswürde und Ueberzeugungstreue zu triumphiren vermögen. Zu einem gewaltsamen Zusammenstoße kam es in Dessau nicht, aber ein tiefer Riß, eine in engen Verhältnissen doppelt empfindliche Zwietracht ging durch das bürgerliche Leben und machte namentlich die Wirthshäuser und Erholungsorte zu Stätten leidenschaftlichen und endlos gährenden Streites.

Unter diesen Umständen, die sich mit dem allmählichen Erlöschen der freundlichen Jahreszeit immer unheimlicher und beklemmender gestalteten, wurde es natürlich von vielen Bewohnern wie eine wahre Erlösung betrachtet, als endlich die Theatersaison begann und wenigstens nach einer Seite hin eine beliebte und altgewohnte Ablenkung versprach. Dessau hatte damals noch kein stehendes Hoftheater, sondern wurde während des Winterhalbjahrs von der trefflichen Gesellschaft des Directors Martini besucht, der hier für seine Vorstellungen das herzogliche, mit allem Ausstattungsmaterial reichlich versehene Schauspielhaus, ferner eine tüchtige Ergänzung seines Opernpersonals und neben vielen anderen Erleichterungen vor Allem eines der großartigsten Orchester Deutschlands unter der ausgezeichneten Leitung des berühmten Friedrich Schneider fand.

Auch Friedrich Schneider gehörte in jenen Tagen zu den „mißliebig“ gewordenen Persönlichkeiten. Der mit außerordentlicher Hingebung seinem künstlerischen Schaffen und seinen amtlichen Pflichten lebende Componist des „Weltgerichts“ hatte zwar niemals eine irgend prononcirte politische Rolle gespielt. Aber hinter seiner mächtigen Stirn, hinter der wortkargen Originalität und gedrungenen Barschheit seinen Wesens barg sich der helle und aufgeklärte Sinn eines humanen Denkers, besonders aber ein ehrenfester deutscher Charakter, der, trotz seiner abhängigen Stellung als Hofbeamter, niemals in liebedienerischer Schmeichelei sein Haupt gebeugt und auch jetzt dem Siege der rückschrittlichen Gewalten kein Lob- und Jubellied gesungen hatte. Unter keiner servilen Adresse, in keiner Liste eines treubündlerischen Vereins war der Name dieses alten „herzoglichen Dieners“ zu finden. Dies war genug, ihn bei einer gewissen Hof- und Bureaukratenpartei verhaßt zu machen und einen selbstbewußten Wortführer des fanatisirten Lakaienthums zu der Aeußerung zu veranlassen: „Wenn mir der Herzog Vollmacht gäbe, würde ich den alten Kerl von dem Dirigentenpulte weg arretiren und in’s Loch stecken lassen. Er ist, weiß es Gott, der unverbesserlichste Demokrat im ganzen Lande!“ Als dem ehrwürdigen Meister diese Worte von empörten Freunden hinterbracht wurden, schüttelte er mit lächelnder Zustimmung den mehr als ausdrucksvollen, von langen weißen Locken umwallten Charakterkopf und sagte dann mit seiner heisern Stimme:

„Der Mann hat Recht, wer hätte jemals so vielen Scharfblick in ihm vermuthen können, es muß bei ihm zu tief gelegen haben, zu tief! Hat er nicht auch gesagt, daß ich ein schlechter Capellmeister bin?“

„Nein, Herr Capellmeister, das hat er nicht gesagt.“

„Nun, dann hat’s nichts auf sich; um das, was ich sonst sein und denken will, wird weder er noch der Herzog sich zu kümmern haben!“

Wußte sich aber auch der wackere und schlichte Mann in dieser Weise mit dem großsinnigen Humor des echten Künstlers über manche unangenehme Folgen seiner nagelneuen Anrüchigkeit hinwegzusetzen, so konnte ihn doch in jener Zeit der mildherzige, persönlicher Verfolgungssucht widerstrebende Sinn seines Fürsten nicht immer gegen manche ungewohnte factische Kränkungen schützen, die ihm das Leben hier und da verbittern mußten. Er war daher gleichfalls froh, als endlich Martini mit seinen Schaaren einrückte und die Wiedereröffnung der Oper eine Fülle von ablenkender Arbeit brachte. Seit Jahren hatten Concert und Oper in Dessau unter Friedrich Schneider's Leitung eine ganze Reihe von unvergeßlichen Glanzperioden durchlebt und noch immer widmete er sich dieser Lebensaufgabe mit ungeschwächtem Jugendfeuer. Ihn dirigiren, und namentlich classische Musik dirigiren zu sehen, war allein schon ein Genuß, so ergreifend prägte sich bei dieser Gelegenheit in seinen maßvollen Bewegungen und in seiner zwar unschönen, aber imponirenden Erscheinung der heilige Ernst und hoheitsvolle Eifer einer von der Weihe der Kunst durchglühten Seele aus. Wie ein Imperator beherrschte er Sänger und Orchester, und wie sehr auch zuweilen hinter dem Weinglase die rauhe Schale seines Wesens zu schmelzen, wie heiter und gemüthlich ihn ein fröhliches Gelage oder ein geselliger Verkehr zu stimmen vermochte, in musikalischen Dingen und besonders in solchen, welche seine Aufführungen betrafen, verstand er keinen Spaß, kannte er keine Schonung, weder für sich noch für Andere. Dieselbe schöne Sängerin, welcher er noch gestern Abend in überfließender Zärtlichkeit die Hand geküßt, derselbe hochbejahrte Kammermusikus, mit dem er vor einer Stunde noch Jugenderinnerungen ausgetauscht, mußten oft in der nächsten Probe die drastische Grobheit seines wuchtigen und schnell auflodernden Zorns empfinden, wenn sie durch irgend einen kleinen Fehler, einen leisen, von Anderen kaum vernommenen Mißton sein bis zur wunderbarsten Feinheit ausgebildetes Gehör beleidigt hatten.

Trotzdem wurde er von seinen Untergebenen nicht blos gefürchtet sie zitterten allerdings vor ihm, aber sie verehrten ihn auch und hingen ihm mit jener stolzen Liebe an, wie der Soldat an seinem strengen, aber großen Feldherrn hängt. Das zeigte sich mit besonderer Wärme nach seinem Tode. Als seine ergrauten Capellisten bei seinem Begräbnisse manche verdiente officielle Ehrenbezeigungen vermißten, nahmen sie selber den Sarg auf ihre Schultern und trugen ihren todten Meister von seinem Landsitze erst durch die Straßen der Stadt und dann unter dem Zudrange der ganzen Bevölkerung zum Friedhofe hinaus. Es war ein denkwürdiges und ergreifendes Schauspiel. Ueberhaupt ist wohl selten ein großer Musiker zugleich eine so volksthümliche Figur gewesen, als es der „alte Schneider“ in Dessau war. Obwohl eine gewinnende Leutseligkeit keineswegs zu seinen Tugenden gehörte, witterte man doch hinter der wenig freundlichen Außenseite den edlen und tiefen Kern eines ganzen Mannes.

In jener traurigen Zeit des Jahres 1849, von der wir sprechen, konnte man Schneider, der sonst gern ein paar Stunden in einem Wirthshause verkehrte, nur noch selten an solchen öffentlichen Orten begegnen. Unangenehme Erfahrungen, die er gemacht, sowie der ewige Parteihader, mochten wohl noch störender als die Mißtöne aus dem Orchester in seine Künstlerseele gegriffen und ihn zu größerer Zurückgezogenheit gezwungen haben. Nur nach den anstrengenden Vormittagsproben erholte er sich hin und wieder bis zur Zeit des Mittagessens im traulichen Parterrezimmer des Gasthofs „Zum goldenen Hirsch“, wo sich dann ein wenig zahlreicher Kreis von Getreuen um ihn versammelte und nur von Kunst- und Theaterinteressen gesprochen wurde. Es war ein sogenanntes „trockenes Plätzchen“, das der Alte in der allgemeinen Sündfluth sich erobert hatte. Hier saß er auch einst, behaglich in die Sophaecke gelehnt, an einem trüben Novembertage und schaute bald in die todte, von Schneegestöber erfüllte Straße hinaus, bald hörte er schweigend einem Gespräche zu, das zwischen dem Baritonisten Nusch, einem der tüchtigsten und beliebtesten Mitglieder der Dessauer Oper, und dem Director Martini geführt wurde (der jetzt längst nicht mehr Theaterdirector, sondern in [63] einen königlichen Souffleurkasten hinabgestiegen und dabei Präsident der allbekannten Stammkneipe „Vater Siechen“ in Berlin ist). Meyerbeer’s „Prophet“ war damals wie ein leuchtendes Meteor von Paris aus am Opernhimmel aufgegangen, alle bedeutenderen Bühnen Deutschlands wetteiferten, die neue Oper mit entsprechendem Glanze in Scene zu setzen, und auch Martini klopfte nun indirect im Interesse seiner Casse deswegen bei Schneider an.

„Wollen sehen,“ brummte dieser endlich in seiner gewohnten Weise. „Will’s dem Herzoge vorschlagen. Habe die Partitur durchgesehen, ist ganz hübsche Musik d’rin, namentlich hat mich Meyerbeer durch das Trio im Krönungsmarsch zu ganz besonderem Danke verpflichtet.“

„Sie, Herr Capellmeister? wie so?“ frugen Alle.

„Weil er es aus meinem Oratorium ,Absalon“ so vortrefflich abgeschrieben,“ antwortete der“ alte Schneider seinen erstaunten Freunden, indem sich ein Schimmer ungeheuchelter Freude in seinem rothen Gesichte zeigte.

„Und Sie sind darüber nicht böse?“ frug man wieder.

„Wie sollte ich das?“ versetzte der Capellmeister ruhig. „Mit meinem vor Jahrzehnten einmal aufgeführten Absalon wäre das dankbare Motiv nun bald den Würmern und der Vergessenheit überliefert, während es in Meyerbeer’s Oper die Mit- und Nachwelt noch lange erfreuen wird; für diese Rettung bin ich ihm entschieden Dank schuldig.“

Bei diesen Worten ging die Thür auf und herein trat, das unvermeidliche Käpfelchen ein wenig lüftend, der greise Wirth des Hauses. Vorsichtig, als ob er das Gespräch zu stören fürchte, trat er an Martini heran und flüsterte ihm etwas in’s Ohr. Dieser antwortete verdrießlich: „Ich habe es ihm ja heute Morgen schon gesagt, ich kann seinen Jungen jetzt nicht gebrauchen. Wiederholen Sie ihm das noch einmal,“ rief er dem schnell sich entfernenden Wirthe nach und fuhr dann, wieder zur Gesellschaft gewendet, fort: „Was heutzutage alles zur Bühne gehen will! Bringt mir da bei dem Wetter ein alter Bauer oder Gastwirih aus Erxleben bei Magdeburg seinen achtzehnjährigen Sohn her, klagt mir die Ohren voll, daß der Junge durchaus bei der Maschinenschlosserei in Magdeburg nicht mehr bleiben wolle, und bittet mich, da er von der Liebe zum Theater nicht abzubringen sei, ihn als Choristen und für kleine Rollen im Schauspiel zu engagiren. Was soll ich aber mit der ungeschlachten Gestalt anfangen? Brauchten wir gerade einen Coulissenschieber – dazu wäre der Junge allenfalls zu verwenden – aber zum Schauspieler – – –“

Hier schwieg er, denn die Thür war wieder aufgegangen und des Hauses redlicher Hüter, bei Alt und Jung in Dessau als „der alte Herre“ bekannt, erschien zum zweiten Male in derselben Angelegenheit. „Herr Director,“ sprach er, „der alte Niemann läßt sich durchaus nicht abweisen, und der junge ist erst ganz und gar des Teufels! Er will nicht wieder mit nach Erxleben, und da der alte Mann keinen andern Rath weiß, so hat er sich entschlossen, lieber Lehrgeld zu zahlen, als seinen Albert wieder mitzunehmen.“

Die Gesellschaft brach in ein herzliches Lachen aus, auch des Directors martialische Züge erheiterten sich bei diesem „Worte von gutem Klang“, und der alte Schneider rief: „Nun, Martini, wenn er partout nicht anders will, so können Sie ja den Versuch machen und ihn zunächst noch mit ,statiren’ lassen. Man weiß ja nicht, was aus dem Menschen werden kann.“

Der Director nickte beifällig und folgte dem alten Wirthe, der ihn am Arme fast hinwegschleppte, zum Zimmer hinaus, um draußen unter dem Heulen des Novembersturms den verhängnißvollen Seelenkauf persönlich abzuschließen.

Schmunzelnd und eine gefüllte Brieftasche vorsichtig versenkend, trat er nach einer kurzen Weile wieder ein und sprach, nachdem er sich gesetzt und einen tüchtigen Zug aus seinem noch gefüllten Glase gethan hatte: „Das Geschäft war gemacht! Dreihundert Thaler Lehrgeld und drei Jahre unentgeltlich als Chorist und in kleinen Rollen spielen –“

„Das ist kaum zu glauben und in meiner Praxis bis jetzt nicht vorgekommen!“ lachte der alte Capellmeister. „Sie müssen aber nun auch redlich Ihre Pflichten gegen den jungen Menschen erfüllen!“ Dann erhob er sein Glas – er trank seit Jahren nur äußerst mäßig – stieß mit den Freunden in der Runde an und verließ unter dem Ausrufe: „Auf daß uns mehr Solche geboren werden!“ mit heiterem Schmunzeln das Zimmer.

Zwei Jahre waren seit dieser Scene verstrichen und zwei Mal war Martini mit seiner Gesellschaft nach Halberstadt übergesiedelt und wieder nach Dessau zurückgekehrt. Hier trank der alte Schneider noch immer nach den Vormittagsproben den Wein des Hirschwirthes; aber von Niemann war in seiner Nähe nur selten wieder die Rede gewesen. Zuweilen sah er freilich die hohe, aber etwas ungeschickte Gestalt des jungen Mannes im Chore stehen und mit großem Eifer singen, oder bemerkte ihn wohl auch, wenn er bei Verwandlungen mit großer Kraft, aber auffallendem Mangel an theatralischem Anstand, Tische und Stühle ab- und zutrug. Blickte er dann, wenn er anderen Tages im Kreise der Freunde saß, auf den zufällig vor ihm liegenden Theaterzettel und fand auf demselben: ein Ritter – Herr Niemann, oder: ein Mönch – Herr Niemann, ein Diener – Herr Niemann, so fragte er wohl: „Nun, Martini, wie steht’s mit Ihrem Zögling für dreihundert Thaler?“ Worauf dieser antwortete: „Aus dem wird sein Leben nichts, er bleibt steif wie ein Bock und der Hansnarr des Publicums.“

In der That war dem so, aber die Schuld lag nicht allein auf Niemann’s Seite. Kleinere Städte ohne reges öffentliches Leben entwickeln oft aus ihrer socialen Atmosphäre eine ganz besondere Sorte von boshaften Harmlosigkeiten; sie bedürfen zu ihrer Unterhaltung einer Persönlichkeit, an der sie sich reiben, an der die Humoristen des Ortes ihren wohlfeilen Witz üben und die klugen Köpfe mühelos ihre Ueberlegenheit bewähren können. Ein solches Stichblatt und Opferthier war damals Niemann für manche Kreise des Dessauischen Publicums geworden. Der blonde und hochgewachsene junge Mann, der Schulen besucht und seine Jugend in Magdeburg verlebt hatte, war im persönlichen Verkehr keineswegs, was man einen ungewandten Burschen nennt. Aber gerade der Widerspruch seiner mehr als untergeordneten und höchst unbeholfenen theatralischen Leistungen mit seiner außerhalb der Bühne zwar treuherzig offenen, aber etwas kecken, streitlustigen und immer kampfbereiten Manier hatte ihn in eine schiefe Stellung gebracht. Kaum war er einige Wochen in Dessau, so hatte sich zwischen ihm und vielen einflußreichen Gästen der Bierhäuser ein Kriegszustand entwickelt, der ihn von hier aus bis auf die Bühne verfolgte, wo er natürlich die vom Parterre beharrlich ihm gespielten Neckereien und losen Streiche nicht mit seinem lebhaften und furchtlosen Mutterwitze zu pariren vermochte. Kurz, „der ehemalige Maschinenbauer, der sich in den Kopf gesetzt hatte, ein Schauspieler zu werden,“ stand ein paar Jahre hindurch auf dem Belustigungsprogramm gelangweilter Residenzbewohner, die unermüdlich waren, ihn zum Kampf zu reizen und mit ihm Scenen herbeizuführen, an denen die Schadenfreude professionirter Schabernacksspieler noch lange gezehrt hat. Daß er von dieser Seite her mit stürmischem Beifallsklatschen und johlendem Bravorufen belohnt wurde, wenn er ungeschickt aus der Coulisse trat und klanglos ein paar sorgfältig einstudirte Worte sprach, war etwas ganz Gewöhnliches und sicher schallte ihm jedes Mal Gelächter nach, wenn er nach Ausrichtung einer ernsten Botschaft die Bühne in feierlicher und meistens allerdings komisch sich ausnehmender Haltung verließ. Man sieht, der Weg dieses jugendlichen Kunstbeflissenen war reichlich mit Dornen besäet und es gehörte für ihn kein geringes Selbstgefühl dazu, sich schutzlos, wie er war, durch all’ diesen Hohn, diese vielseitigen Einschüchterungen und Entmuthigungen hindurchzuringen und dem einmal gefaßten Entschlusse treu zu bleiben. So war denn beinahe auch das dritte Lehrjahr verstrichen und die Zeit seiner Entlassung rückte immer näher heran, ohne daß er es auf dein Wege zum tragischen Helden und Liebhaber, diesem Ziele seines Ehrgeizes, weiter gebracht, als bis zum Statisten und Choristen. Da spielte ganz plötzlich eines Abends der Zufall einen seiner launischen Streiche. Meyerbeer’s Hugenotten wurden gegeben und der aller Welt bekannte Nachtwächter von Paris hatte sich auf seiner nächtlichen Fahrt in der Bartholomäusnacht erkältet und konnte die Rolle nicht ausführen, um die ihn sein College Niemann schon längst beneidet hatte. Dieser faßte sich ein Herz und meldete sich als Lückenbüßer. Der kleine Director maß den großen Nachtwächter vom Kopf bis zum Fuß, dann sprach er ironisch: „Fast zu viel für die kleine Lücke; indeß, meinetwegen, es giebt ja in der Welt auch große Nachtwächter.“

Wie ein Wetter hatte Niemann den Mantel um, die Pudelmütze auf dem Kopfe, Stab und Laterne in der Hand und ließ sein „Verwahrt das Feuer und das Licht“ so leidenschaftlich bewegt in die Welt hinausschallen, daß ihn das ganze Publicum wieder ein [64] Mal derb auslachte. Nur ein Einziger lachte nicht mit, der lauschte erfreut der gewaltigen, klangvollen, aber noch mehr als rohen Stimme. Das war der alte Schneider an seinem Pulte. Sofort nach der Vorstellung begab er sich zum Director und frug: „Wer war denn der Nachtwächter heute?“

„Das war ja Niemann!“ antwortete dieser lächelnd.

„Das war Niemann?“ brummte der Capellmeister wieder. „Das ist ein Teufelskerl – – soll morgen früh vor der Probe in den Probirsaal kommen – will seine Stimme näher untersuchen.“

Am andern Morgen stand Niemann zitternd und mit bleichen Mienen vor dem gefürchteten Capellmeister am Clavier, der ihn mit den Worten: „Tonleiter singen!“ anherrschte und dabei auf dem Flügel Ton für Ton ganz so langsam anschlug, wie Niemann die Scala singen mußte. Und wie nun einer dieser Töne immer kräftiger und reiner als der andere mit einer Macht aus der Brust hervorquoll, wie es selbst der alte Capellmeister noch nie gehört, und selbst das hohe f und dann das g und zuletzt gar das hohe a, ohne zu fistuliren, voll und klar mit der Bruststimme gegeben wurde, da erheiterten sich selbst des alten Schneider’s Züge, als ob ihm der lieblichste Ton aus seinem „Weltgericht“ erklungen wäre, und er trat an den jungen Sänger heran und brummte: „Sie müssen singen lernen, auf der Stelle singen lernen. Nusch soll Ihnen unter meiner speciellen Aufsicht und Leitung Unterricht geben.“ Mit diesen Worten öffnete er die Thür, rief seinen Lieblingsbaritonisten, den bewährten Gesangslehrer Nusch, herein und übergab ihm den neuen Schüler. „Kann noch was d’raus werden,“ meinte Schneider, „aber Fleiß verlang', ich – viel Fleiß !“

Und an Fleiß ließ es Niemann nicht fehlen. Seine musikalischen Studien beschäftigten ihn Tag und Nacht. Dem Hugenottennachtwächter folgte der Propheten-Bote als nächste Sprosse auf der Himmelsleiter, die ihn endlich, aber erst nach einer Reihe von Jahren und nach vielen Prüfungen, aus der armseligen Obscurität der kleinsten Bühnen, erst von Halle nach Berlin und zuletzt nach Hannover führte, zu den höchsten Ehren, die jemals ein deutscher Tenorist im Inlands wie im Auslande geerntet hat. Schon im Jahre 1859 warb er mit seiner Gattin (die vormalige Marie Seebach) um die höchsten Kränze des Ruhmes. Glänzende Gastspiele machten bald seinen Ruf bekannt, aber immer noch strebte er unermüdlich. Freilich war an die Stelle des verewigten Friedrich Schneider später ein anderer Mentor in der Person des berühmten Gesanglehrers Duprez in Paris getreten. Doch ehe noch zehn Jahre seit jenem grauen Novembertage zu Dessau verstrichen – was war da aus Niemann geworden und was ist er jetzt?! –

Treten wir in eine Loge des Berliner Opernhauses. Es ist besetzt bis zum letzten Platze, und mancher davon ist wohl drei- und vierfach bezahlt, denn Niemann singt heute den „Tannhäuser“. Wuchtige Tonwellen voll verborgener Zauberkraft, groß, wild leidenschaftlich wie das Weltmeer in seiner Erhabenheit, rauschen uns entgegen; die ganze Macht der Musik reißt wie ein brausender Strom uns in ihre unendlichen Strudel; das Feenreich in der von Perlen und Korallen und magisch glitzerndem Gestein schimmernden Grotte durchtobt ein schwüler, chaotischer Kampf sinnverwirrend, herzumstrickend, wie die schweren, wuchtigen Dissonanzen mit unendlicher Gewalt nach harmonischer Auflösung ringend, – und mitten durch dieses Toben, durch der Tonfluth chaotische Wildniß tönt eine Stimme, eine Stimme, sage ich? Nein, es ist mehr als Stimme, es ist eine Tongewalt, die keinen Widerstand und keine Grenzen kennt und sich Luft macht in den Worten: „Mein Heil ruht in Maria!“ – Da steht er, der Sänger, dem diese Töne mit bezwingender Macht von den Lippen flossen, – da steht er, den mächtigen männlich schönen Körper hoch emporgerichtet, Blicke und Hände voll Begeisterung gen Himmel erhoben; – da steht er, aus dessen wogender Brust, noch von den Lüsten der Leidenschaften geschwellt, der Hülfeschrei sich losrang, vor dem das Reich der Sinnlichkeit prasselnd zusammensank: es ist Niemann, der größte Tenorist unserer Tage, dem das entzückte Publicum begeistert zujauchzt; dessen Kommen und Gehen an jeder deutschen Bühne einem Triumphzuge gleicht und dem schon unzählige Male für seinen Tannhäuser, Lohengrin, Rienzi, Cortez, Masaniello der Lorbeer auf das Haupt gedrückt worden ist – auch in Dessau, wo er nach bereits erlangtem Ruhme drei Mal in einer Woche den „Tannhäuser“ unter dem begeisterungsvollsten Jubel auch seiner einstmaligen „Freunde“ gesungen hat. Gewiß, eine herrliche Genugthuung, der aber zu voller Beglückung des Künstlers nur etwas fehlte: der seelenvolle Zauberblick Friedrich Schneider’s, wenn er zufrieden und beseligt war. Der alte Meister war schon heimgegangen und hatte den Ruhm seines einstmaligen Schülers nicht erlebt.