Vom Kaukasus zum Persischen Meerbusen/Wan. Die Gärten. Die Menschen. Sonstiges

Unsere Drangsale in Wan vom 7. Oktober bis zum 14. November Vom Kaukasus zum Persischen Meerbusen
von Paul Müller-Simonis
Die Stadt Wan, ihr Klima, ihr See
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Dreizehntes Kapitel.
Wan: Die Gärten. — Die Menschen. — Sonstiges.
Die Gärten von Wan; ihre Straßen; ihre Bewohner. Die Mission der Dominikaner. Pater Rhetorius; Pater Duplan. Gründung der Mission; die Schwierigkeiten, Verfolgungen. Die amerikanische Mission; Dr. Reynolds. Beschäftigung in unseren unfreiwilligen Mußestunden. Die Alt-Türken und die junge Türkei. Die Beamten von Wan und ihr Charakter; die Angelegenheit der Nestorianer vom Zab; die armenische Verschwörung; der Tabur Agassi: eine starke gerichtliche Phantasie; Luigi d’Amato; der Photograph Patedschan. Wichtigkeit der Konsuln; die russische und die englische Politik. Munir Pascha. Die Armenier von Wan und ihre Sitten.


Kaum waren wir in Wan angelangt, als wir, wie bereits erzählt, uns im Kampfe mit den unglaublichsten Schwierigkeiten befanden.

Da alle diese Hindernisse Schlag auf Schlag einander folgten und sich mit einer unerbittlichen Logik zu einem Ganzen verketteten, wodurch uns der beste Teil unserer Zeit verloren ging und vorläufig alles Andere in den Hintergrund gedrängt wurde, so glaubte ich die Erzählung dieser Schwierigkeiten in ein besonderes Kapitel zusammenfassen und der Beschreibung des Landes vorausschicken zu müssen. Auf diese Weise wurde die Beschreibung der Gegend, die allerdings etwas später auftritt, nicht unnötig ausgedehnt, und die Einheit in der Beschreibung blieb gewahrt. Wir beginnen also wieder mit dem 7. Oktober, wo wir in Wan anlangten.

Der Reisende, der von Baschkala her in Wan eintritt, kommt durch den Teil Wans, der „die Gärten“ heißt.

Beinahe alle orientalischen Städte, die wir besucht haben, sind durch die sie umgebenden Wälle eingeengt. Mögen die Wälle auch allmählich dem nagenden Zahn der Zeit zum Opfer fallen, ihre Ruinen bilden aber noch eine geschätzte Barriere, die selbst von den Briganten bei ihren Raubzügen gewöhnlich nicht überschritten wird. Im Schutze seiner Wälle hat der Bürger keine weitere Belästigungen zu fürchten als die der Regierung und ihrer Beamten, einer Bande freilich, die oft die Abwesenheit der Briganten bedauerlich erscheinen läßt.

Um die Wälle breiten sich gewöhnlich Obstgärten aus, deren Ertrag zuweilen zur Reife kommt, ohne daß die Räuber einen starken Zehnten davon erheben. Aber die Gärten sind selten bewohnt, weil die Briganten ihre Raubzüge darein ausdehnen könnten.

Indes ist es hier ganz anders.

Die Festung von Wan ist ein isolierter Felsen inmitten der Ebene und bildet so eine natürliche Warte, von der aus man die Umgebung bewachen kann; eine kleine Garnison genügt darum auch, um die Bannmeile zu verteidigen. Die Bevölkerung der Stadt, zum größten Teil aus Armeniern bestehend, intelligente, zuweilen reiche Leute, nutzt diese günstige Lage zu ihrem Vorteil aus.

Da die Bewohner Wans den Stadtwällen die Sorge um den Schutz der krummen Gassen vertrauen, wo sich in den Bazars die Waren anhäufen, konnten sie nach ihrem Belieben ihre Wohnungen in das Feld bauen, wo sie Raum und Luft hatten. Dadurch sind nach und nach „die Gärten“ entstanden. Die Avenüen der Gärten waren durch die alten Pfade vorgezeichnet, die von verschiedenen Punkten der Ebene aus bis zu den Stadtthoren gingen; einige Weiler bilden gleichsam den Mittelpunkt dieser Ansiedelungen.

Die Festung Wan, von den „Gärten“ aus gesehen.

Da die Bewohner Wans die Unbequemlichkeit ihrer engen Gassen mehr als zur Genüge kannten, so konnte es nicht ausbleiben, daß sie den neuen Avenüen in den „Gärten“ eine größere Breite gaben. Zahlreiche Quellen standen zu ihrer Verfügung; diese wurden zur Bewässerung benutzt, und überall sieht man an der Seite der Avenüen kleine Bäche, deren Ufer mit weiden oder Pappeln eingefaßt sind. Zuweilen zählt eine Avenüe vier oder auch sechs Reihen Bäume.

Hinter diesen Bäumen verbergen sich lange Mauern aus Stampferde, die den Obstgarten und in demselben das Wohnhaus beschützen. Die modernsten Wohnhäuser verschmähen den Schutz der Einfassungsmauer und sind dicht an der Avenüe errichtet. Wagehälse haben sogar auf das Erdgeschoß noch eine oder zwei Etagen gebaut. Es ist dies wirklich gewagt; denn die Häuser sind aus ungebrannten Ziegelsteinen errichtet, und dieses Material ist doch für eine solche Bauart sicherlich nicht geeignet.

In vielen Häusern ist der alte Muscharabi, dieses netzartige Gitter aus Holz, das bestimmt war, den Einblick in das Innern der Wohnung dem profanen Auge zu verwehren, jetzt verschwunden.

Wenn das Wetter schön ist und die Bäume belaubt sind, bieten diese Avenüen des Abends ein schönes Schauspiel, wenn sich eine bunte Menge durch dieselben drängt, die froh ist, hinter den Wällen die Sorge und Arbeit, sowie das Gewühl der Geschäfte zu lassen. Jeder wohlhabende Kaufmann kehrt auf seinem Pferde zurück; zuweilen bringt er auf seinem Tiere noch irgend einen guten Freund mit. Andere kehren in ihrem von Eseln gezogenen Karren zurück, nur sehr wenige sieht man zu Fuß kommen. Die Entfernungen sind übrigens groß. Vom Bazar bis zum Hause der Dominikaner hat man beinahe eine halbe Stunde notwendig.

Wan ist bereits so weit vorgeschritten, daß man an einigen Stellen ein Pflaster aus klein geschlagenen Kieselsteinen hergestellt hat. Diesem Pflaster darf man aber nicht zu viel Zutrauen schenken. Bei dem ersten starken Regen verwandeln sich die Avenüen in Schmutzlachen, wobei dann aber meist das poetische Aussehen stark leidet.

Eben ist die Mission der Dominikaner erwähnt worden. Es ist wohl richtig, daß wir mit diesem Hause und seinen Bewohnern anfangen, da wir bei denselben während der Zeit unseres Aufenthaltes Schutz und wirkliches Wohlwollen gefunden haben.

Das Missionshaus ist nach dem Muster eines bescheidenen Wohnhauses erbaut worden. Im Erdgeschoß dient ein einfach geschmücktes Zimmer als Kapelle; im ersten Stock befinden sich zwei Zimmer, je eines für jeden Missionar, und ein ziemlich großer Diwan (Saal). Diese drei Räume haben Ausgänge auf eine Veranda, die von einem flachen Dach bedeckt ist. Von den Seiten her kann der Wind nach Belieben hineinblasen. Für den Winter ist diese Einrichtung allerdings sehr notdürftig.

Um uns Gastfreundschaft gewähren zu können, mußten die Patres sich freilich sehr einschränken, aber sie haben es mit der größten Bereitwilligkeit gethan.

Die Einrichtung, die nur provisorisch ist, entspricht genau der Dürftigkeit des Etats und der Ungewißheit der Stellung. Wenn bessere Zeiten für die Mission kommen, hat man einen geeigneten Platz für ein großes Gebäude, da sich hinter dem Hause ein großer Garten ausbreitet. Die Produkte des Gartens bieten freilich keine große Auswahl, der Winter dauert nämlich in Wan lange; wird es Frühling, so tritt dieser aber auch mit aller Macht auf, so daß die Vegetation sehr üppig wird. Es ist dann unmöglich, diesen raschen Umschwung zu hemmen; in einigen Wochen schießt alles Gemüse in Samen, so daß der Gärtner darüber ganz mutlos wird.

Der Gärtner ist Pater Duplan.

Pater Duplan ist der Gehilfe seines Vorgesetzten, des Paters Rhetorius. Beide sind uns liebe und ausgezeichnete Freunde geworden.

Die sieben Wochen unseres teilweise unfreiwilligen Aufenthaltes in Wan sind uns wohl oft lang geworden; wenn ich mich heute in dieses bescheidene Haus mit seinen mannigfachen Erinnerungen zurückdenke, erscheint mir die Zeit unseres Verweilens daselbst sehr kurz.

Der Pater Rhetorius ist mehr bekannt unter dem Namen Pater Jakob. In den nestorianischen Gegenden heißt er: Abuna Yakub oder gewöhnlich Iakub Beg. Durch seine Gewandtheit in der chaldäischen Sprache, selbst geachtet von den Nestorianern, hat er sich einen Namen in den Bergen erworben.

Pater Duplan besitzt zwar diese Sprachenkenntnis nicht; sein Türkisch verrät viel eigene Erfindung; aber er ist ein Mann der That, er besitzt alle für eine solche Mission notwendigen Talente. Er ist Architekt, Maler und Gärtner, kurz alles, aber dieses mit Eifer und Feuer.

Da die Mission in Wan von der Mission in Mosul hervorgegangen ist, so bildet sie gleichsam einen vorgeschobenen Posten der letzteren. Sie ist aber noch eher ein verlorener Posten zu nennen, denn bis zur nächsten Mission in Saïrd bedarf es beinahe einer achttägigen Reise.

Die Dominikanerpatres von Wan und die Reisenden.

Die Idee, die bei der Gründung der Mission in Wan die Dominikaner leitete, schien glücklich. Wan ist das große armenische Zentrum; dadurch, daß die Dominikaner sich in Wan niederließen, durften sie hoffen, das armenische Schisma zu verdrängen. Wan ist zugleich auch die bedeutendste Stadt von Hochkurdistan; deshalb konnte es auch mit Vorteil als Operationsbasis für das Eindringen in die nestorianischen Gegenden am Zab von Norden her dienen, wie die Mission von Mosul von Süden dort einzudringen sucht. Dies erklärt auch die Anwesenheit eines so befähigten Mannes wie Pater Yakub, der sich stets mit der Bekehrung der Chaldäer beschäftigt, inmitten des armenischen Zentrums.

Leider hatten die Patres, die hier seit 1881 ansässig sind, von Anfang an nicht viel mehr als Schwierigkeiten und Verdruß zu verzeichnen.

Um die Armenier zur Einheit der katholischen Kirche zurückzuführen, waren zwei Dinge erforderlich: eine Schule und wenigstens ein armenischer Priester. Die Schule, unabhängig von jeder religiösen Rücksicht, schien für das Land eine wahre Wohlthat zu sein, aber die Gründung erregte Anstoß an der bösen Halsstarrigkeit des Walis. Die Patres begannen die jungen Armenier zu vereinigen, um sie die französische Sprache zu lehren; unmittelbar darauf begannen die Bedrückungen und die Drohungen. Zwar wagte der Gouverneur nicht, die Unterrichtsstunden amtlich zu verbieten, sondern ging auf türkische Weise vor, indem er an den Straßenecken Polizisten auf die Lauer stellte. Sahen diese nun einen jungen Mann auf das Haus der Dominikaner zugehen, so hielten sie ihn einfach fest. Dann suchte man den jungen Mann durch allerlei Verleumdungen der Patres von diesen fernzuhalten. Schlug dieses Mittel fehl, dann ging man zur Drohung über: „Wenn du noch ein mal zu den Franken gehst, wirst du ins Gefängnis geworfen.“ Und wirklich blieben die jungen Leute, die durch solche Drohungen eingeschüchtert wurden, von der Mission fern. Gegenwärtig erteilen die Patres den türkischen Offizieren französischen Unterricht. Können sie von dieser Arbeit sich auch nicht viel Erfolg versprechen, so können sie doch die Offiziere, die sich im allgemeinen durch ihre Gerechtigkeitsliebe auszeichnen, für sich günstig stimmen, was im gegebenen Halle von großem Nutzen sein kann.

Betreffs eines armenischen Priesters ist zu bemerken, daß ein solcher einfach unentbehrlich ist. Die schismatische armenische (gregorianische) und die katholische armenische Kirche bilden je eine besondere bürgerliche und religiöse Körperschaft, deren Rechte und Privilegien sich in der Person des von einem Rate umgebenen Patriarchen vereinigen. Dadurch, daß der Armenier in der einen oder andern dieser Körperschaften bleibt, genießt er mancherlei wichtige Vorteile und entgeht in ruhigen Zeiten den drückenden Maßregeln, die der mohammedanische Fanatismus eingeben kann. Wollen die schismatischen Armenier katholisch werden ohne ihre Vorrechte einzubüßen, so müssen sie eben in die religiöse Gemeinschaft der katholischen Armenier eintreten. Da die Patres allein in Wan sind ohne einen Vertreter des katholischen armenischen Patriarchen, der die Abschwörungen der Schismatiker entgegennehmen kann, so verlieren die von den Missionaren Bekehrten in den Augen der Türken ihre Eigenschaft als Armenier, was aber nicht der Fall ist, wenn der Patriarch die selben in die katholische Kirche aufnimmt. Ist dies letztere nun nicht der Fall, so gehören die Neubekehrten überhaupt keiner privilegierten Körperschaft an. Sie werden arme Christen ohne jegliche Hilfsmittel und Verteidigung und sind sowohl den Mißhandlungen der Mohammedaner als auch denen der aufgeregten Schismatiker ausgesetzt. Da sie nicht mehr als Armenier betrachtet werden, können sie auch nicht einmal auf die Hülfe irgend eines politischen Vertreters eines katholischen Staates hoffen. Deshalb können die Patres bei den Armeniern nicht viel auszurichten hoffen. Die günstigsten Augenblicke sind leider vorbei. Anstalten zu einer offenen Bekehrung können einzig und allein wegen des Fehlens eines armenischen Priesters nicht gemacht werden. So scheitern im Orient noch mehr als im Westen die größten Werke an untergeordneten Fragen. Für den Orden mußte darum die erste Angelegenheit die sein, den Patres einen armenischen Priester, der dann als Stellvertreter des Patriarchen fungierte, zu besorgen.

Nachdem die Patres auf allen ihren Schritten so eifrig überwacht und in allen ihren Unternehmungen gehindert werden und gleichsam widerrechtlich an ihr Haus gefesselt sind, bleiben sie auch noch den Haussuchungen und häßlichsten Bedrückungen unterworfen; ja einmal standen ihre Namen schon in der Liste der Geächteten. Nur durch ein Wunder entgingen sie dem letztern Unglück.

Die Stellung der beiden Missionare ist also gewiß nicht beneidenswert. Sie behaupten ihre Stelle, und dies ist schon viel; denn dadurch darf man für bessere Zeiten viel hoffen; jeder Schritt zum Rückzug würde zweifellos die Zukunft der Mission in Frage stellen. Aber bei den jetzigen Zuständen können die beiden Missionare auch nicht handeln.

Was die den Missionaren gemachten Schwierigkeiten noch unbegreiflicher macht, ist der Umstand, daß die armenischen Katholiken dem Sultan gegenüber sehr loyal sind, während die schismatischen Armenier sich nicht so leicht zum Gehorsam verstehen können, je nachdem Anregungen von Etschmyadsin, ihrem religiösen Mittelpunkte, kommen, die gewöhnlich darauf zielen, den russischen Einfluß zu vergrößern.

Melcon, Knecht der Missionare von Wan.

Die Gesellschaft der amerikanischen (protestantischen) Mission, die so bedeutende Niederlassungen in Kleinasien und Persien hat, besitzt auch eine schön eingerichtete Mission in Wan. Diese Mission hat in den letzten Zeiten auch mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt, so daß ihre Thätigkeit gegenwärtig ganz unbedeutend ist. Die Schulen sind bedroht, und die Zahl der Bekehrten wird stets kleiner. Der katholischen Mission gegenüber hat sie doch zwei Vorteile: Sie verfügt über große Geldmittel und erfreut sich außerdem des Schutzes des englischen Konsuls. Dieser Schutz ist schließlich bei den türkischen Zuständen nicht sehr hoch anzuschlagen; aber er ist offiziell, was für die Amerikaner doch ein großer moralischer Gewinn ist.

Der Chef dieser Mission, Dr. Reynolds, ist das richtige Muster eines Amerikaners; er ist ein ausgezeichneter Mensch, durchaus originell und dabei kaltblütig; ungeachtet der langen Zeit, die er schon im Oriente lebt, verrät seine türkische Sprache fast bei jedem Wort den Engländer.

Dr. Reynolds ist ein ausgezeichneter Arzt und gewährt dadurch manche Wohlthaten. Letzthin hat ihm der Wali verboten, die Kranken zu besuchen; dieses alberne und zugleich böswillige Verbot ist durchaus ungerechtfertigt.

Wir unterhielten angenehme Beziehungen zu Dr. Reynolds und seiner Frau während der Dauer unseres Aufenthaltes in Wan. Wie so viele Amerikaner ist Dr. Reynolds Theetrinker, so daß niemals Wein auf seiner Tafel erscheint. Als er uns zu sich einlud, war es grade die Zeit der Weinlese; bei dieser Gelegenheit machte er eine Ausnahme zu unsern Gunsten – Ausnahme ist zwar nicht das richtige Wort – und setzte uns Most vor; da derselbe den Gärungsprozeß noch nicht durchgemacht hatte, so war es auch noch kein richtiger Wein, und das Prinzip war gerettet.

Die Schwierigkeiten, mit denen wir in Wan zu kämpfen hatten, waren nicht bloß langweilig, sondern zuweilen auch gefährlich. Da wir nicht wußten, wie wir die Zeit unserer unfreiwilligen Muße ausfüllen sollten, machten wir Besuche; auf diese Weise haben wir manchen interessanten Einblick in das Leben und Treiben der Anwohner von Wan gethan. Die engsten Straßen wurden uns bekannt, und wir nahmen angenehme Erinnerungen aus manchen Häusern mit, deren Inneres sich uns bereitwillig erschloß.

Der Leser hat bereits erfahren, wie die Türken uns behandelten; doch wird es ihm nicht schwer fallen zu glauben, daß die Kehrseite der türkischen Verwaltung zuweilen ganz erbauliche Szenen enthält.

Was gewöhnlich mit dem Namen „Alte Türkei“ bezeichnet wird, bildet durchweg eine sehr sympathische Kategorie von Menschen. Diese Kategorie setzt sich aus gläubigen Muselmanen zusammen, die gewöhnlich ziemlich unwissend, zuweilen auch intolerant, gewöhnliche Alltagsmenschen sind, dabei aber loyal und mit einem nicht zu unterschätzenden Gerechtigkeitsgefühl ausgerüstet. Es hält schwer, ihre Freundschaft zu erwerben; besitzt man dieselbe aber einmal, so kann man sich auch darauf verlassen. Diese Kategorie ist hauptsächlich unter dem niedern Volke vertreten. In der Beamtenwelt ist der „Alte Türke“ selten geworden, da er der „Jungen Türkei“ den Platz hat räumen müssen.

Die „Junge Türkei“, auf der anfänglich viele Hoffnungen ruhten, ist das letzte Erzeugnis des Islams, das schon mehr mit der Zivilisation in Berührung gekommen ist.

Unsere christlichen Gesellschaften können heute noch ihre Fehler ertragen wegen des verborgenen Einflusses, den das Christentum auf die ausübt, die anscheinend weit von ihm entfernt sind, und wegen des Merkmales, den es auf unsere soziale Einrichtungen drückt. Wenn außerchristliche Nationen mit unserer Zivilisation in Berührung kommen, so bemerken sie eben das verborgene Element, das der Zivilisation Leben und Dauer verleiht, nämlich den Geist des Christentums, nicht; sie sehen nur das unvermeidliche Außere, die Schale, der Kern ist ihnen verborgen, und sie bemächtigen sich der Schale, d. h. der Fehler.

So verhält es sich auch mit der „Jungen Türkei“. Der Beamte, der zu der „Jungen Türkei“ zählt, versteht gewöhnlich etwas französisch; oft ist er auch in Europa gewesen; er besitzt einen gewissen Firnis von Unterricht, obgleich er im Grunde genommen sehr unwissend ist. Die dem Islam anhängenden Laster hat er beibehalten, die unsrigen gewöhnt er sich dazu an. Er ist genügsam, aber falsch und verdorben. Meist bildet sich der mohammedanische Glaube zum Skeptizismus um. Er sieht das alte Reich in Trümmer sinken, aber er weiß nicht, wie er für seinen Teil an der Wiederaufrichtung mithelfen soll. Stehlen und immer stehlen in dem Maße, wie sich der Kreis seiner Leidenschaften und naturgemäß auch der seiner Ausgaben vergrößert, das ist alles, wozu er fähig ist.

Einige unter ihnen, die nach ihrer Rückkehr aus Europa den unüberbrückbaren Abgrund sahen, der die europäische Zivilisation von dem Islam trennt, mußten nun eine starke Reaktion durchmachen. Sie wurden wieder fanatische Muselmanen, haben aber keinen Zug des „Alten Türken“; persönlich sind sie verdorben; aber für die Türkei sehen sie kein anderes Heil als in einem wilden Fanatismus, der um jeden Preis einen Kampf haben will. So sieht man diese Art Türken die Repräsentanten der wildesten und grausamsten mohammedanischen Tendenzen werden.

Andere nehmen das niedrigste und fanatischste Programm auf, ohne irgend einer positiven Überzeugung zu gehorchen, lediglich aus Zorn und Eifersucht über ihre Ohnmacht der Christenheit gegenüber.

Die Mehrzahl der Zivilbeamten in Wan gehören zur „Jungen Türkei“. Einige Züge mögen zur Beleuchtung ihres Charakters dienen.

Die Nestorianer in dem Thale des Zab, die lange Zeit unabhängig waren, müssen jetzt den Türken einen Tribut entrichten, der durch ihren Patriarchen Mar Schimun gezahlt werden muß. Seit einigen Jahren dispensierten sich die Nestorianer von der Zahlung dieses Tributes, und die Türken machten keine Anstalten, durch überzeugende Beweise ihren Tribut zu verlangen.

Die kurdischen Stämme, die um die Nestorianer herum wohnen, befinden sich stets mit diesen in mehr oder weniger offenen Feindseligkeiten. Sie warteten nur auf ein Zeichen, um die Nestorianer anzugreifen.

Plötzlich vernahm man die Nachricht, daß sie sich vereinigt hätten und mit allen Kräften ihre Rüstungen betrieben, um die Nestorianer zu überfallen, zu berauben und niederzumetzeln. Sie betrieben die Vorbereitungen dazu mit Wissen des Walis von Wan. Die böse Welt beschuldigt den Wali allerdings, daß er die Kurden unterstützt habe, um sich durch diesen Raub- und Kriegszug für die Schwierigkeiten zu rächen, die ihm die Nestorianer verursachen. Glücklicherweise regte sich die öffentliche Meinung Englands noch zur rechten Zeit, und die englische Regierung, die durch die letzten Verträge die Verpflichtung eingegangen hat, die Christen Asiens zu schützen, und die zudem bei den Nestorianern dem russischen Übergewicht ein Gegengewicht anzuhängen sucht, sah sich dieses Mal genötigt, aus ihrer gewöhnlichen Reserve herauszutreten. Die Türken waren schließlich gezwungen, Truppen auszuschicken, um die Vorbereitungen der Kurden aufzuhalten. In dem Augenblick, wo wir in Wan ankamen, hatte der Wali gerade diese Truppen in die Provinz Hakkiari begleiten müssen, um die Kurden niederzuwerfen, die er zu dem Überfall ermutigt hatte. Es mag dies für ihn eine unangenehme Aufgabe gewesen sein. Nichtsdestoweniger erzählt man sich, daß das Ansehen Khalil Paschas dadurch bei dem Sultan nicht gelitten hat.

Das Verdienst, eine armenische Verschwörung zu entdecken und niederzuwerfen, scheint mit Recht dem Wali die Krone aller Glorie zu sein, die er zu erlangen fähig ist. Eine wirkliche Verschwörung befürchtet er durchaus nicht; ihm fehlt es eben an einer solchen. Es kann nicht ausbleiben, daß er eines Tages eine solche „erfindet;“ die Listen der Verdächtigen sind schon fertig gestellt, und die Unglücklichen werden gefänglich eingezogen. Aber die Gegenwart der Konsuln geniert den Wali bei seinen Anschlägen, weshalb er versuchte, sich ihrer zu entledigen. Er vereinigte einige armenische Notabeln, die er durch Einschüchterungen zwang, eine Petition an den Sultan zu richten, um sich über die Konsuln zu beklagen und ihre Entfernung zu verlangen. Diese Notabeln übernahmen den feigen Auftrag, das Volk zu täuschen und ihm vorzuhalten, der Zweck der Petition sei, die Freilassung der politischen Gefangenen zu erbitten. Der Pöbel unterzeichnete darauf die Petition in Menge, ohne die Petition gelesen zu haben. Aber ein geringer Armenier, der etwas mißtrauisch war, brachte es fertig, die interessantesten Stellen der Petition heimlich zu lesen. Er erfaßte ihren wahren Sinn und deckte die Schurkerei auf. Nun geriet das Volk in gerechte Entrüstung, so daß die größten Unordnungen zu befürchten waren. Jetzt trat Scherifoff in Thätigkeit, da der russische Konsul gerade abwesend war. In Begleitung seiner Leute ging er zum Wali und drohte diesem; dann beruhigte er die Bevölkerung. Doch gab er sich damit nicht zufrieden, sondern setzte eine Gegenpetition in Umlauf, die bald mit Unterschriften bedeckt war, und die er nach Konstantinopel gelangen ließ.

Der Wali bekam Furcht, doch gelang es ihm durch einige Lügenkunststücke, sich im Sattel zu halten. Keiner der Eingesperrten wurde freigelassen; Monat auf Monat verrann, ohne daß sie vor Gericht gestellt wurden. Ein unglücklicher junger Mann wurde vierundzwanzig Stunden aufs Kreuz angespannt, wobei ihm Kugeln an den Füßen befestigt wurden, damit er so gezwungen wurde, die eingebildete Verschwörung zu gestehen; ein armenischer Priester wurde mitten im Winter stundenlang in eiskaltes Wasser getaucht; ein anderer junger Mensch wurde durch Kolbenhiebe beinahe von dem Tabur Agassi getötet. Die Schurkereien wurden bekannt, und das Volk rottete sich von neuem zusammen, aber der Wali zog sich wieder durch Lügen aus der Klemme. Während dieser Unruhen hätten beinahe die Regierungsbeamten die kurdischen Bergbewohner zur Niedermetzelung der Christen angeführt; nur der Anwesenheit des Konsuls ist es zu verdanken, daß dies damals unterblieb. In ähnlicher Weise hat es auch bei den grausamen Metzeleien zu Ende 1895 und zu Anfang des Jahres 1896 gegangen, wobei z. B. in Urfa allein gegen 8000 Armenier ermordet wurden.

Wiederholt ist bereits des würdigen Gehülfen des Walis, nämlich des Tabur Agassi oder Polizeichefs – Derwisch Agha heißt der Edle – Erwähnung geschehen und zwar in keiner schmeichelhaften Weise; offen gesagt, er verdient es nicht besser. Ein tierischer Kopf mit vorspringenden Wangenknochen unter den grauen, stets zur Seite blickenden Augen, eine zurücktretende Stirn, das ist das physische Portrait seiner Persönlichkeit.

Noch schwerer hält es, das moralische Bildnis dieses Menschen zu beschreiben. Die „berühmten“ armenischen Verschwörungen waren für ihn ein gutes Mittel zur Befriedigung seiner viehischen Laster. Unter dem Vorwande einer gerichtlichen Haussuchung durchstöberte er die armenischen Häuser und zwang die Armenier um den Preis ihrer Freiheit, ihm ihre Weiber auszuliefern. Und dieses ist nicht ein einzelstehender Fall, sondern eine häufig vorgekommene Thatsache. Man muß sich nur wundern, daß sich bis jetzt noch kein Armenier gefunden hat, der dieser Bestie eine Kugel durch den Schädel gejagt hat. Was noch schlimmer ist: Viele Armenier erkauften seine Freundschaft, indem sie ihm in diesem schändlichen Treiben freie Hand ließen.

So lange Derwisch Agha an dem armenischen Element seine Leidenschaft befriedigte, war es für ihn weiter nicht gefährlich. Aber er fand Gefallen an der Sache, was ihn dazu trieb, daß er kurze Zeit nach unserer Ankunft die Frau eines türkischen Offiziers schändete. Aber jetzt wandte sich das Blatt zu seinen Ungunsten. Da Derwisch Agha selbst Offizier ist, wird er vor ein Kriegsgericht gestellt werden, und es ist „möglich“, daß er verurteilt wird. Überhaupt beunruhigte ihn die Sache, und dieser Furcht hatte Joseph Grimaud es zu verdanken, daß er dem Gefängnis entschlüpft ist, wie bereits erzählt wurde.

Im übrigen versteht es dieser Polizeichef in seinen Funktionen ganz gut, die augenblickliche Sachlage richtig zu beurteilen. Den Armeniern gegenüber ist er wachsam; den Kurden gegenüber freilich verfolgt ihn das Schicksal. Damals gelang es durch einen merkwürdigen Zufall zehn kurdischen Gefangenen zu entfliehen, und was noch merkwürdiger war, zu gleicher Zeit soll die Kassette Derwisch Aghas um zweihundert Franks schwerer geworden sein.

Man erzählte uns noch einen gerichtlichen Zufall, für dessen Wahrheit ich indes nicht bürgen kann, da die Russen eine Rolle dabei spielten.

Die protestantische Mission hatte in Erserum einen alten armenischen Schullehrer. Ein junger Armenier im Alter von ungefähr achtzehn Jahren verfertigte ein Gedicht, worin er seinen Ahnungen über die Zukunft Armeniens freien Ausdruck gab. Der alte Lehrer korrigierte das Gedicht, strich die kompromittierenden Stellen und ersetzte sie durch harmlosere. Einige Zeit nachher verließ der Dichter Erserum; auf seiner Reise wurde er festgehalten und untersucht, wobei man auch das Gedicht fand. Er wurde darauf sofort in das Gefängnis geworfen wie auch sein Lehrer. Der Dichter starb, ehe er verurteilt wurde, in dem Gefängnis an den Folgen der erlittenen Mißhandlungen; der Lehrer wurde auf Lebenszeit verbannt.

Ein junger Malteser mit Namen Luigi d’Amato, der englischer Staatsangehöriger war, hatte in Wan eine kleine, blühende Apotheke. Ein hoher türkischer Beamter verlangte eines Tages von ihm ein Mittel zur Veranlassung einer Frühgeburt. D’Amato weigerte sich, dieses zu verabfolgen; sofort klagte ihn der Beamte wegen angeblich verübter Verbrechen bei dem Wali von Wan, dem Vorgänger Khalil Paschas an. Der Wali ließ d’Amato kommen; nach mehreren Schimpfereien befahl er ihm, die Sache zu erzählen. Der Wali, ein Mann der „alten Türkei“ hörte die Auseinandersetzungen an, bewunderte d’Amato und schenkte ihm seine Freundschaft. Kurze Zeit nachher starb der Wali, der damals über achtzig Jahre alt und schon längere Zeit kränklich war.

Nachdem der Beamte, den d’Amato damals hinausgeworfen hatte, so lange gewartet hatte, daß mit den in Wan vorhandenen Mitteln die Leiche des Walis nicht mehr gerichtlich untersucht werden konnte, klagte er d’Amato an, den Wali vergiftet zu haben. Auf diese einfache Anschuldigung hin wurde d’Amato ohne jegliche Untersuchung verhaftet. Sechs Monate saß er in der Untersuchungshaft; in dieser Zeit wurde seine Apotheke geschlossen und der Plünderung überlassen. Am Ende der sechs Monate gelang es endlich dem englischen Konsul, die provisorische Freilassung des Verhafteten zu bewirken; aber jetzt weiß noch niemand, wann d’Amato vor das Gericht gestellt wird. Auf den einfachen Verdacht hin wurde der Bedauernswerte ruiniert.

Ein armenischer Photograph, Patedschan mit Namen, der im Dienste der protestantischen Mission stand, hatte vor einiger Zeit einige photographische Aufnahmen von der Stadt und Festung Wan gemacht wie auch von der einen oder andern Keilinschrift. Plötzlich schöpfte man Verdacht. Man nahm ihm seine Clichés und wird ihm auch zweifelsohne seine Apparate zertrümmern. Während der bei ihm vorgenommenen Haussuchung prüfte ein höherer Offizier die Photographien. Das die Festung überragende Minaret sah er für einen Pascha an; es war unmöglich, ihn von seinem Irrtum zu überzeugen. Die Geschichte ist buchstäblich wahr; der arme Photograph ist in tausend Ängsten. Dummheit mit Bosheit vereinigt giebt eine schlechte Wirtschaft.

Die angeführten Thatsachen zeigen zur Genüge, wie wichtig es für die Europäer in Wan ist, dort Konsuln zu haben, die auch der christlichen Bevölkerung ihren Schutz angedeihen lassen. Rußland hat es gut verstanden, aus dieser Situation den größten Nutzen zu ziehen. Auch hat der russische Konsul die weitgehendsten Instruktionen. In allen Fällen handelt er mit der größten Energie, und da er das ausgezeichnete Prinzip anwendet, die Türken als Knechte zu behandeln, wird er gefürchtet und geachtet.

In einem kritischen Falle, wo ein russischer Unterthan verhaftet worden war, bewaffnete der Konsul seine Leute, stellte seine Kawassen als Schildwache auf, stieg zu dem Wali und kündigte ihm an, wenn der Gefangene nicht innerhalb zehn Minuten in Freiheit wäre, würde er (der Konsul) sich des Walis bemächtigen. Diese kühnen Streiche sind die einzige Ursache, weshalb die Russen so viel bei den Türken ausrichten können.

Ganz anders ist das Verhalten Englands. Der englische Konsul scheint nur die Aufgabe zu haben, seine Regierung von dem Verhalten des russischen Konsuls in Kenntnis zu setzen. Selten bleibt ein englischer Konsul länger als ein Jahr in Wan, wo er übrigens nicht die geringste Autorität besitzt. Seine Instruktion verhindert ihn eben daran, sich irgend ein Ansehen zu verschaffen. Der Wali von Wan hat nicht einmal die türkische Flagge an den Jubelfesten der englischen Königin gehißt; aber der Konsul Ihrer Majestät hat den Befehl, jeden Freitag – dem Ruhetag der Mohammedaner – die britische Flagge hissen zu lassen! Die servile Haltung, die dem neuen englischen Konsul bei der Rückkehr des Walis aufgedrungen worden ist, hat bereits Erwähnung gefunden. Trotz aller Erniedrigungen macht England doch keine Fortschritte; hat es doch sogar sechs Monate bei den untersten Instanzen bedurft, bis England so weit kam, daß sein Unterthan d’Amato in Freiheit gesetzt wurde.

Äußerst angenehm berührte es uns, als Gegenstück zu der Gemeinheit der Zivilregierung die sympathische und freie Figur Munir Paschas zu finden.

Munir Pascha ist der Militärgouverneur von Wan. Er ist ein großer Mann von kräftiger Statur und bietet das Bild eines hübschen Soldaten. Seine ersten Lorbeeren erwarb er sich in der Krim, und seinen Rang verdankt er lediglich seiner Tapferkeit. Zwar ist seine Aufgabe beschränkt; aber seine ganze Persönlichkeit atmet den Zauber der Redlichkeit und Loyalität. Von Anfang an durchschaute er den wahren Beweggrund zu den uns bereiteten Quälereien und schenkte uns seine Freundschaft, als wollte er uns für die Unbilden entschädigen. während der Wali und seine Bande sich gebärdeten, die Türkei dadurch zu retten, daß sie uns an der Kopierung der Keilinschriften verhinderten, gab er uns überall freien Zutritt zu den Orten, die seinem Befehl unterstehen. Auch seine Offiziere waren vom ersten Tage an unsere besten Freunde. Daß der Wali, Tabur Agassi nebst ihrer Zunft sich schon alle Mühe gegeben haben, einen solchen Mann, der ihnen oft einen Strich durch ihre Rechnungen macht, zu entfernen, versteht sich eigentlich von selbst.

Wir lernten in Wan auch einige ausgezeichnete katholische armenische Familien kennen, die meistens von Konstantinopel gekommen waren.

Was die Armenier in Wan betrifft, besonders die Gregorianer, so genießen sie ein sehr zweifelhaftes Ansehen, was sie aber auch redlich verdient haben. Alle erduldeten Verfolgungen und Bedrückungen haben nicht vermocht, ihren Charakter zu ändern. Sie sind feige und falsch, so daß die Konsuln gezwungen waren, uns zu erklären, daß sie die „Alten Türken“ den Armeniern weit vorziehen. Die Verderbtheit der Sitten in diesem armenischen Zentrum ist besonders groß. Die Leichtigkeit, mit der die Armenier ihre Frauen durch den Tabur Agassi entehren lassen, ist bereits erwähnt worden. Freilich ist die Furcht vor demselben die Hauptursache; aber man kann auch den Grund dazu in dem gänzlichen Mangel an jedem besseren Gefühl erblicken. Lebemänner organisieren sich zu förmlichen Banden und veranstalten wirkliche Jagden auf Frauenspersonen. Fünfzehn dieser Teufel entführten neulich eine Unglückliche, die drei Tage lang zum Spielball der gemeinsten Leidenschaften dienen mußte. Als sie endlich halb tot ihre Wohnung wieder erreichte, war ihr Ehemann noch zum Schweigen gezwungen, wenn er sein Leben nicht aufs Spiel setzen wollte. Dergleichen Entführungen sind an der Tagesordnung, und man schreckt dabei vor keiner Gewaltthat zurück. Übrigens bleibt die Unsittlichkeit nicht einmal dabei stehen, sondern Verbrechen gegen die Natur kommen sogar sehr häufig vor. Man muß allerdings gestehen, daß die Türken hierbei tonangebend sind.

Kaum hatten die Patres ihre Schule eröffnet, als auch schon ihre Feinde begannen, die infamsten Gerüchte über die Patres auszustreuen; leider fanden diese Gerüchte Glauben, so daß eine gerichtliche Nachforschung stattfand. Viele Leute staunten, als sie sahen, wie diese Untersuchung zu Ungunsten der Ankläger ausfiel.

In meinem Reisejournal habe ich noch manche Sachen notiert, die in diesem Buche keinen Platz finden konnten; das Angeführte wird indes auch genügen. Alles dies wirkt stark auf die öffentliche Sittlichkeit, mag auch von den armenisch-gregorianischen Priestern noch so viel gepredigt und kontrolliert werden.[1]

In geistiger Hinsicht sind die Armenier sehr gut beanlagt. Als Handelsleute haben sie ihres Gleichen nicht. Tournefort sagt schon von ihnen: „Sie sind nicht allein die Herren des Handels in der Levante, sondern nehmen auch noch einen großen Teil an dem Handel der größten Städte Europas.“ Dieses trifft heute mehr als früher zu.

Ohne Zweifel können die in dem Innern der Türkei zerstreuten Armenier ihre Geschäfte nicht in dem großen Maßstabe betreiben wie ihre Landsleute in Konstantinopel oder in der Fremde, aber sie wissen aus ihrem kleinen Kapital sehr großen Gewinn zu ziehen.

„In Wan sind alle Industriearbeiter und der größte Teil der Landarbeiter Armenier. Die Türken handeln höchstens mit Früchten, und auch deren giebt es sehr wenig. Handwerksmeister giebt es nicht nur keine unter den Mohammedanern, sondern überhaupt sehr wenig Handwerker. Früher lebten sie von dem Ertrag ihrer Acker, oder sie waren Beamte der türkischen Regierung. Heute noch können sie nicht darauf verzichten, Beamte zu spielen, und schlagen die Zeit tot, indem sie in den Kaffeehäusern und Herbergen umherschlendern. Die Muselmanen (Türken und Kurden) führen ein sorgenfreies Dasein; aber man darf hoffen, daß sie eines Tages zu arbeiten beginnen werden, wenn sie die Nichtigkeit einer solchen Existenz einsehen werden.“[2]

Dieses Zeugnis eines türkischen Beamten, der, wenn ich nicht irre, selbst Mohammedaner war, ist köstlich.

Man behauptet, daß die Türken in Wan nur das Monopol der Gerberei und in einem gewissen Maße das der Waffenfabrikation in Händen behalten haben. Aber alle ihre Produkte haben nicht viel Wert.

Der Armenier, und mag er noch so weit hin verschlagen worden sein, sei es in Indien, in Österreich, in Frankreich oder Amerika, behält stets das Nationalgefühl in voller Lebhaftigkeit. Dieses Nationalgefühl wurzelt immer tiefer in dem Maße, wie die Verbindungen leichter werden, wie die Daheimgebliebenen von den Vorteilen unterrichtet werden, deren sich die zivilisierten Völker erfreuen, und wie die im Auslande über die erbärmliche Lage ihrer Landsleute unterrichtet werden; von beiden Seiten kommt man sich hierbei entgegen. Als der letzte russisch-türkische Krieg ausbrach, wagten die Armenier sogar, von einem unabhängigen Armenien zu träumen.

Aber dieser Traum verwirklichte sich nicht. Es wäre nicht genug, daß die armenischen Provinzen von der Türkei losgerissen würden, die sie besaß;[3] Rußland müßte gezwungen werden, das ganze Thal des Aras aufzugeben, denn ein armenisches Reich ohne den Ararat und ohne Etschmyadsin, dem religiösen Mittelpunkt, ist nicht denkbar.

Aber Rußland ist bekanntlich nicht sehr großmütig, und selbst wenn es damit einverstanden gewesen wäre, würden die andern Mächte ihre Bedenken gegen ein so großes Unternehmen geltend gemacht haben.

Das unabhängige Armenien wäre doch nur ein Vasallenstaat Rußlands geworden. Aber Rußland hat es vorgezogen, Etschmyadsin unter seinem direkten Befehle zu behalten, damit es imstande ist, auf das türkische Armenien seinen Einfluß fortwährend geltend zu machen. Die Enttäuschung war groß, und heute sind die Armenier weit davon entfernt, das russische Protektorat mit der frühern Begeisterung zu betrachten. Sie merken, daß Rußland bei allen Unternehmungen nur auf seinen eigenen Nutzen bedacht ist, daß es ihre Nationalität und ihre Kirche aufsaugen und vernichten will; sie sind mißtrauisch geworden, und die russischen Armenier schicken sich an, das Element der Opposition, die „Polen des Südens“ zu werden. Für die türkischen Armenier hat Etschmyadsin seinen Zauber verloren; denn die Hand des Zaren macht sich zu sehr bemerklich, und das Patriarchat von Konstantinopel gewinnt von Tag zu Tag mehr an Einfluß.

Armenierin in Wan.

Rußland und das übrige beteiligte Europa besaßen also nicht die Großmut, ein armenisches Reich wieder herzustellen; wahrscheinlich wäre das Unternehmen auch durch innere Gründe gescheitert. Die Reichen, Gebildeten und Unternehmenden der Nation wohnen alle von dem eigentlichen Armenien entfernt. Die Gründung eines unabhängigen Armenien würde sie nicht veranlaßt haben, in ihr Vaterland zurückzukehren, und das arme, ungebildete Element hätte sich dann allein im Kampfe befunden mit den Hindernissen, die sich stets der Gründung eines Reiches entgegenstellen, und denen sie schwerlich gewachsen waren. Dazu kommt noch der Umstand, daß die Armenier, die in ihrer eigentlichen Heimat das moralische Übergewicht haben, der Zahl nach in der Minderheit sind. Die türkische und kurdische Bevölkerung, die seit langer Zeit gewöhnt sind zu herrschen, sind daselbst zu zahlreich, um sich ohne Kampfe einer neuen Macht zu unterwerfen, die durch ihre früheren Unterthanen repräsentiert wird.[4]

Armenisches Grabkreuz.

Blieben die Armenier in diesen unausbleiblichen Kämpfen sich selbst überlassen, so hätten sie wahrscheinlich unterliegen müssen, und die Schwierigkeiten ihrer Lage hätten nur dazu beitragen können, die orientalische Frage noch verwickelter zu gestalten.

Man kann also mit ziemlicher Sicherheit die Idee eines unabhängigen Armenien in das Reich der Träume verweisen; wenn man auch der armenischen Rasse eine glänzende Zukunft vorhersagen kann, so darf man doch mit Grund an der Reformation ihrer Nation zweifeln.

Übrigens liegt auch noch eine der größten Schwierigkeiten, die sich der Gründung eines armenischen Reiches entgegenstellen, wahrscheinlich in dem Charakter der Armenier selbst. „Ungeachtet ihrer Überlegenheit haben sie doch große Fehler, wie Uneinigkeit, Unversöhnlichkeit, Rachsucht, Neid – es sind jedesmal die Früchte und Folgen der jahrhundertelangen Sklaverei unter der mohammedanischen Herrschaft“;[5] aber man hat keine Veranlassung zu hoffen, daß dergleichen Fehler, die in das Blut übergegangen sind und deren Spuren man in der ganzen armenischen Geschichte verfolgen kann, jemals verschwinden werden.

In physischer Hinsicht ist der Armenier von Wan schwerfällig, von wenig anmutenden Formen, aber kräftig.

Verlassen wir jetzt die Gärten von Wan und ihre Bewohner, um uns zu der alten Stadt zu begeben!

  1. Alte Schriftsteller, wie Le Bruyn (IV, 220 ff.) schon, zeichnen von den Sitten der Armenier ein sehr ungünstiges Bild. Tournefort sucht dieselben zu verteidigen (Brief 20).
  2. Churchid Effendi, angeführt bei Arzruni: Les Arméniens en Turquie, 16.
  3. Sie verbanden sich mit den Vilayets von Wan, Bitlis, Darsim, Erserum und einem Teil von Diarbekr und Kharput.
  4. Die Zerstreuung der armenischen Völker läßt sich statistisch schwer feststellen. Die einen schätzen die armenische Bevölkerung auf 2½ Millionen Seelen, während andere diese Zahl verdoppeln oder verdreifachen. Mit ziemlicher Sicherheit darf man indeß annehmen, daß die Zahl der türkischen Armenier sich auf 800000 Seelen beläuft. Sie sind also in ihrem eigenen Lande in der Minderheit im Vergleich zu den mohammedanischen Völkerschaften, die sich dort niedergelassen haben und beinahe doppelt so zahlreich sind.
  5. Arzruni, Les Arméniens en Turquie, 19.