Vom Kaukasus zum Persischen Meerbusen/Bitlis. Saïrd. Der Bohtan

Der Sipan-Dagh. Akhlat. Von Akhlat nach Bitlis Vom Kaukasus zum Persischen Meerbusen
von Paul Müller-Simonis
Von Saïrd nach Dschesireh
{{{ANMERKUNG}}}
  Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Achtzehntes Kapitel.
Bitlis. Saïrd. Der Bohtan.
Bitlis; Lage; Gepräge. Ein Sonntag in Bitlis. Bauarten der Stadt; die niedrigen Viertel; die Festung und ihre Geschichte. Von Bitlis zu unserem Lager. Merkwürdiger felsiger Ausläufer, der durch zusammengehäufte Kalksteine entstanden ist; das Thal des Bitlis-Tschaï; Art der Ausbeutung der Wälder; eine Begegnung mit Briganten; ehemalige Bedeutung des Weges für den Handel. Dukhan; Unmöglichkeit, die Nacht dortselbst zuzubringen; wir reisten weiter und schliefen bei „Mutter Grün“. Von unserm Lager nach Saïrd; ein schrecklicher Tag. Schwierigkeiten bei dem Marsche auf dem weichen Thonboden der Abhänge; Überfluß an Rebhühnern; immer Regen. Unordnung; Saïrd; die amerikanische Mission. Die Christen von Saïrd. Die Gegend des Bohtan; ihre natürlichen Hilfsmittel; ihre Armut; schändlicher Mißbrauch bei der Verteilung und Erhebung der Steuern. Eine patriarchalische Familie. Neue Normalitäten mit der Polizei. Ausflug zu dem Kloster von Deir-Mar-Yakub. Ein verlassenes Dorf vor den Thoren von Saïrd: die alte Stadt (Hadarwiß). Strike der Zabtiehs und die Veranlassung dazu.

Man wird wohl niemals eine Stadt in diesen engen Schluchten anzutreffen hoffen, wo die steilen und zerklüfteten Abhänge der Berge das Bett des Stromes ganz einschließen. Aber Bitlis ist die Hauptstadt[1] von Kurdistan, und es ist darum auch ganz in der Ordnung, daß die Stadt das fremdartige Gepräge der Abenteurer und Banditen trägt, die sie beherbergt.

Ankunft 3 Uhr nachmittags.

Ein vulkanischer Felsen, eine Art erratischer Block, schließt das Thal ab; der Fluß fließt vollständig um denselben herum und bildet eine Art Insel, die mit dem übrigen Teile der Stadt nur durch eine schmale Landzunge verbunden ist. Dieser Felsen trägt eine heute zerfallene Festung. Nach allen Seiten hin von Bergen überragt, würde sich diese Festung schlecht gegen unsere heutige Artillerie verteidigen können; aber durch den Schutz seitens des Stromes und die steile Böschung konnte sie vielleicht in der guten alten Zeit ein bedeutendes Hindernis für den Hemd gewesen sein.

Xenophon kam hier mit seinen Zehntausend vorbei, erwähnt aber leider in seinem werke „Anabasis“ die Festung Bitlis nicht. Die Überlieferung schreibt die Gründung der Stadt Alexander dem Großen zu und weiß sogar die Offiziere zu nennen, denen die Bewachung der Stadt oblag.[2]

Das Schloß ist der Mittelpunkt der Stadt. Ein wenig stromaufwärts mündet auf dem rechten Ufer des Bitlis-Tschaï ein kleines Thal mit sanften Abhängen. Die Wohnungen liegen hier in Gärten zerstreut; das Ganze erscheint als eine Vorstadt von Bitlis. Die eigentliche Stadt liegt um das Schloß herum und stromabwärts, überall in den Abhängen, steigt die steilen Felsen hinauf und bietet dem Auge überall halsbrecherische Sträßchen, unglaubliche Anblicke, Häuser, die buchstäblich auf einander gebaut sind.

Da wir uns noch auf dem rechten Ufer des Bitlis-Tschaï befanden, mußten wir zunächst ein felsiges Vorgebirge erklettern, das die ganze Stadt beherrscht. Dieses Vorgebirge trägt das alte Schloß der kurdischen Beys, das heute zu einem Konak oder einer Präfektur umgewandelt ist.[3] Hier wohnt auch der Wali, dem wir aus politischen Rücksichten zunächst einen Besuch machen und unsere Schreiben überreichen wollten, um alle Scherereien zu vermeiden. Der Tabur Agassi führte uns ein.

Der Wali ist ein Mann von ungefähr fünfzig Jahren. Er verstand leider kein Französisch; zum Glück trafen wir bei ihm einen Levantiner, der den wichtigen Posten eines Brücken- und Straßeningenieurs versah, und der bereitwillig als Dolmetscher fungierte. Der Besuch verlief sehr angenehm, und der Wali stellte sich ganz zu unserer Verfügung. Als charakteristisches Merkmal des Besuches können wir anführen, daß der Wali uns Zigaretten anbot, aber eingeschmuggelte.

Es blieb uns jetzt noch übrig, eine Wohnung aufzusuchen. Sahto war mit einer braven armenischen katholischen Familie bekannt und führte uns zu ihr. Zu diesem Zwecke mußten wir auf das linke Ufer des Flusses kommen, was so viel bedeutete, als in der Hauptstraße von Bitlis ein schreckliches Hin- und Herfallen auszuführen, dem auf der anderen Seite der Brücke ein peinlicher Marsch durch die Gäßchen des Bazars folgte, und diesem ein nicht weniger konfuses Steigen. Darauf kamen wir zu einer Art langen Terrasse, wo wir denn auch endlich unser Logis entdeckten. Es liegt auf dem Wege nach Saïrd ganz am Ende und beinahe außerhalb der Stadt. Wir wurden ganz liebenswürdig empfangen und in einem großen Diwan einquartiert, der nur das eine Unbequeme hatte, daß er zu groß und infolge dessen auch ziemlich kalt war.

Da es kaum drei Uhr war, so trugen wir die Briefe des Dr. Reynolds zu den amerikanischen Missionaren. Wir wurden auch hier gut empfangen, aber mit liebenswürdiger Zurückhaltung, die diesen Herren eigen ist. Sie bedauerten, uns zum Diner für den kommenden Sonntag nicht einladen zu können, da die Sonntagsruhe sie daran verhindere. Die etwas zurückhaltende Unterredung lehrte uns nichts Neues.

2. Dezember.

Wir begannen den Tag, indem wir dem Gottesdienste in der kleinen Kapelle der katholischen Armenier beiwohnten. Kaum waren wir in unsere Behausung zurückgekehrt, als ein Adjutant des Walis erschien, um uns zu begrüßen und nach unseren Wünschen zu fragen. Da ich einige photographische Aufnahmen von der Stadt zu machen wünschte, bat ich den Offizier, uns einen Polizisten zur Verfügung zu stellen, um mich zu führen und die Menge zurückzuhalten.

Dann, o Wunder! erschienen die Amerikaner. Nach reiflicher Überlegung waren die Herren zu dem Entschluß gekommen, daß das Besuchen der Fremden, die nur einen Tag in Bitlis bleiben wollten, durchaus keine grobe Entheiligung der Sonntagsruhe bedeute. Da wir mit der allerdings etwas pharisäischen, unbeugsamen Strenge der amerikanischen Gebräuche bekannt waren, wußten wir den Herren aufrichtigen Dank, unserthalben eine Ausnahme gemacht zu haben.

Der bereits erwähnte Ingenieur und der Chef der Tabaksregie, beide aus Europa gebürtig, hatten uns zu dem Frühstück eingeladen. Die Mahlzeit war einfach, aber alles recht gemütlich. Diese beiden Herren haben selten Gelegenheit mit einem Europäer zu sprechen oder doch etwas von dem Ufer des Bosporus zu hören, dem Vorposten Europas. Sie befinden sich hier sozusagen im Exil. Auch sind sie gleichsam in der Stadt selbst interniert, da für einen hohen Beamten die Umgebung von Bitlis recht gefahrvoll ist; einen Spaziergang kann man ohne gehörige Begleitung nicht wagen. Was die Verwaltungsarbeiten betrifft, so handelt es sich eben meistens um die Trinkgelder bei den Geschäften; die Straßen unseres Ingenieurs existieren eben so wenig als die famose Straße von Wan nach Erserum. Und wie will der Chef der Tabaksregie die Interessen der Regie wahrnehmen, wenn der Wali sogar seinen Besuchern geschmuggelten Tabak anbietet? Übrigens machen sich die kurdischen Stämme auch nicht sehr viel aus den Monopolen, da sie kaum imstande sind, ihre Steuern zu entrichten.

Wir hatten in der Regie gefrühstückt; nahe bei derselben befindet sich ein alter Friedhof, von dem aus man eine herrliche Aussicht auf Bitlis hat. Hier habe ich auch eine Photographie[4] von Bitlis aufgenommen, dessen Lage nicht allein malerisch ist, sondern das auch durch die Bauart der Häuser ein ganz eigentümliches Gepräge erhält.

Hier ist keine Rede mehr von Häusern aus Erde wie in Wan. Die Gegend liefert vulkanische Steine im Überfluß.[5] Dieser braunrote Stein läßt sich im Augenblick, wo er aus der Steingrube kommt, ganz leicht bearbeiten, sogar noch mit einem Handbeil, wird aber an der Luft hart. Er wird bei dem Baue aller Häuser angewandt, und seine regelmäßig behauenen Blöcke geben den Wohnungen einen reichen und netten Anblick. Die Fenster, die oft mit Spitzbogen versehen sind und nach der Straße zu aufgehen, trifft man häufiger als in andern Städten, wodurch das Aussehen der Straßen lebendiger ist. Leider ist dieser vulkanische Stein ein großer Wasserfreund und macht durch die aufgesogene Feuchtigkeit die Wohnungen ungesund. Auch scheint er nicht sehr widerstandsfähig zu sein; denn in der Mehrzahl der Brückenbogen bemerkt man zwischen den Steinschichten regelmäßig eingeschobene Hölzer, die ohne Zweifel Senkungen vermeiden sollen. Ein Spaziergang in die untern Viertel der Stadt ist außerordentlich angenehm. Zahlreiche Brücken von nicht allzu solider Bauart überspannen den Fluß, der durch die felsigen Ufer sehr eingeengt ist; Mühlen, kleine Moscheen, einige armenische Kirchen fassen ihn ein und beanspruchen auf diese weise jedes ebene Plätzchen. Und über unsern Köpfen bemerkten wir ebenfalls Häuser, die bald mit unbebaubaren steilen Felsen abwechseln oder aus einem Wäldchen hervorlugen und über dem Abgrunde in einer wahrhaft künstlerischen Unordnung schweben. In solchen Schluchten würde man kaum ein Dorf vermuten, vielleicht ein Pastell wie in dem Sabinergebirge oder in den Abruzzen; aber hier haben wir in dieser Schlucht eine wirkliche Stadt vor uns, die für die Türkei sehr wichtig ist, da sie ungefähr 30 000 Einwohner zählt.

Da man in der Türkei bei Volkszählungen sich nach der Anzahl der Herde richtet, so ist es unmöglich, die Zahl der Einwohner genau zu bestimmen. Das kurdische Element ist hier überwiegend, denn von den 6000 Häusern sind 5000 kurdisch und 1000 armenisch, worunter auch ungefähr dreißig katholische Familien. Die türkische Bevölkerung zählt nur gegen zwanzig Haushaltungen.[6]

Die Gründung der Stadt Bitlis durch Alexander ruht auf keiner sichern historischen Grundlage. Früher besaß die Festung allerdings eine große Bedeutung. Die Armeen Omar Paschas entrissen die Stadt den Byzantinern im Jahre 648; aber bald wurde Bitlis die Hauptstadt eines kurdischen Fürstentums. Seine Beys zogen aus dem Verfall des Khalifats wie so manche andere Nutzen und sicherten sich ihre Unabhängigkeit. Tavernier sagt in dieser Hinsicht: „Bitlis ist die Hauptstadt eines Beys oder Fürsten des Landes, die mächtigste und bedeutendste von allen, da sie weder den Großsultan noch den König von Persien anerkannt. Der Bey oder Fürst, der an diesem Orte herrscht, kann, von den unzugänglichen Orten ganz abgesehen, 20–25000 Pferde und eine Menge Infanteristen auf die Beine bringen, die sich aus den Hirten des Landes zusammensetzen, die beim ersten Kommando schon bereit stehen“.[7]

Indessen hielt es der Bey für das beste, sich der hohen Pforte zu unterwerfen, als Sultan Murad IV. im Jahre 1638 Eriwan und Baghdad den Persern entrissen hatte. Übrigens verstanden es seine Nachfolger, indem sie die Verlegenheiten der Sultane benutzten, sich mehr oder weniger ihre Selbständigkeit zu wahren. Die Türkei konnte auf Bitlis erst einen direkten Einfluß ausüben, indem sie an Stelle der Beys die Walis setzte nach dem harten Kampfe in Kurdistan, der 1847 die Niederlage Mahmuds, des Beys von Wan, herbeiführte.

3. Dezember. Abreise 7½ Uhr.

Überall findet man dieselbe Schwierigkeit, wenn man genaue Auskunft haben will. Niemand konnte uns die Zeit angeben, die nötig ist, um Saïrd zu erreichen, und zudem ist Saïrd die nächste Stadt. Die Abschätzungen schwanken zwischen dem Doppelten und Dreifachen. Allgemein heißt es, daß wir nur einen Tag notwendig hätten; in diesem Falle war auch die Karte unzuverlässig. Wir begeben uns also auf gut Glück auf die Reise.

Hinter Bitlis folgt man zunächst der „Fahrstraße“ von Bitlis nach Saïrd, die aber schon nach hundert Metern nicht mehr brauchbar ist. Noch eine Viertelstunde weiter, und man hat die Straße gänzlich aus den Augen verloren und findet statt ihrer den alten Pfad.

An der Stelle, wo die „Straße“ endet, sprudelt eine kleine Thermalquelle; sogar beim Verlassen der Stadt bemerkten wir zwei schwefeleisenhaltige Quellen, deren man in dem Lande eine Menge zählt, die aber niemand zu benützen gedenkt.

Der Weg, der bis Dukhan auf dem rechten Ufer des Bitlis-Tschaï bleibt, verwandelt sich rasch in einen Ziegenpfad. In einer Entfernung von anderthalb Stunden von Bitlis stößt er plötzlich auf einen großen, felsigen Ausläufer, der in das Bett des Stromes zu fallen droht. Dieser Ausläufer hemmt die Passage; er ist nichts anders als eine riesige Aufhäufung von Kalk. Die Quelle, die durch ihre unaufhörliche Arbeit diese Mauer errichtet hat, setzt ihr Werk noch stets fort und man steht sie immer durch den Felsen sickern. Um dem Pfade eine Bahn zu brechen, hat man in Zeiten, die allerdings schon sehr weit hinter uns liegen, quer durch diese Kalkablagerungen einen Gang gebrochen. Auf der linken Seite des Flusses liegt diesem merkwürdigen Ausläufer ein kurdisches Dorf [8] gegenüber, dessen solide Bauart aus Steinen an eine Festung erinnert. Es ist auf eine Terrasse mit schroffen Felsenwänden gebaut und überragt so Schlucht und Strom.

In dem Thale fand sich keine Spur mehr von Schnee; bloß die hoch über das Thal hinausragenden zerklüfteten Bergspitzen mischten in den Azur des Himmels das Weiße ihrer Schneedecken. Die Linien der Landschaft erinnerten uns an Tyrol.

Wir haben hier nicht mehr ein blätterloses Plateau vor uns wie in Armenien; hier ist das Thal mit Holz bestanden und wirklich lachend inmitten der Wildnis; die Vegetation ist in ihren Formen gänzlich fremd. Da die Bevölkerung ziemlich spärlich ist und infolge dessen das Holz als Bauholz weniger Verwendung finden kann, und zudem auch der Mangel an Wagen dem Transporte ein ungeheueres Hindernis in den Weg legen würde, so benützen die Leute jener Gegend nur das Holz zum Heizen und zum Brennen der Kohlen, die sie bis mitten in das armenische Hochland transportieren. Alle Bäume benutzen sie nach Art der Kopfweiden. Schließlich weigern sich die vielleicht seit Jahrhunderten ihrer Krone beraubten Bäume, neue Schösse zu treiben; bis dahin haben sie allerlei knotige und phantastische Formen angenommen. Zur Seite dieser Veteranen steht die junge Welt: Eichen, Kastanien, Eschen, Lorbeerbäume, Maulbeerbäume und noch gar manche mir unbekannte Arten. Alles dieses wächst bunt durcheinander, hängt hier an den Felsen, kämpft dort gegen Schlingpflanzen, die mit einer Menge dorniger Sträucher ihm den Platz streitig machen wollen.

Gegen zehn Uhr wurden wir von einem höheren Offizier der Gendarmerie eingeholt, der sich in Begleitung eines Zabtiehs nach Saïrd begab, mit denen wir zusammen reisten.

Plötzlich sah ich, wie Gegu mit großer Sorgfalt seinen Karabiner untersuchte, einen Pfropfen Fett, den er zum Schutze gegen die Feuchtigkeit in denselben gesteckt hatte, herauszog und ihn mit einer Kugel lud. Ohne Zweifel hatte er ein Wild gesehen, weshalb ich nicht weiter auf ihn acht gab. Eine Stunde später bemerkten wir auf einem Felsen über dem Wege vier Kurden liegen. Sie waren mit Flinten bewaffnet, die sie in dem Augenblick, als wir in Schußweite kamen, sehr auffällig luden. Wir thaten dasselbe und setzten in kriegerischer Haltung unsern Weg fort. Sie hatten uns schon lange belauert, und Gegu hatte gesehen, wie sie sich nach dem Felsen begaben, der für sie von großem Vorteil war; aber diese Braven hatten nicht auf den Gendarmerieoffizier und seinen Zabtieh gerechnet, die unterdessen zu uns gestoßen waren. Diese Verstärkung war nicht nach ihrem Geschmack.

Ohne Unfall kamen wir am Fuße ihres Felsen vorbei und machten nicht weit von ihnen auf einem kleinen Grasplatze Halt. Unser Manöver zwang die Kurden, sich zu entscheiden. Sie entschieden sich für den Frieden und gingen an uns vorüber. Wir wünschten ihnen gute Reise; weil da der Ort ganz angenehm war, ließen wir uns nieder und luden den Offizier ein, unser Frühstück mit uns zu teilen.

Fünf Minuten später dachten wir nicht mehr an unsere Kurden; die Sorglosigkeit und der Zauber der Reise machten bald alle Gefahr vergessen.

Bald wird der Pfad immer gefährlicher, so daß man nur besonders gute Pferde gebrauchen kann; jeden Augenblick mußten wir absteigen.

Dieses enge Thal ist trotzdem noch eines der zugänglichsten in Kurdistan, weshalb auch früher der Handel durch das Thal bedeutend gewesen sein muß, wovon die zerfallenen Khane noch Zeugnis ablegen. Etwas weiter kamen wir zu den Resten einer Brücke, die ehemals das Thal überspannte, Sie bestand nur aus einem einzigen Bogen und konnte schon darum nicht dauerhaft gewesen sein.[9] Heute sind davon nur mehr einige lagen Steine übrig.

Endlich erreichten wir gegen drei Uhr nachmittags Dukhan. Eine Brücke führt über den Fluß, auf dessen gegenüberliegender Seite sich ein Khan befindet, die erste Wohnung, die wir an dem Tage antrafen. Der Khan war mit Soldaten angefüllt, die sich nach Bitlis begaben, und von denen viele krank waren. Für uns und unsere zwölf Pferde blieb kein Raum mehr, zudem hatte die ganze Gesellschaft auch wenig Einladendes, um da zu bleiben. Wir reisten weiter und suchten uns ein anderes Quartier. Während unserer kurzen Beratung verschwand der Offizier, und wir hörten auch weiter nichts mehr von ihm.

In Dukhan spaltet sich der Weg; der eine Arm führt von Bitlis nach Diarbekr und der andere von Bitlis nach Mosul über Saïrd. Der erste folgt noch dem Thale des Bitlis-Tschaï bis Ziaret; der unsrige verläßt hier das Thal, führt über einen Paß und folgt dann den Seitenthälern des Bohtan-Su.

Hinter Dukhan trafen wir noch hier und da an dem Wege eine Menge Nachzügler, von denen einige im Begriffe schienen zu sterben. Der Aufstieg ist hier wegen der Steilheit der Felsen sehr beschwerlich. Aber man kommt durch Wald; und auf das Hauptthal, über dem wir uns befanden, boten sich uns hier und da zwischen den Bäumen durch wunderschöne Durchsichten. Der Strom scheint immer in einer tiefen Schlucht zu fließen; über ihm nehmen die Abhänge der Berge zartere, größere Formen an. Es sind große, seitliche Hügelketten, mit einer herrlichen Vegetation bedeckt, die sich hier und da in den Zacken der Berge kreuzen und dann in weiter Ferne verschwinden. Die Regelmäßigkeit dieser Kreuzungen der Berge, die Vegetation, die dieselben bedeckt, und unsere eigene Karawane, wie sie langsam den Wald hinaufkletterte, erinnerten mich lebhaft an einige Aquarelle von Paul Marcoy in seiner „Reise durch die Sierras“ ; früher hielt ich sie für übertrieben, aber jetzt gestehe ich meinen Irrtum ein. Er hatte ohne Zweifel recht, die Landschaft in solcher Weise wiederzugeben.

Ich habe bereits erwähnt, daß die Einwohner ihre Wälder zur Gewinnung von Kohlen brauchen oder mißbrauchen, denn sie bedienen sich zu diesem Zwecke eines spezisisch kurdischen Verfahrens. Ein alter Stamm, der keine neuen Schößlinge mehr treiben will, wird zu Kohlen gebrannt; aber das Fällen und Zerkleinern ist den Kurden zu lästig. Es ist doch viel einfacher, Feuer an den Baumstumpf zu legen und ihn dann verbrennen zu lassen. Freilich gehen dann gut drei Viertel des Holzes verloren, aber auf diese Weise bekommt man Kohlen, ohne daß man sich müde zu arbeiten braucht, und dies letztere ist gerade für die Kurden die Hauptsache. Wir sahen mehrere dieser riesigen Baumstämme brennen. Daß auf diese weise ein bedeutender Waldbrand entstehen kann, kümmert sie wenig; übrigens vermindert die fortwährende Beseitigung der Bäume die Gefahr auch wieder.

Bei diesem beschwerlichen Aufstieg ging es selbstredend langsam her, und die ganze Karawane kam in Unordnung. Als wir bei dem Einbruch der Nacht auf dem Paß ankamen, erklärten uns die Zabtiehs, daß wir jetzt erst halbwegs zwischen Dukhan und dem nächsten Dorfe wären. Es war unmöglich, mit unsern ermüdeten Tieren in der Dunkelheit noch weiter zu kommen; wir hätten uns auch ganz bestimmt verirrt. Bei dem nächsten günstigen Ort machten wir also Halt. Das Wetter war schön; obgleich wir im Dezember waren und in einer Höhe von beinahe 2000 Metern, hatte die sternenhelle Nacht durchaus nichts Schreckendes für uns, sondern gerade das Gegenteil war der Fall.

Wir fanden bald in einem bewaldeten Hintergrund eine kleine Quelle[10] und zum Glück einen großen Vorrat Holz, von irgend einem armen Kurden zum Fortbringen fertig gemacht. Wir mußten selbst teilweise Kurden geworden sein, denn ohne Gewissensbisse nahmen wir einen Teil des Holzes sofort in Beschlag. Freilich muß man auch wieder hinzufügen, daß in jenen Gegenden die Eigentumsansprüche oft zweifelhafter Natur sind – und Not bricht Gesetz.

Die Gegend unseres Lagers befand sich in einem sanften Abhange; als erfahrener Räuberhauptmann hatte Gegu sofort alle Vorbereitungen getroffen. Das Gepäck wurde in einem Halbkreis aufgestellt und bildete eine Art Verschanzung auf der Höhe des Abhanges; wir lagerten nahe dabei, etwas tiefer unsere Leute, und noch weiter vom Feuer wurden die Pferde ebenfalls in Form eines Halbkreises „untergebracht“. Bald waren zwei große Feuer angezündet, das eine für uns und das andere für unsere Leute, die übrigens außerordentlich lustig waren. Ihre Vagabundennatur lebte ganz auf bei dem Gedanken an ein Lager im Freien: Gegu war kaum wieder zu erkennen. Der Abend verlief ungemein schon, und erst um elf Uhr suchten wir unsere Feldbetten auf, die wir mit dem Fußende gegen das Feuer zu aufgestellt hatten; in unsere Decken eingehüllt, die Lesghienne bis zum Kinn heraufgezogen, die Flinte zwischen den Beinen, schliefen wir bald fest und ohne Sorgen. Und dennoch befanden wir uns in einem der gefährlichsten Teile Kurdistans.

Von allen Seiten überragt und dazu noch bei dem Scheine des Feuers, würden wir den Briganten eine unfehlbare Zielscheibe geliefert haben und überrumpelt worden sein, ehe wir auch nur einen Schuß hätten abgeben können. Aber wir waren so ganz bezaubert von unserm Lager, daß wir alles vergaßen; um so mehr war ich am andern Morgen erstaunt, als ich sah, wie Gegu, der besser mit den Verhältnissen des Landes vertraut war, bei dem Feuer kauerte und die ganze Nacht kein Auge geschlossen hatte.

4. Dezember. Abreise 7½ Uhr.

Gegen vier Uhr des Morgens begann es fein zu regnen. Während wir Toileite machten, kam eine große Menge Feldhühner, angezogen durch den Feuerschein, geräuschvoll über unser Lager geflogen; selbstverständlich warteten sie aber nicht so lange, bis wir unsere Flinten zur Hand hatten.

Der Staubregen des Morgens ging bald in einen förmlichen Regen über, den wir den ganzen Tag über auch nicht für einen einzigen Augenblick los wurden. Der immer noch halsbrecherische Weg war mit Kieselsteinen angefüllt und führte über die höheren Abhänge mehrerer Thäler, deren Gewässer gegen Nordosten fließen. Auf der Karte sind dieselben nicht verzeichnet. Nach meiner Ansicht vereinigen sich alle in einem großen Thale, das sich später südlich wendet, um sich mit dem Hauptfluß, dem Khaser-Su zu vereinigen, der sich in den Bohtan-Su unterhalb Saïrd ergießt.

Bis Saïrd trafen wir kein Dorf, so daß ich auch Warkhan nicht finden konnte.

Kurze Zeit später, nachdem wir unser Lager verlassen hatten, kam zu den Schwierigkeiten, die uns die Kieselsteine bereiteten, eine neue. Das Terrain besteht zum größten Teil aus verwittertem Schiefer, der durch den anhaltenden Regen bald an den Füßen klebt, bald zum Ausgleiten Veranlassung giebt. Um gefährliche Zufälle zu vermeiden, mußten wir oft vom Pferde steigen und durch den klebrigen Schlamm waten.

Bei schönem Wetter muß die Landschaft großartig sein. Der Pfad führt über drei oder vier Pässe, um dann die Thäler zu durchschneiden, wo zuweilen ziemlich starke Ströme fließen. Einer von diesen kann kaum durchwatet werden. Ich halte alle diese Flüsse für Zuflüsse des Khaser-Su.

Schukar (Rebhuhn).

Während wir etwas melancholisch unseren Weg fortsetzten, hatte einer unserer Zabtiehs den unglücklichen Einfall, ein kleines Reiterturnier abzuhalten. Die Lastpferde, denen vermutlich der unaufhörliche Regen etwas langweilig vorkam, fanden die Abwechselung nach ihrem Geschmack und hatten darum nichts Eiligeres zu thun, als an der Seite des Zabtiehs in einem Galopp bis zum Hintergrunde des Zuges zu sprengen; in einem Augenblicke lag ein Gepäckstück hier, ein anderes da, hier ein Pferd am Boden, das ganze Gepäck zerstreut, kurz, das bunteste Durcheinander herrschte. In dem Schmutz und bei dem Regen war das Wiederbepacken durchaus nichts Angenehmes.

Nachdem wir am Ende eines der schlüpfrigen Abhänge angekommen waren, allerdings etwas rascher, als wir es ursprünglich beabsichtigten, konnten wir nicht umhin, aus vollem Halse zu lachen, da wir die fröhliche Stimmung der Lastpferde bemerkten, die in dem Augenblick auf der Spitze des Abhanges ankamen. Sie sahen sich einen Augenblick an, als ob sie sich Rats erholen wollten betreffs der Schwierigkeit, die sie erwartete, und begannen dann mit frischem Gleichmute den Abstieg. Plötzlich wie auf ein gegebenes Zeichen, setzten sie sich auf den Hinterteil, streckten die Beine vorwärts und, auf diese weise mit Strebepfeilern versehen, ließen sich nach dem Gesetze der zunehmenden Geschwindigkeit eines fallenden Körpers bis zum Ende des Abhanges hinabgleiten.

Auf der ganzen Strecke wächst der Wacholder massenhaft; auch trafen wir wieder eine unglaubliche Menge von Rebhühnern. Ohne Übertreibung kann ich doch sagen, daß wir mehr als zweihundert Stück derselben aufgescheucht haben. Ich war durch den Regen zu sehr verstimmt, um an die Jagd zu denken, und überließ Gegu diese Sorge. Er besitzt eine vollendete Wertigkeit im Erraten der Feldhühner, läuft bis zum Hintergrunde des Zuges gegen die Kette, duckt sich dann nieder, geht leise wie ein Hühnerhund voran und gelangt so in unmittelbare Nähe des Wildes.

Dieses Schukar-Feldhuhn ist bekanntlich größer als unser gemeines Feldhuhn; es hat einen roten Schnabel und rote Füße, einen schwärzlichen Federkragen und ziemlich buntes Gefieder; auch scheint mir seine Witterung viel stärker zu sein. Sein Fleisch ist vielleicht noch wohlschmeckender als das unseres Feldhuhns.

Der Tag war schon ziemlich weit vorgerückt, und noch immer sahen wir keine Spur von Saïrd; indes mußten wir dahin, wenn wir nicht noch einmal unter freiem Himmel übernachten wollten, weshalb sich auch jeder beeilte, so gut er konnte. Durch den Hunger ganz heruntergekommen – denn wir konnten wegen des anhaltenden Regens kaum etwas essen – vergaßen wir auch alle Vorsichtsmaßregeln, und selbst auf die Gefahr hin, sich zu verirren oder ausgeplündert zu werden, ging die ganze Karawane auseinander, zuweilen noch länger als ein Kilometer. Es fing an, dunkel zu werden, und wir sahen immer noch nichts, wenn nicht den Platzregen. Endlich sahen wir in der Ferne ein Licht glänzen, dann noch eins; eine Viertelstunde später waren wir glücklich in Saïrd.

Jetzt mußten wir die Missionare aufsuchen, was uns um so schwerer fiel, als niemand mehr auf der Straße war und keiner uns führen konnte.

Wir irrten in den engen Gäßchen umher, stießen bald hier an die Strohdächer des Bazars, stolperten bald dort und fielen in den Schmutz der Gassen. Mit vieler Mühe entdeckten wir die Wohnung der Missionare. Pater Defrance und Pater Crosnier erwarteten uns nicht mehr an dem Tage.

5. Dezember. Ankunft 8 Uhr 10 Minuten.

Das ganze Gepäck war durchnäßt, und wir waren sehr glücklich, daß wir uns und unsere Kleidungsstücke trocknen konnten. Unter dem gastlichen Dache der Missionare verfloß uns die Zeit rasch in angenehmer Unterhaltung mit den Missionaren und vornehmen Christen der Stadt.

Saïrd liegt so ziemlich in der Mitte zwischen Mosul und Wan; bei gutem Wetter kann jede dieser Städte in ungefähr acht Tagen zu Huß erreicht werden.

Die Lage der Stadt ist sehr angenehm. Die Stadt erhebt sich stufenförmig an den Seiten eines Hügels, der sie von dem Rohtan-Su trennt. Um Saïrd herum senken sich die Hügel zu einem weiten Thale, dessen Wasser in den Khaser-Su fließt, einen Zufluß des Bohtan-Su. Das Klima der Stadt soll sehr gesund sein.

Die Bevölkerung wird auf 12- bis 15000 Seelen geschätzt, worunter sich drei- bis viertausend Christen befinden.[11]

Saïrd ist der Sitz eines chaldäischen Bischofs, der unter seiner Jurisdiktion außer den Chaldäern der Stadt noch dreiunddreißig Dörfer mit einer Bevölkerung von 3500 bis 4000 Seelen hat.

Längsdurchschnitt des Speisesaales der Dominikaner zu Saïrd.[12] Maßstab 1 : 100.

Als die Dominikaner von Mosul den vorgeschobenen Posten in Wan gründeten, sahen sie bald die Notwendigkeit ein, diesen Posten durch Zwischenposten mit dem Zentrum der Mission zu verbinden. Die Gründung der Mission von Saïrd im Jahre 1882 war der erste Weg zu diesem Ziele. Zwei Dominikaner wurden hierher geschickt. Von Saïrd aus, wo sie wohnen, bereisen sie die ganze Umgegend, Bothan, Beruali und gehen sogar bis Redwan. In der Stadt selbst leiten sie eine kleine französische Schule und unterhalten zwei Schulen in der chaldäischen Gemeinschaft. Sie besitzen auch eine Apotheke, wo jährlich mehr als 6000 Personen unentgeltlich Rat und Arznei erhalten.

Außer den Chaldäern zählt die Gegend von Saïrd ungefähr 6000 schismatisch armenische Familien, die größtenteils nördlich von der Stadt wohnen in dicht bevölkerten Dörfern (gegen 30 000 Seelen).

Die jakobitischen Syrer wohnen in ungefähr 25 Dörfern und werden ungefähr 4000 Seelen zählen.

Der Rest der Bewohner des Sandschacks (Bezirks) von Saïrd setzt sich aus Kurden, Mohammedanern und Jesiten zusammen.

Nahe bei Saïrd findet sich das „Land“ von Bohtan, das von dem „Wasser von Bohtan“, dem Bohtan-Su, bewässert wird. Dieses „Land“ zählt dreihundert Dörfer mit einer Gesamtbevölkerung von vierzigtausend Seelen, zusammengesetzt aus Mohammedanern, Chaldäern und Armeniern.[13] Die Hauptnahrungsquellen sind Viehzucht und Ackerbau;[14] bei einer richtigen Verwaltungseinrichtung müßten die Leute reich werden, während sie jetzt fast vor Hunger sterben.

Da ich gerade diesen Umstand erwähne, so will ich auch hier die Auskünfte wiedergeben, die ich in jenen Gegenden gesammelt habe, besonders in den Dörfern, die wir nach dem Verlassen Saïrds passierten, wiewohl diese Notizen eigentlich eine andere Stelle einnehmen müßten.

Die Furcht vor den Erpressungen und Plünderungen bringt die Dorfbewohner dahin, daß sie nur so viel anbauen, als sie unbedingt nötig haben; der Handelsverkehr ist infolgedessen sehr schwach, und das primitive System des Tauschhandels mit Früchten genügt gewöhnlich bei dem Verkehr; daher kommt es auch, daß bares Geld rar ist.

Mißrät aber die Ernte, so ist die Hungersnot da, weil kein Geld im Lande ist, um fremdes Getreide zu kaufen, und auch keine andern Früchte, um Getreide dafür einzutauschen. Zudem wäre bei den erbärmlichen Verkehrsverhältnissen das Einführen einer beträchtlichen Menge Getreide eine sehr schwierige Sache.

Die Gegend des Bohtan machte in den Jahren 1879 und 1880 eine solche Hungersnot durch, wobei die Bevölkerung zum großen Teile von dem Hunger weggerafft wurde. Bei den traurigen ökonomischen Verhältnissen, in denen sich die Bevölkerung befindet, hätte sie jetzt gerade eine sehr nachsichtige Verwaltung notwendig, um sich einigermaßen erholen zu können.

Statt dessen aber sollte der Bohtan gerade damals die rückständigen Steuern im Betrage von 19 Millionen Piastern (3344000 Mark) entrichten, während das Land auch schon den Gesamtbetrag der Steuern mindestens dreimal erlegt hatte. Angenommen, ein Privatmann – der Fall ist auch derselbe, wenn wir an Stelle eines Privatmannes ein ganzes Dorf annehmen – hat hundert Piaster Steuer zu zahlen. Er bringt diese dem Steuereinnehmer, der ihm dafür eine Quittung über vierzig Piaster ausstellt; die überschießenden sechszig Piaster sackt der Steuerempfänger selbst ein. Der Steuerpflichtige wagt keinen Widerspruch, weil der Beamte ihn sonst mit seinem Gelde zurückschicken, aber ihn wegen Verweigerung der Steuern verfolgen ließe, was gleichbedeutend ist mit Gefängnis und Konfiskation. Der Steuerpflichtige geht also mit seiner Quittung heim. Einige Tage später wird er aufgefordert, die rückständigen sechzig Piaster zu entrichten, was er dann auch thut; dafür erhält er nun eine Quittung über dreißig Piaster. Dieses traurige Schauspiel dauert so lange, bis der Steuerpflichtige eine Quittung über hundert Piaster empfangen hat, wofür er freilich das Doppelte oder Dreifache hat zahlen müssen.

In diesem Falle hatten wir noch den günstigen Umstand angenommen, daß der Steuerpflichtige in der glücklichen Lage war, das nötige Bargeld zur Hand zu haben. Aber da das Bargeld bekanntlich sehr selten in jener Gegend ist, fehlt es dem Steuerpflichtigen gewöhnlich gerade dann, wenn er Steuern bezahlen soll; nun kommt der Gendarm. Dies ist eine neue Quelle für Ausgaben; denn um Zeit zu gewinnen, muß der Steuerpflichtige sehen, wie er mit dem Gendarmen fertig wird.

In dem ruinierten Bohtan wurden schließlich keine Steuern mehr entrichtet, auch die Gendarmen genügten nicht mehr. Da wurde das Militär geschickt; man ergriff Geräte, Möbel, Herden und machte sie zu Geld, freilich oft zu lächerlichen Preisen. Dadurch war der Schaden zwar weniger groß, aber das Land ist unrettbar ruiniert, und die Anwesenheit der Truppen kennzeichnete sich zudem noch durch beständige Verbrechen gegen die Sittlichkeit.

Bis jetzt sprach ich nur von dem Zehnten; aber der Staat hat nun auch noch eine Grundsteuer von vier pro Mille eingeführt. Man hat gesehen, daß Grundstücke, die dem Staate selbst für 3000 Piaster verkauft wurden, in den Steuerrollen mit einem Werte von 175 000 Piastern eingetragen und dementsprechend auch eingeschätzt waren. Die Aghas oder Chefs, die von dem Gouvernement ausgebeutet werden, halten sich an dem armen Bauern schadlos, dem sie noch willkürlich eine Naturalabgabe von der Ernte auferlegen.

Die unglücklichen Einwohner wollten in Mengen dieses Land verlassen, um ihr Glück sonstwo zu suchen; aber sie wurden mit Gewalt zum Bleiben gezwungen.

Angenommen, durch irgend einen glücklichen Zufall gelangt ein armer Teufel in den Besitz einer kleinen Summe Geldes, so kann er aber versichert sein, daß man tausenderlei Schikanen erfinden wird, um ihm das Geld abzunehmen; er wird für die geringste Ursache zum Baladiet (Bürgermeisteramt) gerufen werden, wobei er aber jedesmal ein ordentliches Backschisch abladen muß.

Ungeachtet der weiten Entfernung des Landes ist die trostlose Lage des Bohtan endlich erkannt worden; auch hat man in Konstantinopel lebhafte Klage geführt. Infolgedessen liefen auch sehr sorgfältige Berichte ein, die aber auch ganz sorgfältig in den Papierkorb wanderten. „Eine Krähe hackt der andern kein Auge aus.“

Letzthin hat in Bitlis ein Mensch dem Wali eine Extragabe von achthundert Piastern gemacht, um den Auftrag zu bekommen, dreihundert Piaster Steuern zu erheben. Diese einzige Sache ist schon bezeichnend genug.

Alle Stellen werden an den Meistbietenden verkauft, der sich an den Steuerpflichtigen dann wieder schadlos hält.

Ich muß noch eine Ursache anführen, weshalb manche Dörfer verarmen, die an den Hauptverkehrswegen liegen. Es ist dies die Gewohnheit der Beamten, sich und ihr Gefolge großartig beherbergen zu lassen, ohne das Geringste zu bezahlen.[15] Es kann darum auch nicht wunder nehmen, wenn man heute so viele Dörfer findet, die nichts weiter als Ruinen sind.

Der Leser wird vielleicht denken, ich trage die Farben etwas stark auf. Leider ist meine Schilderung nur zu wahr. Die angeführten Thatsachen sind mir zum größten Teil von ernsthaften Leuten, zuweilen sogar von Beamten selbst geliefert worden. Die Dorfbewohner sind furchtsam und deshalb auch weniger zugänglich. Selbst wenn bei der Schilderung das eine oder andere zu graß dargestellt wäre, so bliebe doch eine allzutraurige Wirklichkeit.

7. Dezember.

Wir besuchten eine patriarchalische Familie; dieselbe besteht aus ungefähr sechzig Personen, die alle um das Haupt der Familie in dem Klan vereinigt waren. Die Familie Dgibro (Abkürzung von Dgibraïl, Gabriel) ist die angesehenste unter den chaldäischen Familien in Saïrd; früher war sie ebenso mächtig als reich, und ihre Wohnung sah einem Palaste ähnlich. Heute ist davon aber wenig mehr zu bemerken. Die Nachlässigkeit hat alles verdorben. Man führt keine Register mehr. Die besondern Rechnungen werden auf einen Fetzen Papier geschrieben und in einem Sack eingeschlossen. Um Licht in irgend eine Angelegenheit zu bringen, muß man alle diese Papiere vergleichen, aber dieses Geschäft ist langweilig. Man verschließt die Papiere wieder, bis man eines Tages merkt, daß es schlecht steht; aber dann ist es gewöhnlich zu spät. Dieser Verfall thut weh.

Eine neue türkische Formalität. Bei der Abreise von Wan hatte uns der Wali erklärt, da wir einen Bunuruldu hätten, bedürften wir keines Teskeres für unsere Katerdschis und unsere Bedienten. Hier verlangte man sie aber von uns, und wir waren gezwungen, solche für den Rest der Reise zu lösen. Glücklicherweise wollte man uns hier weiter nichts in den Weg legen; es handelte sich nur darum, einige Medschidies einzusacken.

Da das Wetter etwas besser geworden war, machten wir dem Kloster Deir-Mar-Yakub einen Besuch. Es liegt ungefähr eine Stunde von Saïrd und beherrscht das Thal des Bohtan. Der Name rührt von einem chaldäischen Mönche, Mar-Yakub, her, der sehr verehrt wird und dessen Grab man heute noch zeigt. Das Kloster selbst ist ein sehr einfacher Bau, armselig und kaum bewohnt. Außer andern Manuskripten zeigte man uns hier eine sehr schöne chaldäische Bibel aus dem neunten oder zehnten Jahrhundert.

Einige Minuten von dem Kloster entfernt, überragt der senkrecht stehende „Stein des Löwen“ das Thal um 300 Meter. Das Panorama ist großartig. Der Bohtan-Su, von steil abfallenden Felsenklüften überragt, scheint sich stromabwärts in enge Schluchten zu verwickeln, während er in seinem obern Laufe ein breiteres und fruchtbares Thal bewässert.

Nahe bei dem Flusse wachsen einige schöne Terpentinbäume.[16] Zwischen Deir-Mar-Yakub und Saïrd finden sich die Ruinen eines seit einigen Jahren verlassenen Dorfes. Die Kurden fielen hier so oft ein, daß die armen Leute sich gar nicht halten konnten. Auf die Beschwerden der Armen antwortete die Behörde: „Kennt ihr die Schuldigen? Bringt uns mit euren Zeugen die Schuldigen, und sie werden eingekerkert werden.“ Dieses Verlangen erinnert doch zu sehr an das Lamm, das den Wolf vor den Schäfer schleppen sollte. Besonders auffällig wird die Sache noch dadurch, daß diese Räubereien sich gerade vor den Thoren Saïrds ereigneten. Wie mag es dann in den weiter entfernten Orten eigentlich zugehen?

Zwischen Saïrd und Deir-Mar-Yakub bemerkt man auch die Ruinen einer Stadt oder eines Dorfes, dessen Zerstörung in einer weit entlegenen Zeit geschehen sein muß. Die Überlieferung, welche diesen Ort Hadarwiß nennt, erzählt auch, daß hier ehedem ein mächtiger Emir geherrscht habe. Die Stadt wurde vor fünf, oder sechshundert Jahren in einem Kriege zerstört. Man versicherte uns, daß sich hier noch viele Altertümer fänden: Götzenbilder und griechische Medaillen. Es müßte sehr interessant sein, hier Nachgrabungen veranstalten zu können; vielleicht könnte man eine der rätselhaften Städte entdecken, deren Namen uns von den griechischen und römischen Geographen überliefert worden sind.

An dem folgenden Tage wollten wir Saïrd verlassen, aber da entstand ein bedeutendes Hindernis. Ohne Zabtiehs kann man wegen der Brigantenwirtschaft nicht reisen. Aber die tapferen Gendarmen der Saïrder Garnison strikten. Seit längerer Zeit hatten sie keinen Sold mehr empfangen, und ehe sie nicht wenigstens eine Abschlagszahlung erhalten hatten, wollten sie auch keinen Dienst mehr thun. Der berittene Zabtieh soll dreihundertzehn Piaster für den Monat bekommen, der Fußzabtieh hundertfünfundvierzig. Aber wenn sie mit ihrer Anweisung zur Kasse kommen, lautet die stereotype Antwort des Kassierers: „Die Kasse ist leer, ich habe kein Geld.“ Zuweilen kommt dies bei den bekannten türkischen Zuständen wirklich vor, aber sehr oft steckt auch noch Gaunerei hinter dem Manöver. Einige Zeit lang giebt sich der Zabtieh mit dieser Antwort zufrieden; aber schließlich hat er nichts mehr zum leben. Dann ist er gezwungen, um nicht vor Hunger zu sterben, seine Anweisung an einen Zwischenhändler für die Hälfte des Wertes zu verkaufen. Gerade dieses wollte der Kassierer, der nun den Besuch des Zwischenhändlers erhält und sogleich das erforderliche Geld zur Hand hat. Die Anweisung wird bezahlt und der Unterschied zwischen dem Kassierer und seinem Helfershelfer geteilt.

Dieses großartige Betrugssystem ist übrigens weit verbreitet. In Bitlis erzählte uns der erwähnte Ingenieur, daß er oft genötigt gewesen sei, seine auf tausend Piaster lautende Anweisung zu siebenhundert Piastern an einen kurdischen Zwischenhändler zu verkaufen.

  1. Es braucht wohl kaum hervorgehoben zu werden, daß das Wort „Hauptstadt“ nicht in der gewöhnlichen Bedeutung zu verstehen ist, sondern nur die bedeutendste Stadt bezeichnet. Niemals haben die in eine Anzahl von Stämmen zerfallenden Kurden eine eigentliche Hauptstadt nach europäischer Auffassung besessen.
  2. Barb nach dem vierten Buche von Scheref. Phil. hist. Klasse der Kaiserl. Akad. der Wissenschaften in Wien. Juliheft 1859, 4.
  3. Ainsworth giebt die Höhe dieses Konaks mit 5470 Fuß nach den barometrischen Beobachtungen an, nach dem Hypsometer auf 5000 Fuß; der Durchschnitt betrüge also 5235 Fuß oder 1595 Meter. Ainsworth a. a. O. II. 372.
  4. Nach dieser Photographie hatte ich ein Aquarell anfertigen lassen, das aber durch den Schaden, den es auf der Reise erlitten hat, dem Künstler nicht die notwendigsten Angaben machen konnte; besonders fehlte die Aussicht in die Tiefe, die bei Bitlis so charakteristisch ist.
  5. Ich begreife nicht, wie Brant und Southgate (angeführt in Ritters Erdkunde X. 586) diesen Stein einen Sandstein nennen können.
  6. In Hinsicht auf Handel ist Bitlis ein ziemlich wichtiger Platz; es exportiert eine große Menge Stoff (Baumwolle und Leinen), die alle rot gefärbt ist. Dies Färben mit Krapp ist eine Spezialität von Bitlis. In der Umgegend findet man auch eine große Menge Operment (gelber Schwefelarsenik – As2S3), der zum Gelbfärben dient. Außerdem müssen noch die reichen Kupferminen, die vor einigen Jahren zwischen Bitlis und Diarbekr entdeckt worden sind, aber nicht ausgebeutet werden, Erwähnung finden.
  7. Tavermer L. III. ch. 3.
  8. Wahrscheinlich das Dorf Parkhand.
  9. Mehrere Reisende zählen eine Zahl Dörfer auf, die auf diesem Wege lagen. Heute ist nichts mehr davon zu sehen. Wahrscheinlich lagen sie um die Khane herum. Vergleiche Ritters Erdkunde XI. 96–98.
  10. Ainsworth hat auf seiner Reise von Saïrd nach Bitlis an derselben Stelle kampieren müssen und nicht ohne große Furcht vor den Kurden. A. a. O. II. 366.
  11. Nach der Angabe eines Notabeln zählt Saïrd:
    250 Häuser der gregorianischen Armenier
    4 Häuser der katholischen Armenier
    99 Häuser der katholischen Chaldäer
    50 Häuser der jakobitischen Syrer
    8 Häuser der katholischen Syrer
    30 Häuser der Protestanten
    1400 Häuser der Mohammedaner
    ---
    1841 Häuser.
  12. Diese Zeichnung – Längendurchschnitt des Speisesaales der Dominikaner – soll den Typus der gemischten Architektur, die halb persisch, halb arabisch ist, veranschaulichen, die man in jenen Gegenden so häufig trifft. Das Zimmer nimmt die ganze Tiefe des Gebäudes ein. Die Fenster sind sehr niedrig; die Mauern sind geschmückt mit Nischen und falschen Thüren. Bis zu Mannshöhe ist der Saal rechtwinklig; auf dieser Grundlage ruht ein ellipsenförmiges Gewölbe, mit dem die Ecken des Rechteckes durch Spitzbogen verbunden sind. Der Saal ist gekälkt. Alle Ornamente, so einfach sie auch sein mögen, verraten einen feinen Geschmack.
  13. Es muß betont werden, daß diesen Zahlen nur ungefähre Schätzungen zu Grunde liegen.
  14. Die Hauptprodukte sind Korn, Gerste, Hirse, Baumwolle, Gallnuß, Krapp (Bitlis hat die Rotfärbereien, wozu der Bothan und andere Bezirke den Krapp liefern), Trauben, Feigen, Mandeln und andere Früchte. Das Land besitzt Schafe und Ziegen; auch führt man Panther-, Fuchs-, und Wildziegenfelle aus. Alle diese Produktionen sind aber infolge der erbärmlichen Verwaltung auf das Mindestmaß beschränkt.
  15. Früher wenn die Beamten oder Soldaten ihr Quartier in christlichen Häusern nahmen, ließen sie sich nicht bloß großartig bewirten und schändeten regelmäßig die Frauen, sondern bei der Abreise erpreßten sie auch noch einen Mundvorrat von den Unglücklichen, anstatt diese zu bezahlen; sie nannten dies „sich bezahlen lassen für die Ehre, die sie dem Christenhunde erwiesen, daß sie etwas von ihm annahmen.“ Ich führe diese Thatsachen hier an, weil sie mir namentlich auch von Bulgarien her versichert worden sind; aber ganz sicher kommen sie auch noch in andern Teilen des ottomanischen Reiches vor.
  16. Die Terpentinbäume tragen Mandeln, deren Öl zur Seifenfabrikation benutzt wird. Der Baum sieht ähnlich aus wie ein Nußbaum; aber die kleinen Äste sind gekrümmter und im Verhältnis zu ihrer Länge auch dicker als die des Nußbaumes.