Textdaten
Autor: Johann Gottfried Herder
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Titel: Vom Bilde
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aus: Zerstreute Blätter (Dritte Sammlung) S. 93-109
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Erscheinungsdatum: 1787
Verlag: Carl Wilhelm Ettinger
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Erscheinungsort: Gotha
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Quelle: ULB Düsseldorf und Commons
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[93]
I. Vom Bilde.

1. Bild nenne ich jede Vorstellung eines Gegenstandes mit einigem Bewußtseyn der Wahrnehmung verbunden. Steht es vor meinem Auge, so ist es ein körperliches, sichtliches Bild. Wird es meiner Einbildungskraft dargestellt: so ist es eine Phantasie, (φαντασμα) die aber dennoch von sichtlichen Gegenständen ihre Gesetze [94] borget. Dort wache, hier träume ich; und man siehet, daß die Phantasie des Menschen auch wachend beständig fortträume.


Alle Gegenstände unsrer Sinne nämlich werden nur dadurch unser, daß wir sie gewahr werden, d. i. sie mit dem Gepräge unsres Bewußtseyns, mehr oder minder hell und lebhaft, bezeichnen. In dem Walde sinnlicher Gegenstände, der mich umgiebt, finde ich mich nur dadurch zurecht und werde über das Chaos der auf mich zudringenden Empfindungen Herr und Meister, daß ich Gegenstände von andern trenne, daß ich ihnen Umriß, Maas und Gestalt gebe, mithin im Mannichfaltigen mir Einheit schaffe und sie mit dem Gepräge meines inneren Sinnes, als ob dieser ein Stempel der Wahrheit wäre, lebhaft und zuversichtlich bezeichne. Unser ganzes Leben ist also gewissermaassen eine Poëtik: wir sehen nicht, sondern wir erschaffen uns Bilder. Die [95] Gottheit hat sie uns auf einer großen Lichttafel vorgemahlt; wir reissen sie von dieser ab und mahlen sie uns durch einen feinern, als den Pinsel der Lichtstralen in die Seele. Denn das Bild, das sich auf der Netzhaut deines Auges zeichnet, ist der Gedanke nicht, den du von seinem Gegenstande dir zueignest; dieser ist blos ein Werk deines innern Sinnes, ein Kunstgemählde der Bemerkungskraft deiner Seele.


2. Hieraus ergiebt sich, daß unsre Seele, so wie unsre Sprache, beständig allegorisire. Indem sie nämlich Gegenstände als Bilder sieht oder vielmehr nach Regeln, die ihr eingeprägt sind, solche in Gedankenbilder verwandelt; was thut sie anders, als übersetzen, als metaschematisiren? Und wenn sie diese Gedankenbilder, die blos ihr Werk sind, jetzt durch Worte, durch Zeichen fürs Gehör sich aufzuhellen und andern auszudrücken strebet; was thut sie abermals [96] anders, als übersetzen, als alläosiren? Der Gegenstand hat mit dem Bilde, das Bild mit dem Gedanken, der Gedanke mit dem Ausdruck, das Gesicht mit dem Namen so wenig gemein, daß sie gleichsam nur durch unsre Wahrnehmung, durch die Empfindung eines viel-organisirten Geschöpfs, das durch mehrere Sinne Mehreres auf Einmal empfindet, an einander grenzen. Blos die Mittheilbarkeit, die Communicabilität unsrer mehreren Sinne gegen einander und die Harmonie zwischen ihnen, auf welcher diese Mittheilung ruhet; nur sie macht die innere Form oder die sogenannte Perfectibilität des Menschen. Hätten wir nur Einen Sinn und hingen mit der Schöpfung gleichsam nur von Einer Weltseite zusammen, wäre kein Umsatz der Sachen in Bilder, der Bilder in Worte oder andre Zeichen für uns möglich: so lebe wohl, Vernunft des Menschen! Mit einer zehnfach größeren Intuition, wenn sie blos einseitig und [97] von keinen andern Sinnen unterstützt wäre, bliebe das anschauende Wesen ein viel unvollkommeneres Geschöpf, als jetzt, da es seinen sparsamen Reichthum so häufig umsetzen kann und dabey sich immer die Mühe geben muß, ihn frisch zu bearbeiten, ihm eine neue Gestalt zu geben. Er passirt durch das Thor eines andern Sinnes und bekommt nach andrer Landesart und zu anderm Gebrauch auch ein anderes Gepräge.


3. Ungeachtet der verschieden Namen, mit welchen man die Seelenkräfte, die mit Bildern und dem Ausdruck derselben umgehn, bezeichnet; so sind doch allen diesen Kräften dieselben Gesetze der Vollkommenheit eines Bildes vorgezeichnet; Wahrheit nämlich, Lebhaftigkeit und Klarheit. Zwar hat jeder Sinn und jede Kraft der Seele ihre Art und ihren Grad dieser Eigenschaften: Einer der Sinne kann und muß den andern einschränken; auch die besondern [98] Zwecke der Darstellung jedes Bildes müssen seinen Gesichtspunkt, mithin auch seine ganze Zeichnung jedesmal verändern; die innern Regeln seiner Vollkommenheit aber bleiben demohngeachtet immer dieselben. Wäre es unserm Bau und der harmonischen Stimmung unsrer Seelenkräfte nach möglich, daß in Einem Gegenstande für uns sich Wahrheit, Lebhaftigkeit und Klarheit in gleichem Grade verbinden ließen; warum sollten sie nicht mit einander dürfen verbunden werden? In Gott ist die höchste Wahrheit, Lebhaftigkeit und Klarheit, ohne daß Eine dieser Eigenschaften die andre schwächte, ohne daß er sich Einer derselben schämen dürfte. Es ist also nur ein Bettelstolz der sogenannten obern Kräfte der Seele, daß sie sich ihrer Schwestern, die sie verächtlich die niedern nennen, als unächter Geschwister oder als dienender Mägde schämen. Von Sinnen und der Erfahrung gehet unser Erkänntniß aus und auf sie kommt alles zurück: ohne Glieder und [99] Organe, ohne Phantasie und Gedächtniß hat der Verstand nichts womit er sich beschäftige, die Vernunft nichts worüber sie brüte, die Symbolik nichts das sie durch Zeichen ausdrücken möge. Wahrheit und Lebhaftigkeit der Bilder tragen also selbst zu ihrer Deutlichkeit und Klarheit bei; so daß, ohne jene, alle Abstraction nur Täuschung wäre. Das höchste Gesetz der Vollkommenheit in allen Wissenschaften und Künsten kann also nur seyn, daß dem Zweck der Vorstellung gemäß Eine Eigenschaft der andern, z. B. die Klarheit der Lebhaftigkeit, die Lebhaftigkeit der Wahrheit nicht schade, sondern aufhelfe und sie zu ihrem Zweck fördere.


4. Es wird hieraus deutlich, daß da eigentlich nur der innere Sinn des Menschen der Bildner ist, der durchs Auge und durch jedes andre Organ sich nach innern Regeln Gestalten schafft, und das Gefundene Eines Sinnes allen andern, [100] so weit er kann, mittheilet; auch dieser innere Sinn, d. i. die Regel des Verstandes und Bewußtseyns der einzige Maasstab seyn könne, wie in jedem Werk, in jedem System der Kunst oder des Vortrages ein Bild gestellet, gewandt, ausgemahlt, kurz, zu welchem Grad der Wahrheit, Lebhaftigkeit und Klarheit es in jedem Zuge gebracht werden dürfe. Allgemeine mechanische Regeln helfen hier nichts: denn, wie gesagt, es liegt nicht in den Dingen außer uns allein, was wir in ihnen sehen , sondern vorzüglich an dem Organ, das da siehet und an dem innern Sinne, der gewahr wird. Die Fliege sieht eine andre Welt, als die Schnecke; der Fisch eine andre als der Mensch; und doch sehen sie alle nach denselben Regeln der Wahrheit, Lebhaftigkeit und Klarheit Eine und dieselbe Schöpfung. So ists mit jedem veränderten Gesichtspunkt und Tageslichte: so zuweilen mit jeder veränderten Disposition [101] unseres Körpers und unsrer Seele. Die Regeln indeß der Vorstellung und Empfindung bleiben dieselben; ja durch jeden Fall der Veränderung wird ihre innere Wahrheit bewähret. Also ist es thöricht, der Seele vorzuschreiben, wie irgend Ein Bild der Natur von ihr gebraucht werden soll; nach innern Regeln des Verstandes und Bewußtseins muß sie es brauchen lernen, wie dieses Kunstwerk in seinem Zweck, zu seiner Zeit, nach seinem Ort, nach der Empfindungsart des Künstlers und Liebhabers das Bild fodert.

Man nehme z. B. Eine und dieselbe Allegorie, Ein und dasselbe Gleichniß und wolle sie in einem mathematisch-philosophischen Buch, oder in einer Rede, einem Lehrgedicht, einem Liede, einer Ode, einer Epopee[1], in einem Trauer-Lustspiel und wo weiß ich mehr? anwenden. Sagt uns nicht der innere Sinn, daß an keinem dieser Orte das Bild ausgeführt werden könne, [102] wie am andern? Eine Allegorie im Trinkliede oder in einem philosophischen Gespräch des Plato, in Aeschylus Chören oder in Aristophanes Scenen, in einem Bilde Lysippus oder in einem Gemählde Apelles wird ein ganz ander Werk, wenn sie auch allenthalben denselben Gegenstand schilderte. Verfolgt man nun diese Verschiedenheit durch alle Situationen des Gedichts und Kunstwerks, durch alle Leidenschaften des Dichters und Künstlers, durch jede Veränderung der National-Denkart, der Zeit, Sprache, der veranlassenden Umstände u. f.; so sehe ich nicht, was für allgemeine Regeln jedes besondern Falles übrig blieben, außer sofern sie im Begriff der Allegorie selbst, und in der Natur des Bilder-dichtenden Verstandes durch eine innere Nothwendigkeit gegeben sind, Wahrheit, Lebhaftigkeit, Klarheit. Jedes Sylbenmaas sogar, jeder Ton des Liedes schattiert die Bilder der Phantasie auf eigne Weise, [103] es wird sich selten aus Einem ins andre ein Gemählde vollkommen übertragen lassen, wenn es nicht von einem neuen Geist belebet und gleichsam neu erschaffen wird. Wie schlecht sieht es also mit aller knechtischen Nachahmung, mit jedem gelehrten Diebstal fremder Allegorieen und Bilder, endlich gar mit jenen poetischen Blumenlesen und Vorrathsschränken aus, in denen man sich fremde Lappen für zukünftigen Gebrauch sammlet. Unselige Uebung für Jünglinge, die zu solcher Bilderkrämerey gewöhnt werden! Lasset sie jedes schöne Bild, jedes treffende Gleichniß an seinem Ort lieben, schätzen und bewundern lernen, ohne daß ihnen ein Gedanke einkomme, Einen Zug desselben für ihr etwanniges Gemächte zu entwenden. Je wahrer und vollkommener ihnen das Bild an Stelle und Ort erscheinet, desto weniger werden sie räuberische Hände daran legen wollen, vielmehr von Eifer entbrennen, selbst an Stelle und Ort ein dergleichen [104] Naturvolles Bild aus Wahrnehmung ihres Sinnes zu entwerfen.


5. Ungerecht ist also die Klage, daß das Vorrathshaus der Natur für uns erschöpft sei, und daß wir zu spät gebohren worden, um den Löwen oder die Sonne besser zu schildern, als sie bereits oft geschildert sind. Vom Besser-schildern ist hier die Rede nicht: denn die Wahrheit war zu allen Zeiten dieselbe; daß jeder wahrnehmende Mensch aber seinen Gegenstand eigen schildern kann, als ob er noch nie geschildert wäre; darüber, dünkt mich, sollte kein mißtrauender Zweifel walten. In keinem seiner Gleichnisse ist Homer zu übertreffen; niemand aber wolle ihn auch übertreffen und Homers Löwen und Esel, Homers Kraniche und Fliegen besser schildern, als Er selbst sie geschildert hat. Wenn Deine Rede oder Dichtkunst dieser Bilder bedarf: so schildere sie nach Deiner [105] Art, wie Du solche wahrnehmest, wie der Geist Deiner Poesie sie fodert; nie wirst du sodann in Verlegenheit seyn, dem alten Dichter Eines seiner Gleichnisse entwenden zu müssen, ja du würdest sie unverändert kaum gebrauchen können, wenn sie dir auch alle geschenkt würden. Der Geist dichtet: der bemerkende innere Sinn schafft Bilder. Er schafft sich neue Bilder, wenn die Gegenstände auch tausendmal angeschaut und besungen wären: denn er schauet sie mit seinem Auge an, und je treuer er sich selbst bleibt, desto eigenthümlicher wird er zusammensetzen und schildern.

Auch das Uebermahlen fremder Werke ist daher immer eine mißliche Arbeit. Gesetzt, du fügtest auch dem Bilde des Andern einen schönen Zug, der Allegorie eine neue treffende Bedeutung bei; du zerstörtest aber damit die eigenthümliche Harmonie des ganzen Gemäldes; wäre wohl der hereingemahlte blendende Farbenstreif [106] der Grazie werth, die du eben durch ihn dem ganzen Kunstwerk raubtest? Am Materiellen des Bildes liegts eigentlich nirgends; allenthalben aber am schaffenden Geist, der das Ganze erfand und es noch jetzo hält und belebet.


6. Also auch über den Grad der Lebhaftigkeit in den Bildern lassen sich eigentlich keine allgemeinen Gesetze geben. Jedes Kunstwerk hat seinen Ton, seine fortgehaltene Melodie, in der nichts vorschreien, nichts verstummen muß; eine wachsende oder abnehmende Empfindung stimmt diese Modulation von Anfange bis zu Ende. So ists mit der Arbeit eines jeden Dichters, Schriftstellers und Künstlers: er haucht dem Werk seinen Genius ein, daß es seinen Ton tönet. Lebhaftigkeit der Bilder ist nirgend weder der Wahrheit noch Klarheit derselben entgegen; sie muß, wenn sie rechter Art ist, von jener unterstützt werden und diese [107] befördern. Selbst die sogenannte Verwirrung der Ode ist eine Verwirrung nach Regeln, d. i. eine höhere Ordnung.

Da nämlich in der Natur der Dinge keiner unsrer Sinne für sich allein wirket und wir immer eine Aeols-Harfe sind, die von mancherlei Winden und Elementen belebt werden: so beruhet die Lebhaftigkeit der Vorstellung gerade auf der Mannichfaltigkeit dessen, was wir beim Genuß dieses Gegenstandes damals auf Einmal fühlten. Der innere poetische Sinn weiß dieses so wahr und genau zusammen zu knüpfen, daß wir in seiner Kunstwelt abermals seine ganze lebendige Welt fühlen: denn eben die kleinen Umstände, die der kalte Verstand nicht bemerkt hätte, und die der kältere Afterverstand als Ueberfluß wegstreichet, sind gerade die wahresten Striche des eigenthümlichen Gefühls,also auch eben dieser Wahrheit [108] wegen von der entschiedensten Wirkung. Der sogenannte Ueberfluß in Homers Gleichnissen macht alle diese Gleichnisse erst lebendig: er setzet sie nämlich in Handlung und Bewegung, und so muß das lebendige Geschöpf nothwendig seine Glieder regen. Schneidet diese ab; der todte Rumpf wird weder stehen, noch wandeln.


Das Weitere, das ich über diese Materie zu sagen hätte, verspare ich auf eine Zergliederung der Allegorie, sofern solche der Philosoph, der Dichter und Künstler und zwar jeder in mancherlei Gattungen seiner Werke, zu mancherlei Zwecken brauchet. Hier sei es gnug für uns, das unerschütterliche Axiom zu bemerken, daß die ganze Welt für ein fühlloses Wesen eine todte Masse, für einen verworrenen Geist ein Chaos von Farben und für ein flaches Gefäß auch eine flache Tafel sei, ohne innere Zuverlässigkeit und Wahrheit. Je genauer wir aber [109] Wahrheit bemerken, je lebhafter und tiefer wir sie fühlen, desto mehr schildern wir Wahrheit, wir mögen sie in Bildern oder in Empfindungen und Tönen betrachten. Alle diese Dinge fließen zusammen und bestimmen sich zuletzt nach dem Gegenstande, den das Gemälde der Natur vorstellt, nach dem Standpunkt in welchem man es siehet, nach dem Organ oder Ton der Empfindung, mit welchem man es zeichnet und bemerket. Es wird hievon die Rede seyn, wenn wir das schönste Gemählde der menschlichen Sprache, die lyrische Poesie, insonderheit die Ode in nähere Betrachtung ziehen werden.

  1. épopée = epos