Verordnung, betreffend das strafgerichtliche Verfahren gegen Militärpersonen der Kaiserlichen Schutztruppen
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(Nr. 2829.) Verordnung, betreffend das strafgerichtliche Verfahren gegen Militärpersonen der Kaiserlichen Schutztruppen. Vom 26. Juli 1896.
Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser, König von Preußen etc.
verordnen auf Grund des Artikels II §. 4 des Gesetzes vom 7. Juli 1896 wegen Abänderung des Gesetzes vom 22. März 1891 (Reichs-Gesetzbl. S. 53), betreffend die Kaiserliche Schutztruppe für Deutsch-Ostafrika, und des Gesetzes vom 9. Juni 1895 (Reichs-Gesetzbl. S. 258), betreffend die Kaiserlichen Schutztruppen für Südwestafrika und für Kamerun, im Namen des Reichs, was folgt:
§. 1.
Bearbeiten- Das strafgerichtliche Verfahren gegen die Angehörigen der Schutztruppen richtet sich nach den Vorschriften der Preußischen Militär-Strafgerichtsordnung vom 3. April 1845, soweit nicht in Nachstehendem abweichende Bestimmungen getroffen sind.
§. 2.
Bearbeiten- Die Militär-Strafgerichtsbarkeit bei der Truppe wird verwaltet
- 1. durch das Gericht des Oberkommandos der Schutztruppen,
- 2. durch Gouvernementsgerichte,
- 3. durch Abtheilungsgerichte.
§. 3.
Bearbeiten- Das Gericht des Oberkommandos der Schutztruppen besteht aus dem Reichskanzler als Gerichtsherrn und einem mit Richterqualität versehenen vortragenden Rath als Auditeur. Dem Reichskanzler steht die höhere Gerichtsbarkeit und die niedere Gerichtsbarkeit über alle Angehörigen der Kaiserlichen Schutztruppen zu, soweit dieselben nicht der Gerichtsbarkeit der Gouvernementsgerichte oder Abtheilungsgerichte unterstehen. In Deutschland befindliche Angehörige der Schutztruppen treten während ihres Aufenthalts daselbst unter die Gerichtsbarkeit des Oberkommandos der Schutztruppen.
§. 4.
Bearbeiten- Das Gouvernementsgericht besteht aus dem Gouverneur oder Landeshauptmann als Gerichtsherrn und einem Auditeur. Dasselbe hat die höhere und niedere Gerichtsbarkeit über sämmtliche Angehörige der ihm unterstellten Schutztruppe.
§. 5.
Bearbeiten- Ein Abtheilungsgericht wird gebildet bei jeder von dem zuständigen Gouverneur beziehungsweise Landeshauptmann bestimmten Abtheilung. Dasselbe besteht aus dem Befehlshaber dieser Abtheilung als Gerichtsherrn und einem untersuchungsführenden Offizier. [671]
- Die Abtheilungsgerichte haben die niedere Gerichtsbarkeit über die zur Abtheilung gehörigen, sowie über die derselben vorübergehend überwiesenen Militärpersonen.
- Treten mehrere derartige Abtheilungen örtlich unter einen gemeinsamen Befehl, so übt der rangälteste Offizier die Befugnisse des Gerichtsherrn über sie aus.
§. 6.
Bearbeiten- Zur Bildung eines Untersuchungsgerichts genügt in allen Fällen die Zuziehung eines Offiziers oder Sanitätsoffiziers als Beisitzer.
- Der Beisitzer hat in den Straffällen der Offiziere thunlichst dem Dienstgrade des Angeschuldigten zu entsprechen. Bei solchen Verhandlungen, welche unter Zuziehung eines Aktuars oder eines durch Handschlag an Eidesstatt verpflichteten Protokollführers aufgenommen werden, kann von Zuziehung eines Beisitzers abgesehen werden.
§. 7.
Bearbeiten- In Ermangelung eines Auditeurs können seine Obliegenheiten durch einen zum Richteramte befähigten Beamten oder Offizier, und, falls ein solcher nicht verfügbar ist, durch einen untersuchungsführenden Offizier oder einen anderen Offizier wahrgenommen werden. Die Vereidigung eines solchen Offiziers erfolgt nach §. 80 der Militär-Strafgerichtsordnung. Jedoch bedarf es der Zuziehung eines weiteren Offiziers zur Vereidigung nicht.
§. 8.
Bearbeiten- Spruchgerichte hinsichtlich sämmtlicher Angehörigen der Schutztruppen sind Kriegs- und Standgerichte.
- Die besonderen Bestimmungen der Militär-Strafgerichtsordnung über das Verfahren gegen Militärbeamte finden auf die Beamten bei den Schutztruppen keine Anwendung. Die oberen Militärbeamten werden hinsichtlich der Kostenfreiheit den Offizieren gleichgestellt (Militär-Strafgerichtsordnung §. 274).
§. 9.
Bearbeiten- Vor der Einleitung der förmlichen Untersuchung gegen den Kommandeur einer Schutztruppe ist stets Meine Entscheidung einzuholen.
§. 10.
Bearbeiten- Zu einem Kriegsgericht sind als Richter zu berufen:
- a) über einen Offizier: ein älterer Kompagnieführer als Präses, zwei Kompagnieführer, zwei Lieutenants;
- b) über einen Unteroffizier: ein älterer Kompagnieführer als Präses, zwei Offiziere, zwei Unteroffiziere; [672]
- c) über einen Gefreiten oder Gemeinen: ein älterer Kompagnieführer als Präses, zwei Offiziere, zwei Gefreite oder Gemeine;
- d) über einen Militärbeamten: ein älterer Kompagnieführer als Präses, zwei Offiziere, zwei obere Militärbeamte, thunlichst vom Dienstzweige des Angeschuldigten.
- Die aktiven Offiziere und die oberen Militärbeamten können im Bedarfsfalle durch Offiziere des Beurlaubtenstandes, durch Sanitätsoffiziere, oder durch Ingenieure des Soldatenstandes, bei Kriegsgerichten über Mannschaften (b und c) auch durch andere geeignete Militärpersonen ersetzt werden.
§. 11.
Bearbeiten- Zu einem Standgericht sind als Richter zu berufen:
- a) über einen Unteroffizier: ein Kompagnieführer als Präses, ein Lieutenant, ein Unteroffizier;
- b) über einen Gefreiten oder Gemeinen: ein Kompagnieführer als Präses, ein Lieutenant, ein Gefreiter oder Gemeiner;
- c) über einen unteren Militärbeamten: ein Kompagnieführer als Präses, ein Lieutenant, ein unterer Militärbeamter.
- Im Bedarfsfalle können die aktiven Offiziere durch Offiziere des Beurlaubtenstandes, durch Sanitätsoffiziere oder Ingenieure des Soldatenstandes, sowie durch andere geeignete Militärpersonen – die unteren Militärbeamten durch Unteroffiziere – ersetzt werden.
§. 12.
Bearbeiten- Die Gerichte des Heeres, der Marine und der Schutztruppen haben einander Rechtshülfe zu leisten.
- Den gegenseitigen Requisitionen auf Führung von Untersuchungen, Fällung von Erkenntnissen, Gestellung von Beisitzern zu Kriegsgerichten, Standgerichten und Untersuchungsgerichten ist Folge zu geben.
§. 13.
Bearbeiten- Fallen dem Angeschuldigten nach dem Ergebniß der Ermittelungen mehrere strafbare Handlungen zur Last und erscheint für die Strafzumessung die Feststellung des einen oder anderen Straffalles unwesentlich, so ist die Untersuchung nur wegen der schweren Straffälle einzuleiten.
- Die nachträgliche Verfolgung der leichteren Straffälle ist nur innerhalb zweier Monate nach Rechtskraft des Erkenntnisses zulässig.
§. 14.
Bearbeiten- Wird unter Betheiligung von Personen verhandelt, welche der deutschen Sprache nicht mächtig sind, so ist ein Dolmetscher zuzuziehen. Die Führung [673] eines Nebenprotokolls in der fremden Sprache findet nicht statt; jedoch sollen Aussagen und Erklärungen in fremder Sprache, wenn und soweit dies mit Rücksicht auf die Wichtigkeit der Sache erforderlich erscheint, auch in der fremden Sprache in das Protokoll oder in eine Anlage niedergeschrieben werden. In den dazu geeigneten Fällen soll dem Protokoll eine durch den Dolmetscher zu beglaubigende Uebersetzung beigefügt werden. Die Zuziehung eines Dolmetschers kann unterbleiben, wenn die betheiligten Personen sämmtlich der fremden Sprache mächtig sind.
§. 15.
Bearbeiten- Dem Angeschuldigten steht in jedem Falle das Recht zu, sich zu vertheidigen oder durch eine andere Militärperson vertheidigen zu lassen. Ist die Handlung mit dem Tode oder lebenslänglicher Freiheitsstrafe bedroht, so muß ein Vertheidiger zugezogen werden. Die Vertheidigung darf nur zum gerichtlichen Protokoll oder mündlich vor dem Spruchgericht erfolgen.
§. 16.
Bearbeiten- Bietet die Führung der Untersuchung voraussichtlich keine Schwierigkeiten, und sind sowohl der Angeschuldigte als auch die Beweismittel und gegebenenfalls der Vertheidiger zur Hand, so kann der Gerichtsherr mit der Einleitung der förmlichen Untersuchung die Anordnung des Spruchgerichts verbinden.
§. 17.
Bearbeiten- In den Fällen des §. 16 findet mündliche Verhandlung vor dem Spruchgericht statt. Der Angeschuldigte wird zunächst durch den Auditeur oder untersuchungsführenden Offizier vernommen und, sofern dies nicht schon geschehen ist, über seine Vertheidigungsbefugnisse belehrt. Darauf folgen: die Beweiserhebung, der Vortrag des Auditeurs oder untersuchungsführenden Offiziers und die Vertheidigung. Dem Angeschuldigten gebührt das letzte Wort. Die Aburtheilung schließt sich unmittelbar an. Sie erfolgt in Abwesenheit des Angeschuldigten und des Vertheidigers. Als Protokollführer wird eine durch Handschlag an Eidesstatt zu verpflichtende Militärperson zugezogen. Ueber die Verhandlung ist ein Protokoll aufzunehmen, welches von dem Vorsitzenden, von dem die Verhandlung führenden Auditeur oder Offizier und von dem Protokollführer zu unterschreiben ist. Dasselbe muß enthalten:
- 1. den Ort und den Tag der Verhandlung;
- 2. die Namen der Mitglieder des Gerichts, des Auditeurs oder untersuchungsführenden Offiziers, des Protokollführers und des etwa zugezogenen Dolmetschers, sowie den Vermerk der Beeidigungen;
- 3. die Namen der Angeschuldigten und ihrer Vertheidiger;
- 4. die Namen der vernommenen Zeugen und Sachverständigen und den Vermerk über die stattgehabten Beeidigungen. [674]
- Das Protokoll muß den Gang und die Ergebnisse der Spruchsitzung im Wesentlichen wiedergeben und die Beobachtung aller wesentlichen Förmlichkeiten ersichtlich machen, auch die Bezeichnung der verlesenen Schriftstücke, sowie die im Laufe der Verhandlung gestellten Anträge, die ergangenen Entscheidungen unter Angabe der Abstimmung der einzelnen Richterklassen und die Urtheilsformel enthalten. Von dem Inhalt der Erklärungen des Auditeurs oder untersuchungsführenden Offiziers, des Angeschuldigten und des Vertheidigers, der Zeugen und der Sachverständigen wird nur das Wesentliche in das Protokoll aufgenommen. Insoweit diese Personen bereits im Ermittelungsverfahren vernommen waren, ist in dem Protokoll nur zu vermerken, ob und inwiefern ihre Erklärungen etwa von den früheren Aussagen in erheblichem Punkte abweichen.
- Kommt es auf die Feststellung eines Vorganges in der Spruchsitzung oder des Wortlautes einer Aussage oder einer Aeußerung an, so hat der Präses die vollständige Niederschreibung und Verlesung anzuordnen. In dem Protokoll ist zu vermerken, daß die Verlesung geschehen und die Genehmigung erfolgt ist oder welche Einwendungen erhoben sind. Im Uebrigen bedarf es der Verlesung des Protokolls nicht. Hat ausnahmsweise schon vor der Spruchsitzung die eidliche Vernehmung von Zeugen stattgefunden, so kann, wenn die Lage der Sache dies gestattet, von der nochmaligen Vernehmung abgesehen werden. In diesem Falle genügt die Verlesung des früher aufgenommenen Protokolls.
§. 18.
Bearbeiten- Ueber das Ergebniß der Beweisaufnahme entscheiden die Spruchgerichte nach ihrer freien, aus dem Inbegriff der Verhandlungen geschöpften Ueberzeugung. Aus den Erkenntnißgründen muß stets genau hervorgehen, welche Thatsachen vom Spruchgericht für festgestellt erachtet sind.
§. 19.
Bearbeiten- Kein Richter darf die Abstimmung über eine Frage verweigern, weil er über eine vorhergegangene Frage in der Minderheit geblieben ist.
§. 20.
Bearbeiten- Die Ausfertigungen der Erkenntnisse werden nur von dem Präses und dem Referenten unterzeichnet. Einer Untersiegelung bedarf es nicht.
§. 21.
Bearbeiten- Der Reichskanzler hat das Bestätigungsrecht eines kommandirenden Generals, der Gouverneur beziehungsweise Landeshauptmann das Bestätigungsrecht eines Divisionskommandeurs, der Kommandeur einer oder mehrerer, mit Gerichtsbarkeit versehener Abtheilungen das Bestätigungsrecht eines Regimentskommandeurs.
- Im Uebrigen behalte Ich Mir das Bestätigungsrecht vor. Auch bedürfen die Erkenntnisse wider obere Militärbeamte, wie die Erkenntnisse wider Offiziere und Sanitätsoffiziere Meiner Bestätigung. [675]
§. 22.
Bearbeiten- Die Begutachtung eines kriegsgerichtlichen Erkenntnisses erfolgt durch einen Auditeur oder durch einen zur Ausübung des Richteramts befähigten deutschen Beamten oder Offizier. Die Begutachtung soll nicht durch einen Beamten oder Offizier geschehen, welcher Referent in dem Spruchgericht war.
- Der Befehlshaber, welchem die Bestätigung zusteht, hat eine Begutachtung nur dann anzuordnen, wenn die Entscheidung des Kriegsgerichts von dem Antrage des Referenten wesentlich abweicht, oder wenn ihm die Entscheidung aus sonstigen Gründen bedenklich erscheint. Eine Begutachtung ist stets erforderlich, wenn auf mehr als einjährige Freiheitsstrafe erkannt ist.
§. 23.
Bearbeiten- Eine Begutachtung der Erkenntnisse der Abtheilungsgerichte findet nicht statt.
- Glaubt der Gerichtsherr die Bestätigung versagen zu müssen, so hat er unter Begründung der Versagung das Erkenntniß nebst den Akten dem mit der höheren Gerichtsbarkeit versehenen Vorgesetzten vorzulegen. Dieser muß das Erkenntniß durch einen Auditeur (§. 22) begutachten lassen und kann dasselbe aufheben, wenn er es in Uebereinstimmung mit dem Gutachten für nichtig, gesetzwidrig oder aktenwidrig erachtet.
- Unter den gleichen Voraussetzungen dürfen die bei dem Gericht des Oberkommandos der Schutztruppen beziehungsweise den Gouvernementsgerichten ergangenen noch nicht rechtskräftigen standgerichtlichen Erkenntnisse von dem an sich zur Bestätigung zuständigen Gerichtsherrn aufgehoben werden.
§. 24.
Bearbeiten- Erfolgt die Aufhebung eines Erkenntnisses, so darf zu dem neuen Spruchgericht der frühere Referent als solcher wieder zugezogen werden. Das neue Spruchgericht hat die rechtliche und militärdienstliche Beurtheilung, welche der Aufhebung des Erkenntnisses zu Grunde gelegt ist, auch seiner Entscheidung zu Grunde zu legen.
§. 25.
Bearbeiten- Die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahre einschließlich erfolgt, soweit dies angängig, an Ort und Stelle; die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe von längerer Dauer erfolgt in der Heimath und ist vom Gerichtsherrn – §. 180 Militär-Strafgerichtsordnung – in sinngemäßer Anwendung der für die Angehörigen Meiner Armee bestehenden Vorschriften zu veranlassen.
§. 26.
Bearbeiten- Die Geschäfte des General-Auditoriats und des General-Auditeurs werden von dem General-Auditoriat und dem General-Auditeur der Armee und Marine [676] wahrgenommen.
§. 27.
Bearbeiten- Die ergangenen kriegs- und standgerichtlichen Erkenntnisse sind nach Erledigung der Sache mit den Akten von dem Gerichtsherrn dem General-Auditoriat zur Prüfung vorzulegen.
- Urkundlich unter Unserer Höchsteigenhändigen Unterschrift und beigedrucktem Kaiserlichen Insiegel.
- Gegeben Merok an Bord M. Y. „Hohenzollern“, den 26. Juli 1896.