Vergil als Übersetzer Hesiods

Textdaten
Autor: Hans Flach
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Titel: Vergil als Übersetzer Hesiods
Untertitel:
aus: Hermes. Zeitschrift für classische Philologie, Band 9, S. 114–116
Herausgeber: Emil Hübner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Weidmannsche Buchhandlung
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Erscheinungsort: Berlin
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Quelle: DigiZeitschriften, Kopie des Scans auf Commons
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MISCELLEN.
VERGIL ALS ÜBERSETZER HESIODS.

Dass Vergil in ziemlich umfangreicher Weise einzelne Stellen des Hesiod fast wörtlich übersetzt hat, ist schon durch Eichhoff, Etudes grecques sur Virgile, Paris 1825, nachgewiesen worden, und neuerdings hat Woldemar Ribbeck in der Ausgabe seines Bruders das Quellenmaterial bedeutend vermehrt und namentlich für die Georgica neu hinzugefügt. Indessen trifft der aufmerksame Leser noch einzelne Verse oder Partien an, die aus Hesiod stammen, ohne dass dies von Ribbeck angegeben wird. Ich erinnere zunächst an das 6. Buch der Aeneide. Zu diesem Buch citirt der genannte Kritiker Hesiod nur an zwei Stellen, v. 274 bei posuere cubilia das οἰκι’ ἔχουσιν in Theog. 64 und 758, von denen die erste Stelle schon im Commentar von Hofmann Perlkamp angeführt war, und v. 598 bei immortale iecur tondens das αυτὰρ ὅ γ’ ἧπαρ ἤσθιεν ἀθάνατον in Theog. 523. Dagegen fehlt die Angabe, dass v. 273–279 aus Theog. 211–232 entlehnt sind, worauf schon Eichhoff p. 393 aufmerksam gemacht hatte, während Heyne mit Unrecht Theog. 744 und 758 als Parallelstellen anführt. In der That ist die Uebereinstimmung beider Stellen so gross, indem Νέμεσις durch ultrices Curae, Ἄλγεα d. pallentes Morbi, οὐλόμενον γῆρας d. tristis senectus, Λιμός d. malesuada Fames, Οἰζύς d. Luctus, Πόνος d. Labos, Ὕπνος d. Sopor, Μάχαι d. Bellum, Κῆρες d. Eumenides, Δυσνομίη d. Discordia wiedergegeben ist, dass man versucht ist anzunehmen, das vergilische Metus in v. 276 rühre von der Lesart Φόβους für Φόνους in Theog. 228 her, welche noch in 3 mss. [115] sich erhalten hat (Koechly Hesiodea Carmina p. 20). Ja, man könnte weiter schliessen, dass Λήθη Theog. 227, welches in allen mss. überliefert, also von Vergil unzweifelhaft gelesen ist, von dem Dichter v. 277 geschrieben sei, zumal im Hesiod Πόνος und Λήθη, im Vergil Letumque Labosque zusammenstehen, und die Bedeutung des Letum an dieser Stelle neben den faucibus Orci in v. 273 und dem Todesschlaf Sopor in v. 278 nicht ohne grosse Schwierigkeit zu enträthseln ist. Die seit Ruhnken und Heyne gemachten Versuche, das hesiodische Λήθη durch Ἄτη oder Λοιμός zu ersetzen, oder mit Schoemann (Commentar p. 49) durch Δῆρις sind zweifellos unmotivirt. In jedem Fall zeigt Georg. I 277 und 278 quintam fuge: pallidus Orcus Eumedidesque satae verglichen mit Hesiod. Opp. 803 und 804 ἐν πέμπτῃ γάρ φασιν Ἐρινύας ἀμφιπολεύειν Ὅρκον γεινόμενον oder τινυμένας (Steitz Opera p. 180), nach welcher Stelle mit Celsus (Ribbeck Prolegomena p. 26 p. 139) pallidus Horcus zu verbessern ist, wie grosse Irrthümer möglich gewesen sind, die selbst Heyne noch nicht zu beseitigen wagte (s. Note zu v. 277). Eigenthümlich dabei ist die Ansicht Paleys zu Opp. 802 und Theog. 227, dass Vergil das hesiodische Λήθη durch Lethum übersetzt habe, und das ὅρκος aus Missverständniss durch Orcus. – Noch eine Stelle Georg. IV 481 ist unzweifelhaft die Uebersetzung einer hesiodischen oder vielleicht einer andern griechischen, die ihrerseits aus der hesiodischen entstanden ist; auch sie ist von Woldemar Ribbeck nicht angeführt. Dort heisst es: Quin ipsae stupuere domus atque intima Leti Tartara, wozu Heyne bemerkt, es stehe für ipsae domus Leti et intima Tartara; und er fährt fort: splendidius hoc, quam intima loca, penetralia. Tartarum Leti domum appellare potuit, ut alias Orci regia Furiarum domus audit. Schon vor Heyne jedoch hatte Johannes Schrader nicht an der Stellung von Leti, aber an dem Ausdruck Leti Tartara Anstoss genommen und conjicirt (wie Heyne bemerkt, pereleganter) Leti Limina. Die Erklärung Heynes wäre nur dann richtig, wenn domus Leti und Tartara bei Vergil identisch wären; dass sie es nicht sind, beweist die Schilderung des Tartaros Aeneis VI 548–627 und Heynes excurs. VIII zu diesem Buch (vierte Wagnersche Ausgabe p. 1018). Andrerseits ist Letum als Personification bei Vergil zwar nicht ganz gewöhnlich (ter Leto sternendus erat, Aeneis VIII 566; deiecit Leto Aeneis X 319 verglichen sternere Morti, demittere [116] Morti Aeneis XII 474 und V 691; consanguineus Leti Sopor, Aeneis VI 278), aber ohne Anstoss, da schon zu seiner Zeit und noch mehr bei den späteren römischen Dichtern die Bedeutungen von Orcus, Mors, Letum, Dis vollständig durcheinander gehen. So ist Orcus gewöhnlich Gott der Unterwelt, gleichbedeutend mit Dis (Aeneis IV 699 und 702), dagegen in faucibus Orci, Aeneis VI 273, ist es die Unterwelt selbst (deum posuit pro loco, ut Iovem dicimus et aerem significamus, sagt Servius). Letum heisst Tod und Verderben (res eripe leto, Aeneis V 690), aber an den genannten Stellen und ganz besonders bei Valerius Flaccus Argon. II 206 ist Letum Todesgott, der sogar thätig im Kampf geschildert wird. Endlich erscheint Mors in der deutlichsten Personification in Silius Italicus Punica II 548 Mors graditur, vasto pandens cava guttura rictu, und in jener Nachahmung der vergilischen Unterwelt XIII 560, freilich an beiden Stellen mit Attributen, welche ihn von dem ursprünglichen griechischen Vorbild, dem Bruder des Schlafs, weit entfernen. Wenn demnach Georg. IV 481 Letum nur der Gott der Unterwelt genannt werden kann, das Wort also nur zu domus gehörig einen Sinn giebt, so folgt daraus, dass es an falscher Stelle steht, und dass Vergil geschrieben haben muss, quin Leti stupuere domus. Der Umstand, dass der Scholiast zu Horaz Od. II 13, 37 den Vers citirt, kommt dabei ebenso wenig in Betracht, wie etwa das Zeugniss des Probus für den oben erwähnten Vers Georg. I 277. Wie muss aber intima Leti Tartara verbessert werden? Offenbar intima Terrae Tartara nach Theog. 841 Ὠκεανοῦ τε ῥοαὶ τάρταρα γαίης; und wenn Vergil nicht diese Stelle benutzt hat, so hat er vermuthlich einen orphischen Vers vor Augen gehabt, welcher fast wörtlich eine Uebersetzung des hesiodischen ist. Man vergleiche Orph. frag. 6, 5 (Mullach) ὠκεανός τε μέγας, καὶ νείατα τάρταρα γαίης mit intima Terrae Tartara, und man wird sich der Uebersetzung nicht verschliessen können, dass bei der für Vergil erwiesenen, häufigen Benutzung und wörtlichen Uebersetzung griechischer Quellen der lateinische Vers bedeutend besser lautet, wenn wir lesen:

Quin Leti stupuere domus atque intima terrae Tartara.
Tübingen.
HANS FLACH.